[Kolumbien] Gestern war er noch ganz friedlich

51 Jahre FARC

2. Teil der Geschichtsreihe zum 51. Jahrestag der Gründung der FARC-EP: Eine historische Geschichte aus der Zeit vor der Gründung der FARC, als die Bauernverbände die Repression der Regierung fürchteten - Von Arturo Alape

 

Der Coreguaje ist über seine Ufer getreten. Seit dem Morgen wütet er wie ein Wilder, dem man lieber nicht an den Bart rührt. Wild stürzt er talwärts. Die letzten Regengüsse, die oben in den Bergen niedergingen, haben ihn aufgepeitscht.

Gestern war er noch ganz friedlich.

Am Abend haben wir ihn nicht durchquert, wir warteten auf die Familien, die unterwegs zurückgeblieben waren. Heute tobt er und schäumt. Voller Zorn gegen die Bewohner seiner Wasser spuckt er bis zu den Kronen der Bäume hinauf, aber dadurch wird seinen Schmerz nicht los, im Gegenteil, er wird immer gereizter und brüllt nur noch mehr.

Gestern war er ein gewöhnlicher Fluss.

Zwei Soldaten sind an unserem Lagerplatz von vorgestern aufgetaucht; sie sind uns dicht auf den Fersen.

Nur mit der Unterhose an hat sich einer von uns, der den Coreguaje kennt, ins Wasser gestürzt. Er hat lange mit den Armen gegen die Strömung angekämpft, um zu sehen, wie stark sie ist: Dreihundert Meter weiter unten kam er nackt wieder zum Vorschein, der Sog ist gewaltig. Vom anderen Ufer aus macht er jetzt Zeichen, als wolle er sagen: „Beschissen ist das…“ Und mit einer anderen Handbewegung fügt er hinzu: „Wir müssen warten, bis das Wasser sinkt“. Alle Köpfe wenden sich nach rechts, und die Blicke wandern den scharfen Bergkamm entlang, wo schwere, dunkle Wolken aufziehen. Die Kinder laufen unterdessen am Ufer im Sand umher. Sie spielen Krieg und machen sich nichts daraus, dass man ihr Lachen nicht hört in dem Donnern und Tosen. Mit den Händen haben sie kleine Höhlen gegraben, die längst überflutet sind. Die Unentschlossenheit der Erwachsenen wächst, je größer ihre Augen werden.

Die Soldaten hatten nicht damit gerechnet, gestern Morgen da, wo sie nur ein paar alte Hütten vermuteten, in einen Hinterhalt der Guerilla-Nachhut zu geraten; das hat ihren Angriff auf uns ein paar Stunden aufgehalten. Sie sind so versessen darauf, uns zu erwischen, dass sie sich leicht ein Bein dabei brechen.

 

Normalerweise kann man den Coreguaje barfuß durchwaten und wird dabei nass bis zum Gürtel. Aber wir können jetzt nicht darauf warten, dass der Sommer die Flüsse schwächt; wir müssen weiter. Drei von unseren Kameraden haben sich an den Händen gefasst und versucht, durch den Fluss zu gehen, aber die Wellen sind über ihren hochgereckten Händen zusammengeschlagen, und ihre Füße, die immer kleinere Schritte machten, fanden keinen Halt mehr im Sand. Sie wurden auseinandergerissen und mussten schwimmen, und jetzt fuchteln sie am anderen Ufer mit den Armen herum und geben uns zu verstehen: „Hoffnungslos... So kommt man nicht durch.”

Bis hierher sind die Schüsse zu hören.

Es ist ein sonderbarer Fluss: Er kann im Handumdrehen anschwellen, aber ebenso schnell sinkt das Wasser auch wieder. Hoffen wir, dass es auch heute so ist. Im Sommer ist der Coreguaje sanft und blau und so klar, dass man die Fische zählen kann, die sich im Wasser tummeln und an den schleimigen Steinen lecken. Ab sobald er tobt, wird er braun wie Milchkaffee. Dann lässt er sich durch nichts aufhalten. Die toten Stämme klammern sich mit ihren Wurzeln an den Zweigen fest, die von den Ufern hereinhängen, und bilden Palisaden, an denen sich das Wasser brodelnd staut, und die vom Sturm besiegten Bäume spreizen ihr Geäst und segeln wie hungrige Spinnen dahin, bis der Strudel sie packt und in die Tiefe zerrt, und dann tauchen sie wieder auf und gleiten schaukelnd auf schäumenden Wellen weiter…

„Der Hubschrauber! Steht nicht rum und glotzt! Tarnt euch!“ ruft Juancho. Seine Stimme hallt durch das Gehölz.

Das Dickicht verwächst mit unseren Haaren, die Dornenranken stechen, während wir wie Wildkatzen hineinspringen, ein Busch hat plötzlich die Beine von Mariana. Hände besänftigen die wimmernden Kinder, die wild in die Brustwarzen beißen. Im dichten Ufergehölz verschanzt, sehen wir den fliegenden Apparat, seine erstarrten Kautschukklauen, und wir hören das Bla-bla dass er herabhageln lässt.

„Ergebt euch, wir haben euch eingekreist... Ihr seid die letzten… Wir wissen genau, wo ihr steckt… Den Frauen und Kindern wird nichts geschehen, wir suchen nur die Bandoleros… Die anderen haben sich schon ergeben…“

Und das Ding tut so, als wolle es seinen Durst im Coreguaje stillen, und kreist so niedrig über dem Ufer, dass es uns vorkommt als stecke der dröhnende Motor in uns selbst, und unsere verwirrten Augen hören erst wieder auf zu flackern, als sich das summende Insekt entfernt.

 

Da gehen wir zum sandigen Ufer zurück und vermehren die Spuren.

„Wir haben keine Wahl, wir müssen rüber“, sagt Juancho, der für Evakuierung verantwortlich ist. „Ihr habt den Hubschrauber gehört: Wir sollen uns ergeben… Ihr hört die Schüsse, die immer näherkommen… Wenn sie uns am Ufer erwischen, dann bleibt hier keine Spur von uns…“

„Stimmt, aber wie kommen wir ihm bei? Siehst du den Stein da drüben, Juancho? Vorhin hat er noch den Kopf gehoben und zu uns herübergeschaut. Und jetzt ertränkt ihn der Fluss.“ Die Kinder ahmen das Geräusch des Hubschraubers nach, sie summen und klopfen sich mit der Hand auf den offenen Mund. „Trotzdem, wir müssen auf die andere Seite, sonst werfen sie wieder Bomben auf uns. Das eben war bloß ein Erkundungsflug.“ „Also gut... dann gehen wir halt durch den Fluss - oder wir gehen darin unter.“

„Ich glaube, das Beste ist, wir spannen ein Seil zum anderen Ufer und hangeln uns daran rüber“, sagt Juancho und knüpft Lianen zum Festhalten an ein Seil; er hat zwei rechte Hände. „Und die Kinder?“ fragen die Frauen.

„Die Kinder? Die müssen sich an die Haare von denen klammern, die sie tragen.“

Er meints nicht gut mit uns, der Coreguaje. Die Berge, aus denen er kommt, vier Stunden von hier, sind noch immer schwarz, der Regen hat die ganze Nacht nicht nachgelassen. Die Berge, aus denen er kommt, sind ein grauer Schlund.

Einer der Männer schwimmt über den Fluss, das Ende des Seils zwischen den Zähnen, das wir Stück um Stück nachgeben. Drüben macht er es an einem Baum fest.

Dann gehen drei Männer ins Wasser, um uns beim Überqueren zu helfen. Sie halten sich an den Lianen fest und zappeln mit den Beinen wie schwimmende Hunde, während die Wellen gegen ihre Köpfe schlagen. Die Frauen von den Männern geführt, die Kinder huckepack, die Hände in die Haare ihrer Eltern gekrallt: So kämpfen sich die ersten an das Seil geklammert durch die Strö­mung. „Wir sind durch!“ rufen sie und halten schon Ausschau nach unseren Verfolgern. Die Frauen wringen ihre Kleider aus, die kleinen Kinder zittern vor Kälte. „Jetzt die nächste Ladung!“ befiehlt Juancho. Aber auch der Coreguaje schickt seine nächste Ladung. „Die Strömung! Schnell ans Ufer! Schwimmt! Rettet euch, wie ihr könnt!“

 

Fluten schmutziggelber Wogen wälzen sich heran, schwappen über den zwei Mann hohen Felsen, ersticken mit ihrem dumpfen Tosen Juanchos sich überschlagende Stimme, überschwemmen die Senken und prellen gegen die Böschungen zu beiden Seiten des Flusses. Der Fluss geifert und spuckt, er schäumt, bläht sich und stürzt sich auf die kreischenden Menschen, die seiner Wut nicht entrinnen können und verzweifelt die ohnmächtigen Arme recken, die Kinder mit ausgerissenen Haarsträhnen in den Händen.

„Mein Kind, Hilfe, mein Kind!“ schreit Mariana und blickt flehend zum Himmel. Das arme Geschöpf treibt in den Strudel, das Köpfchen dreht sich wie irr in dem aufgewühlten Kessel, versinkt und taucht wieder auf und wird weitergetrieben von den peitschenden Wellen, die es in blinder Wut gegen den ungerührten Felsen schmettern. Dann gleitet es davon, ein winziger schwarzer Punkt, und Mariana, die sich mit der Strömung treiben lässt, um ihren Sohn zu retten, die sich in den Fluten windet und mit den Armen um sich schlägt, wird hinabgezerrt wie eine tanzende Flasche, aus deren Hals die langen braunen Haare und ihre Finger ragen. In der Biegung vor dem Steilufer entschwindet sie unseren Blicken, und rasend vor Zorn fällt der Coreguaje jetzt über den alten Antonio her. Als hätte er Anas spitzen Schrei gehört, antwortet der Hubschrauber mit seiner eisigen Stimme: „Ergebt euch… Wir werden euer Leben schonen… Wir haben euch geortet…“ Aber der Coreguaje achtet nicht auf die Stimme aus den Wolken, befriedigt schluckt er die Gitarre, die uns das Leben so oft leichter gemacht hat. Mit unseren letzten Kräften ziehen wir vom Ufer her an dem Seil, das kein Seil mehr ist, sondern ein Halbmond silbern schimmernder Leiber, schreiender Menschen, die ertrinken, gegen die die Baumstämme stoßen, und der Halbmond löst sich, während es vom Himmel auf uns einredet, und das Seil gibt nach. Einige von uns stürzten sich ins Wasser, um dem Fluss noch ein paar lebendig zu entreißen, aber es war unmöglich.

Tief im Gebirge machten wir ein Feuer, ließen die Kleider an unseren Körpern trocknen und warteten auf die Nacht, und als es Nacht wurde, legten wir uns auf dem kalten Boden schlafen.

Hinter uns wütete noch immer der Coreguaje und trug unsere Kinder und Kameraden davon, das Leben, das er uns aus den Händen gerissen hatte.

 

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