Tesfamihret ist jung und gut ausgebildet. Der Flüchtling aus Eritrea hoffte, in Europa ein neues Leben aufzubauen. Doch er landete in Italien auf der Strasse. Versuche, in anderen Staaten Asyl zu bekommen, scheiterten an der Dublin-Verordnung.
«Die Italiener haben mir das Leben gerettet», sagt Kibrom Tesfamihret, «dafür werde ich ihnen immer dankbar sein.» Nach sechs Jahren verfolgen den 32-jährigen Eritreer noch immer die Erinnerungen an die höllische Überfahrt von Libyen nach Lampedusa. 350 Personen in einem alten rostigen Kahn, der sich nach kurzem mit Wasser füllte. Über 17 Stunden auf hoher See. Er habe nicht mehr geglaubt, Europa lebend zu erreichen, erzählt er mit leiser Stimme. Die Küstenwache habe das Boot erst kurz bevor sie alle ertrunken wären geortet.
Gerettet und im Stich gelassen
«Die Italiener haben in den letzten Jahren Hunderttausende gerettet. Doch danach werfen sie dich einfach auf die Strasse», sagt der schmächtige junge Mann kopfschüttelnd. Wie viele, die aus Kriegsgebieten im Nahen Osten und in Afrika fliehen, hatte Tesfamihret gehofft, es bis nach Nordeuropa zu schaffen. Dort wollte er einen guten Job finden und ein neues Leben beginnen. In Eritrea hatte er Verwaltungswesen studiert und als Leiter einer Schule gearbeitet.
Doch bei der Ankunft in Lampedusa wurde Tesfamihret registriert, seine Fingerabdrücke wurden genommen, damit war sein Schicksal besiegelt. Gemäss der sogenannten Dublin-Verordnung ist derjenige Mitgliedstaat für ein Asylverfahren verantwortlich, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt. Wer einmal registriert ist, kann in keinem anderen Land mehr Asyl beantragen. Das System ist umstritten, weil die meisten Flüchtlinge über Italien oder Griechenland einreisen; krisengeschüttelte Länder, deren Sozialsysteme mehr schlecht als recht funktionieren. Und die Belastung wird immer grösser. 2013 waren laut dem Innenministerium 42 925 Bootsflüchtlinge in Italien angekommen. 2014 waren es 170 100.
Nach einer Woche in Lampedusa war Tesfamihret in ein Asylbewerberheim an der Peripherie Roms gebracht worden. Dort wurde ihm schnell klar, dass Italien kein guter Ort für einen Neuanfang war. Es gab kaum genug zu essen für die 1500 Insassen; geschweige denn Unterstützung bei der Integration oder für den bürokratischen Spiessrutenlauf. Nach sieben Monaten wurde Tesfamihrets Antrag auf politisches Asyl abgelehnt. Er bekam nur eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen, die keinerlei staatliche Unterstützung mit sich bringt.
Eritrea ist ein autoritärer Staat, der Andersdenkende verfolgt und Bürger zu jahrelangem Militärdienst zwingt. Flüchtlinge aus dem ostafrikanischen Land erhalten überall in Europa humanitäre Aufnahme oder Asyl. Er habe damals leider keine Ahnung von «Dublin» gehabt, erklärt Tesfamihret. Mittlerweile seien die Flüchtlinge besser informiert. Eritreer versuchten, nach der Ankunft unterzutauchen und weiterzureisen.
Traumdestination Schweiz
«Als ich aus dem Zentrum rausmusste, hatte ich weder einen Job noch eine Unterkunft. Ich war völlig verzweifelt», erzählt er. Italien befand sich in einer wirtschaftlichen Krise. Tesfamihret war bereit, jede Arbeit anzunehmen, doch fand er nicht einmal einen schlecht bezahlten Gelegenheitsjob. «Einen festen Vertrag und ein geregeltes Einkommen haben auch viele Italiener nicht. Als Afrikaner kann man davon nur träumen», meint er desillusioniert.
Während der Flucht hatte er Gerüchte darüber gehört, wie man in anderen Ländern Asyl bekommen könne. Später sollten sich alle als falsch erweisen. Tesfamihret wollte nicht glauben, dass sein Traum auf den Strassen Roms endete, und entschied, sein Glück anderswo zu versuchen. Traumdestinationen waren Grossbritannien und die Schweiz. Weil er fliessend Englisch sprach, brach er Richtung London auf. Doch so weit kam er nie. In Frankreich kontrollierte ihn die Polizei, er beantragte Asyl. Die Behörden erklärten ihm jedoch, dass Italien für ihn verantwortlich sei. Er wurde ins Gefängnis gesteckt und einige Monate später ausgeschafft.
Zurück in Italien, arbeitete Tesfamihret kurz als Tellerwäscher. Für 900 Euro im Monat schuftete er Tag und Nacht – natürlich schwarz. Dann machte das Restaurant zu. Bekannte erzählten ihm, dass man als Eritreer in der Schweiz leichter politisches Asyl bekomme. So fuhr Tesfamihret mit dem Zug nach Chiasso und stellte dort noch einmal einen Asylantrag. Die nächsten fünf Monate verbrachte er in einem Durchgangszentrum in Halenbrücke bei Bern. In der Schweiz habe es ihm gefallen, sagt er. Die Verantwortlichen seien hilfsbereiter gewesen, er habe sogar eine Schule besuchen und Deutsch lernen können. Auch die Schweizer entschieden aber schliesslich, dass er nach Italien zurückkehren müsse.
«Die Dublin-Regelung ergibt keinen Sinn», sagt der junge Afrikaner. Obwohl man in Italien keine Chance habe, aus eigener Kraft zu überleben, schicke man die Leute zurück. «Die Franzosen und die Schweizer haben keine Ahnung, wie die Realität in Rom aussieht. Die Mehrheit der Flüchtlinge lebt auf der Strasse oder in slumartigen Verhältnissen in besetzten Häusern.» Tesfamihret ist in der Zwischenzeit in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude am Stadtrand untergekommen, in dem über tausend Afrikaner illegal hausen. Toiletten gibt es nur wenige, Strom und Wasser unregelmässig. Der 32-Jährige teilt sich ein Zimmer mit drei anderen Eritreern.
Seit ein paar Monaten arbeitet er als Hauswart in einem Palazzo im Stadtzentrum. Es ist nur ein Aushilfsjob für ein paar Monate. Doch das sei allemal besser, als arbeitslos zu sein. Auch besser, als in Eritrea in Angst zu leben. Viele seiner Freunde und Arbeitskollegen hätten dort jahrelang im Gefängnis gesessen, seien gefoltert worden oder einfach verschwunden, erzählt er. Viele seien, von der Armee zwangsrekrutiert, nie mehr zurückgekommen. 2007 entschied Tesfamihret deshalb zu flüchten. Er war über ein Jahr unterwegs. «Die Hölle», sagt er mit erstickter Stimme. «Doch hatte ich Glück. Viele überleben die Flucht nicht.»
Nicht abschreckend genug
Dennoch reisst der Strom der Verzweifelten nicht ab. «Die Eritreer haben ein verzerrtes Bild von Europa. Selbst wenn sie wüssten, was sie erwartet, würden sie aber kommen», sagt er überzeugt. «Es ist eine Frage der Alternative. Das Leben in Rom ist hart, aber man riskiert nicht jeden Tag sein Leben.» Tesfamihret sagt, er vermisse die Heimat. Fiele das autoritäre Regime in Asmara, würde er sofort zurückkehren. «Europa steht vor einer enormen Herausforderung. In den nächsten Jahren wird es überschwemmt werden. Dublin wird das nicht verhindern. Die Schlepper werden neue Wege finden, das System zu umgehen.» Längerfristig kann das Flüchtlingsproblem nach Ansicht des Afrikaners nur politisch gelöst werden: «Wäre es nicht sinnvoller, etwas gegen Tyrannen wie jene in Eritrea zu unternehmen, anstatt sich gut mit ihnen zu stellen und dafür Zehntausende von Flüchtlingen in Kauf zu nehmen?»