Für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP-Regierung bleiben die Kurden in Syrien eine größere Gefahr als die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS).
„Ich appelliere an die ganze Welt: Koste es was es wolle, wir werden die Gründung eines Staates im Norden Syriens, im Süden von uns, niemals erlauben“, sagte der türkische Staatschef Erdoğan am Freitagabend.
Den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gelang es vor Kurzem die Terroristen des IS von der strategisch wichtigen Grenzstadt Girê Spî (Tal Abyad) zu vertreiben. Damit schafften die YPG/YPJ, zwei ihrer drei Kantone, Kobanê und Cizirê, die sie im Norden Syriens kontrollieren, geografisch miteinander zu vereinen (mehr hier). Girê Spî war bis dato das wichtigste Eingangstor zum “Kalifat” des IS. Die meisten ausländischen Jihadisten gelangen von dort aus über die Türkei nach Syrien.
Statt sich über die Vertreibung des IS von einem erheblichen Teil ihrer Grenze von Seiten der kurdischen YPG/YPJ zu freuen, ziehen Erdoğan und ihm nahestehende Medien den mörderischen IS den Kurden als Nachbarn vor. „Die PYD ist gefährlicher als der IS“, titelte die regierungsnahe und auflagenstarke türkische Sabah-Zeitung in der vergangenen Woche. Die PYD gilt als die größte kurdische Partei in Syrien, die von der Mehrheit der Kurden in Syrisch-Kurdistan Sympathie sowie Unterstützung genießt.
Vor etwa zwei Wochen griff Erdoğan die internationale Anti-IS-Koalition verbal an und warf dem Westen vor, die Araber und Turkmenen zu beschießen und gezielt die „kurdischen Terroristen“ in den Gebieten anzusiedeln (mehr hier). Nun plant der türkische Staatschef nach übereinstimmenden Presseberichten einen militärischen Alleingang im Norden Syriens. Den Berichten zufolge sollen dafür etwa 20.000 türkische Soldaten eingesetzt werden, um bis zu 30 Kilometer tief nach Nordsyrien – in die Kurdenregionen – einzudringen. Es handle sich dabei vor allem um die Grenzstadt Jarabulus, westlich von Kobanê, welche derzeit noch unter IS Kontrolle ist. Damit will Erdoğan, den langfristigen Plan der Kurden, die Vereinigung ihrer Kantone Efrîn, Kobanê, Cizirê, und somit die Entstehung eines „Kurdenstaates“ in Nord-Syrien verhindern.
Die Interventionspläne der Türkei in Syrien bewerten die Kurden als Besatzung Westkurdistans (Rojava) und werfen der türkischen AKP-Regierung vor, den IS zu unterstützen, um ihre Errungenschaften im Norden Syriens in Westkurdistan zu vernichten. Sollte die Türkei tatsächlich in Westkurdistan einmarschieren, könnte es auch das Ende des Friedensprozesses und gleichzeitig auch ein Ende des Waffenstillstands zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, und dem türkischen Staat bedeuten.
Murat Karayilan, der derzeitige Oberkommandeur des militärischen Arms der PKK, die Hêzên Parastina Gel (Volksverteidigungskräfte), machte in einem Interview mit der kurdischen Nachrichtenagentur ANF deutlich: „Ob die Türkei nun in Kobanê interveniert oder in Amed (Diyarbakir), macht gar keinen Unterschied für uns.“
„Ich sage es ganz offen: Wenn sie in Rojava intervenieren, werden wir in die Türkei intervenieren; dann wird die ganze Republik Türkei zu einem Kriegsschauplatz“, fügte Karayilan hinzu.