Der mehrfache Strukturwandel in der Region
Rechtsextreme wollen vor Sachsen-Anhalt-Wahl an Boden gewinnen / Aktionsbündnis geplant
Von Romina Kempt und Petra Buch
Bitterfeld-Wolfen. Vor wenigen Wochen klaffte in der Scheibe des
Abgeordnetenbüros der Grünen in Bitterfeld-Wolfen ein riesiges Loch.
Überall lagen Splitter. Im Raum selbst blieben Scherben und ein
Gullideckel zurück. Die Stelle, in die das schwere Geschoss einschlug,
ist noch heute zu sehen. "Wir haben ein Problem mit Nazis", sagt der
sachsen-anhaltische Landtagsabgeordnete Sebastian Striegel vor seinem
Wahlkreisbüro. Seit Monaten spitzt sich die Lage in der Stadt im
Südosten Sachsen-Anhalts zu, häuft sich rechte Gewalt. Auch bei den
Linken wurden Büros attackiert. Wie durch ein Wunder blieben Anwesende
unverletzt. Von den Tätern fehlt laut den Ermittlern noch jede Spur.
Laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht gab es 2014 rund 1300
Rechtsextreme in Sachsen-Anhalt, 2013 noch etwa 1400. Neuerdings würden
auch Kader von Parteien wie Die Rechte und Der Dritte Weg gezielt nach
Bitterfeld-Wolfen ziehen, sagt der Grüne Striegel. "Es gibt eine massive
Mobilmachung der rechten Szene". Diese wolle vor der Landtagswahl 2016
in Sachsen-Anhalt weiter an Boden gewinnen. "Das Problem lässt sich
nicht ignorieren", sagt der Grünen-Landtagsabgeordnete.
Bitterfeld sei kein Einzelfall, erklärt der Politologe Everhard Holtmann
vom Zentrum für Sozialforschung der Universität Halle. Auch im
Saalekreis oder im Burgenlandkreis gebe es ähnliche Aktivitäten.
Rechtsextreme würden vor allem Orte auswählen, an denen linke Aktivisten
leben und wo sie diffuse Ängste von Bürgern - etwa vor Zuwanderung -
schüren können. Bitterfelds Stadtverwaltung müsse endlich handeln,
fordert Striegel. Sie habe lange tatenlos zugesehen, das Problem
verharmlost. Das habe die Neonazis weiter gestärkt.
Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos) verteidigt sich gegen die
massive öffentliche Kritik. Es sei offensichtlich, dass es in der Stadt
ein Problem gebe. Jetzt sei es die Aufgabe aller demokratischen Kräfte,
dagegenzuhalten. "Ich kann mich nicht allein hinstellen." Die Stadt habe
40000 Einwohner. Sie sei zudem im Urlaub gewesen, dann krank. Sie habe
immer betont: "Wir wollen in der Stadt kein Rechts und keine Gewalt."
Von linker Seite habe es auch Vorfälle gegeben, aber Sachbeschädigungen.
"Aber das kann man auch nicht tolerieren." Angriffe wie auf die
Abgeordnetenbüros seien Attacken gegen die Demokratie und scharf zu
verurteilen.
Anfang Juni gab es ein Treffen mit Vertretern von Kirche, Politik und
Gewaltopfern, sagt Wust. Das Ziel sei ein gemeinsames Bündnis gegen
Rechts - so schnell wie möglich. Striegel zieht einen Vergleich zu
Merseburg im Süden des Landes, seiner Heimat. Beide Städte seien etwa
gleich groß, hätten einen Strukturwandel erfahren müssen. Auch Merseburg
hatte Probleme mit Nazis, sagt er. Übergriffe auf Asylbewerber sorgten
2014 für Schlagzeilen. In der Stadt im Süden des Landes habe sich
inzwischen ein breites Bündnis gegen Rechtsextremismus entwickelt. Es
vereine Politiker, Hochschuleliten und Bürger, trete engagiert
öffentlich auf und Rechtsextremen entgegen.
Der mehr als 100 Jahre alte Industriestandort Bitterfeld-Wolfen galt nach dem Mauerfall als ostdeutsche Vorzeigeregion in Sachen Chemie. Mit der Ansiedlung von Solar-Firmen wie dem einstigen Branchenprimus Q-Cells oder Sovello entstand zudem in der einst von der Braunkohleförderung dominierten Gegend einer der größten Solarstandorte Europas - das sogenannte Solar Valley. Mit der Krise dieser Branche und Firmeninsolvenzen musste die Region aber zuletzt den zweiten dramatischen Einbruch in der Beschäftigung nach 1990 verkraften. Laut der Agentur für Arbeit boten sich Job-Alternativen im Umfeld, so in der Automobil- und Logistikbranche vor den Toren von Leipzig und Halle. Im Mai 2015 lag die Arbeitslosenquote in Bitterfeld-Wolfen (Stadt und Umland) bei 8,9 Prozent. 4034 Menschen waren ohne Job, 537 weniger als im Vorjahr. Dies sei die niedrigste Arbeitslosigkeit im Landkreis Anhalt-Bitterfeld (10,2 Prozent), sagte ein Sprecher der Agentur für Arbeit. Die Quote lagt auch unter dem aktuellen Landeswert von 10,0 Prozent.