Kommentar zu Kurden - Die USA hat gemeinsam mit den Kurden in Nordsyrien den IS erfolgreich zurückschlagen können. Doch statt sich über den Gewinn an der ihrer Grenze zu freuen, erhebt die Türkei nun schwere Vorwürfe gegen die USA.
Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit geschieht an der syrisch-türkischen Grenzen Unerhörtes. Statt der schwarzen Fahne der Dschihadisten weht über einem 90 Kilometer langen und 50 Kilometer breiten Streifen an der Grenze zur Türkei seit letzter Woche die rot-gelb-grüne Flagge der Kurden. Mit US-amerikanischer Luftunterstützung haben die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die schwerste Niederlage zugefügt, die diese in Syrien je einstecken musste.
Während der IS an anderen Orten weiter vordringt, musste er sich den Kurden in Nordsyrien geschlagen geben. Die wichtigste Nachschubroute in seine „Hauptstadt“ Rakka ist gekappt. Die Kurden stehen 50 Kilometer vor Rakka und rücken weiter vor. Der Sieg bei der Grenzstadt Tell Abjad verschiebt nicht nur die Gewichte im syrischen Bürgerkrieg, sondern die geopolitische Tektonik der gesamten Region. Die USA zeigen damit, dass sie gegen die Dschihadisten in Syrien vor allem auf die Kurden setzen und mit ihnen eine Sicherheitszone entlang der Grenze zur Türkei schaffen wollen.
Erdogan kritisiert die USA scharf
Doch statt sich über die Vertreibung der islamistischen Mörder von einem erheblichen Teil ihrer Grenze zu freuen, sind Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die regierungsnahe Presse alarmiert und stoßen Drohungen gegen die Kurden aus. Die Erdogan-treue Zeitung Sabah verstieg sich auf ihrer Titelseite zu der Schlagzeile „Die PYD ist gefährlicher als der IS“. Die Partei der Demokratischen Union (PYD) regiert die drei syrischen Kurdenenklaven seit 2011 und entstand einst als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei, den USA und Europa auf der Terrorliste steht.
Erdogan warf den USA daher jetzt vor, mit „Terroristen“ gemeinsame Sache zu machen. Flankierend beklagt die regierungsnahe Propaganda, dass Araber und Turkmenen aus Tell Abjad vertrieben würden. Doch in Wahrheit sind Tausende Flüchtlinge, zum größten Teil Araber, inzwischen wieder in die Region zurückgekehrt. Auch haben arabische Stämme aufseiten der Kurden gekämpft, um den IS zu verjagen.
Hinter dem Streit Ankaras mit Washington steckt eine beunruhigende Entwicklung. Während die Türkei einerseits gemeinsam mit den USA moderate Rebellen der Freien Syrischen Armee trainiert, die gegen den IS kämpfen sollen, hat sie sich andererseits mit Saudi-Arabien darauf verständigt, islamistische Rebellen der Islamischen Front und der Al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front zu unterstützen, die gegen das Assad-Regime vorgehen. Diese Kräfte sind in letzter Zeit erstarkt.
Horrorszenario für die Türkei
Den IS hatte die Türkei bislang offenbar als Puffer gegen die Kurden betrachtet und deshalb trotz der Gefahr fürs eigene Land seit fast zwei Jahren an seiner Grenze geduldet. Tell Abjad war sogar das wichtigste Einfallstor für ausländische Dschihad-Rekruten und ein Schmuggelzentrum für Öl-gegen-Waffen-Geschäfte mit der Türkei. Dieses Schlupfloch wollte Washington schließen. Man darf deshalb annehmen, dass die USA den Kurden wieder beistehen werden, wenn diese demnächst weiter nach Westen vorrücken, um dem IS seine letzten 50 Kilometer Grenzabschnitt zur Türkei bei Jarablus abzunehmen und zugleich die Landverbindung zur Kurdenenklave Afrin herzustellen.
Für die Türkei ist das ein Horrorszenario. Mit der Eroberung von Tell Abjad haben die syrischen Kurden bereits zwei ihrer drei Kantone territorial vereinigt und können Kobane nun ohne Umweg über die Türkei versorgen. Ankara fürchtet zu Recht an seiner südlichen Grenze nach dem Nordirak die Entstehung eines neuen real existierenden Kurdenstaates, dessen Autonomie die Kurden im eigenen Land beflügelt.
Die Regierung verschärft daher ihre Rhetorik gegen den PYD-Schutzherrn in Washington. Schon werden in der Türkei militärische Planspiele offen erörtert, um einerseits Tell Abjad von der PYD zu „befreien“ und andererseits ein weiteres Vorrücken der Kurden nach Westen zu verhindern. Ankara steht in Syrien damit gerade vor der Entscheidung für die amerikanische oder die saudische Option – mit Präferenz für Letztere.
Das ist eine dramatische Entwicklung, die die Nato-Partner der Türkei nicht kalt lassen wird. Washington kann nicht wollen, dass die Türkei den Erfolg gegen den IS wieder untergräbt und amerikanische Interessen schadet. Für den Westen sind die Kurden inzwischen bedeutende Alliierte, die zu Recht einen Preis für ihren Einsatz gegen den IS verlangen. Vieles hängt jetzt davon ab, welche Regierungskoalition in Ankara zustande kommt. Einigt sich die Erdogan-Partei AKP mit den Kurdenhassern der nationalistischen MHP, droht eine Militärintervention in Syrien. Verbündet sie sich mit den Sozialdemokraten der CHP, wäre diese Gefahr gebannt, und auch der unterbrochene Friedensprozess mit der PKK würde wieder Fahrt gewinnen. Der Westen muss deshalb ein vitales Interesse daran haben, dass sich die richtige Koalition in Ankara bildet.