Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen sind oft gezwungen mit kreativen Aktionen zu reagieren. Exemplarisch für die Kreativität, die Beschäftigte in ihren Aktionen und ihrer Organisierung an den Tag legen, steht der "Scheiß-Streik". Dieser sorgte damals nicht nur für viel Aufsehen, sondern entfaltete auch Wirkung. Toni Richter war damals mit von der Partie und stand uns dankenswerter Weise für ein Interview zur Verfügung. Zur Zeit finden sich unter facebook.com/getup.ma eine fortlaufende Reihe von Interviews, Infos und Clips zum Thema Lohnarbeit und Widerstand. Schaut rein.
Hier das Interview:
INTERVIEW MIT TONI RICHTER/ EHEMALIGER BESCHÄFTIGTER BEI CEBEEF E.V.
1. Du hast lange Zeit beim CeBeeF e.V. Frankfurt am Main, einem Betrieb in der Behindertenhilfe gearbeitet. Die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich gelten als alles andere als rosig. Kannst du den Betrieb und eure Arbeitsbedingungen dort beschreiben?
Erstmal zum Betrieb: es gab dort zwei große Arbeitsbereiche, die klassische Behindertenhilfe und die Schul-Assistenz. Wir waren ca. 450 Beschäftigte in einem sog. Tendenzbetrieb, die letztlich alle über die ganze Stadt verteilt arbeiteten und sich zumeist einmal im Monat im Hauptgebäude zu Teamtreffen zusammenfanden. Also ein mittelständischer Betrieb mit einer räumlich extrem zersplitterten Belegschaft, die zudem aus den verschiedensten Milieus kam (Studenten, Festangestellte, Hinzuverdiener etc.)
Also ich würde sagen, dass die Arbeitsbedingungen bei uns ganz o.k. waren, denn wir hatten schon seit den frühen neunziger Jahren einen Betriebsrat, der auf Arbeitsschutz und die Einhaltung des Arbeitszeitsgesetzes wert gelegt hat und da auch manches erreichen konnte. Es gab zwar immer wieder die Grundsatzdebatte, ob die Autonomie des Kunden/Assistenznehmers Vorrang vor dem Arbeitsschutz hat, aber das waren zumeist einzelne Kunden, die sehr uneinsichtig waren, und weniger unsere Vorgesetzten. Zudem hatten wir den Vorteil, dass man den Kunden im Betrieb auch wechseln konnte, wenn man nicht mehr bereit war unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
Richtig blöd war hingegen die Bezahlung - ich glaube die 9,31 € Stundenlohn wurden Mitte der neunziger Jahre eingeführt und galten bis 2012! Und da gleichzeitig immer weniger diesen Job als studentischen Nebenjob betrachteten, sondern immer stärker von ihm abhingen, war das natürlich der große Frustrationspunkt in unserem Laden.
2. Wie seid ihr als Betriebsräte/ Beschäftigte mit euren Arbeitsbedingungen umgegangen?
In mancherlei Hinsicht haben wir die Arbeit unserer Vorgänger fortgesetzt, intensiviert - die richtige schwierige Nuss war aber die Lohnfrage! Erstens: gesetzlich hast Du als BR in Sachen Lohn geringe Spielräume, das ist Gewerkschaftssache. Leider war aber verdi bei uns nur ganz wenig präsent - die haben uns alle Jahre ihre Kalender zukommen lassen, wir wussten nicht so richtig mit wem wir bei denen unser Lohnproblem angehen könnten.
Zweitens: unsere GF hat immer wieder gesagt, dass sie ja den Lohn gerne erhöhen will, aber dass die Stadt Frankfurt nicht bereit sei, deshalb auch mehr für die von uns erbrachten Leistungen zu zahlen. Sollten wir also gegen die Stadt Frankfurt kämpfen?
Drittens: wir haben dann das Thema immer wieder in Betriebsversammlungen hoch gehalten, wir haben versucht durch Tauschgeschäfte mit der GF in Sachen Lohn was zu erreichen, indem wir woanders entgegenkommend waren - aber gebracht hat das letztlich nichts!
Die Rettung kam dann eher beiläufig durch den Anruf des BR der Ambulanten Dienste e.V. Berlin, die uns zu einem bundesweiten Vernetzungstreffen eingeladen haben. Dort haben wir nicht nur festgestellt, dass es unseren Kollegen in Berlin, Bremen, Hamburg und Marburg sehr ähnlich geht - das war auch der Ort, wo uns dämmerte das wir vielleicht durch bundesweite AKtivitäten in Sachen Lohn was erreichen könnten.
3. Ihr hattet auch eine sehr kreative Aktion gemacht, die hohe Wellen geschlagen hat, den „Scheiß Streik“. Was war das genau?
Die Idee hatte der BR der Ambulanten Dienste Berlin und dafür gebührt ihnen fetter Applaus! Da unsere Arbeit häufig genug auf "Scheisse"-Wegmachen reduziert wurde und wir unseren Lohn als Scheisslohn empfanden, schlugen sie uns vor: Lasst uns doch einfach bundesweit Scheisse oder scheissähnliche Substanzen in kleine Kotröhrchen abpacken und mit einem Begleitschreiben an die verschicken, die wir für unsere Scheiss-Löhne verantwortlich machen. Wenn wir diese Verschickaktionen gleichzeitig online dokumentieren und begründen, dann sollte das doch für einige Aufmerksamkeit sorgen und uns zumindest aus unserer Schattenexistenz befreien. Zudem war all das ohne großen Aufwand zu realisieren, d.h. die zusätzliche Arbeit für die Durchführung des Scheiss-Streiks war überschaubar.
4. Was konntet ihr dadurch erreichen und wie waren die Reaktionen?
Die Reaktionen waren natürlich sehr gemischt. Auch innerhalb der BR-Gremien fanden viele die Aktion nicht gut, unserer Belegschaften waren nicht richtig begeistert und auch viele Behinderte, die uns wohlgesonnen waren, fanden die Aktion zu plakativ. Dennoch war das Resultat klasse: auf ein Mal waren Arbeitsbedingungen in der Behindertenhilfe in linken Zeitschriften Thema, es gab auch Solidarisierungen durch Behindertengruppen und was am wichtigsten war: das kleine Netzwerk von Betriebsräten, dass sich 2008 das erste Mal in Berlin getroffen hatte (UAPA), war plötzlich auch auf dem Gewerkschaftsradar!
5. Was können andere Beschäftigte von den im „Scheiß Streik“ gemachten Erfahrungen lernen?
In jedem Fall das Eigen-Aktivität gepaart mit Kreativität und Humor besser ist als abzuwarten und sich mit der eigenen Hoffnungslosigkeit abzufinden. Denn ganz ehrlich: wir hatten ja auch Zweifel, ob das mit dem Scheiss-Streik der richtige Schritt war! So haben wir was riskiert und in fast allen Betrieben kamen die Dinge dadurch in Fahrt: in Bremen, Hamburg und Frankfurt gibt es jetzt Tarifverträge in der Behindertenhilfe, was 2008 unvorstellbar schien.
Aber auch das will ich betonen: eine Aktion kann nur der Anfang sein, sie ersetzt nicht die mühevolle Arbeit in den Betrieben, um dort die Leute nach und nach zu mobilisieren. Ähnliches gilt übrigens für die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften: die brauchen zwar manchmal recht lange bis sie die Eigen-Aktivität von Betriebsräten und Belegschaften zu schätzen wissen und das dauerte auch in Frankfurt eine ganze Weile bis wir mit verdi eine Zusammenarbeit "auf Augenhöhe" etabliert hatten - aber als meine Ex-Kollegen 2011/2012 mit verdi in den Arbeitskampf zogen und diesen erfolgreich abschlossen, war ich echt begeistert, wie gut das klappte.
Es gab da zwar immer wieder kleine und größere Fetzereien mit den verdi-Hauptamtlichen - aber hey: am Ende des Liedes haben meine Ex-Kollegen sogar verdi Frankfurt ein gutes Stück weit zum besseren verändert!
Vielen Dank Toni!
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