Die Vorankündigung von einer kürzlich von Gewerkschaftern mit Hilfe eines Filmemachers fertiggestellten Filmdoku über die Zunahme der Kinderarbeit im Kontext der Ausbeutung von Migranten auf Sizilien sorgt in engagierten Kreisen in ganz Italien für manche Aufmerksamkeit. Hintergründe zum Thema lieferte vor einer Woche auch der freie Sender Radio Blackout aus Turin.
[RBO Textbeitrag und Radiogespräch in deutscher Übersetzung; Original & Audio]
[Textbeitrag]
Sizilien. Kleine Sklaven
4. März 2014
Die Nachricht wurde gestern über Il Manifesto publik. Ein von der CGIL und der FLAI Catania [Gewerkschaftsverbände, d. Ü.] zeigt Kinder zwischen 10 und 14 Jahren bei der Erntearbeit. Die Filmdoku wurde in den Landgebieten um Catania gedreht. Auch kleinere Kinder und sogar Säuglinge sind dabei. Die Tagelöhner nehmen sie mit, um sie nicht allein zurückzulassen. Viele von diesen Kinder besuchen folglich keine Schule, die ganz Kleinen werden in die Kunststoffkisten für das Obst gelegt und bleiben dort den ganzen Tag liegen, während die Eltern mit der Ernte zugange sind.
Die Kinder und Jugendlichen sind mit Booten nach Sizilien gekommen. Sie landen in CARAs [Asylbewerbersammelzentren, d. Ü.] oder sie leben ohne Papiere klandestin im Ländlichen, wo sie gegen verschwindend geringen Lohn ihre Arbeit anbieten.
Die Caporali [Arbeiteranwerber, d. Ü.] sammeln sie auf Parkplätzen ein, fahren sie auf die Felder und nehmen einen Teil des Lohns an sich.
Sie arbeiten 12 Stunden am Tag für Tageslöhne, die höchstens 20 bis 30 Euro erreichen, von denen noch der Anteil für die Caporali abgeht. In der Regel macht das 5 bis 15 Euro. Die Schwarzarbeit auf Sizilien nimmt ständig zu. 2014 führte die [nationale italienische Sozialversicherungsanstalt, d. Ü.] INPS Inspektionen in 270 von insgesamt 11000 landwirtschaftlichen Betrieben in der Region durch. Dabei wurden 570 vollkommen schwarz arbeitende Personen entdeckt. Jeder Dritte Tagelöhner wird nicht erfasst. Das Melderegister von Paternó zählt nur sieben marokkanische Staatsbürger. In den Räumen der leer stehenden, baufälligen ehemaligen Schule Falconieri trafen die Autoren des Videos weitere 43 an. Sie leben dort, ohne Wasser und Strom.
Der drastische Einsturz der Lohnkosten begünstigt Großunternehmen und verursacht den Konkurs von Kleinbauern, die ihre Grundstücke ausverkaufen und sich auf den Weg nach Deutschland und Belgien machen.
Die Einwanderungspolitiken, der Umgang mit Flüchtlingen, die Politik der CARAs, das Caporalato und die Arbeit in knechtschaftlichen Verhältnissen bilden ein Puzzle, in dem Beschäftigung unter Bedingungen, die der Sklaverei sehr nahe kommen und ohne Verpflichtung, den Tagelöhner unterzubringen und ihn zu ernähren, wenn er nicht gebraucht wird in einem immer erbarmungsloseren Kapitalismus den Spieleinsatz bilden.
Vollständig wird das Bild, wenn man zusätzlich Siziliens schrittweise erworbene Rolle als logistische Plattform im Mittelmeer in die Betrachtung zieht. Sizilien diente in den 90er Jahren als Vorposten für die Einsätze im Balkan, für die globalen Kriege nach dem 11. September 2001 und für die jüngsten Kreuzzüge gegen die Migrationen im Mittelmeerraum.
Zuletzt war die Einrichtung der MUOS-Bodenstation in Niscemi an der Reihe, unweit vom US-Militärstützpunkt Sigonella, den Washington und Brüssel zur Welthauptstadt der Drohnen und der Stationierung der frisch gegründeten schnellen Eingreiftruppe der Marines, die immer intensiver bei Aktionen und streng geheimen, schmutzigen Operationen in Nordafrika und Somalia zum Einsatz kommt – eine endlose Eskalation des Militarisierungsprozesses, die zerstörerisch auf die sizilianische Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gewirkt hat und schon in den kommenden Monaten weitere und noch gefährlichere haben Auswirkungen für alle auf Sizilien lebenden Menschen haben könnte.
Mare Nostrum, ein schon vom Namen her neokolonial geprägtes Programm, wird als humanitäre Operation zur Rettung von Migranten und Flüchtlingen in Seenot beschrieben. Tatsächlich ist die Militärmarine gar nicht zu Rettungszwecken nötig, die vielmehr versucht hat, unter Einsatz von Drohnen, die bis ins Libysche Hinterland gedrungen sind, die Abreise der Migranten zu verhindern. Die Instabilität Libyens seit dem Krieg 2011 hat das Scheitern der Operation besiegelt, von der es bald jedoch eine Neueauflage in entschieden kriegerischerer Form geben könnte.
Wir haben uns darüber mit dem No Muos Aktivisten Antonio Mazzeo unterhalten, der mit großer Aufmerksamkeit die Dynamiken der Immigration verfolgt.
[Radiogespräch]
RBO: Gestern veröffentlichte Il Manifesto auf Seite 5 einen langen Artikel, der von arbeitenden Kindern auf den Äckern Siziliens handelte. Antonio Mazzeo ist für eine Vertiefung des Themas mit uns telefonisch verbunden. Guten Tag Mazzeo.
Mazzeo: Guten Tag an euch.
RBO: Wovon ist hier die Rede?
Mazzeo: Nun, wir sprechen von einer Situation, die gestern konstatiert wurde, auf die NGOs, Vereinen für die Menschenrechte und antirassistischen Gruppen leider aber schon immer hingewiesen haben. Dass eine immer stärkere Verschiebung der intensiven Ausbeutung von Arbeitskraft unter den mittlerweile Alles bestimmenden Bedingungen von Globalisierung und Neoliberalismus hin zu den schwächeren und am wenigsten geschützten Gruppen geht, ist klar. Ich wiederhole: das Phänomen ist leider nicht neu. Was besonderen Grund zur Sorge gibt ist sicher, dass es diesmal die Kinder von Migranten und Asylbewerbern sind, die zum Gegenstand der intensiven Ausbeutung von Arbeitskraft in der Landwirtschaft werden.
RBO: Es geht also um 'eingewanderte' Arbeitskraft, deren Ausbeutung nicht nur Personen in angemessenem Alter betrifft, sondern Kinder. Es ist von Kindern die Rede, die 10 bis 14 Jahre alt sind.
Mazzeo: Mit Sicherheit haben die Modalitäten der Führung der Kriege gegen die Migration und die Migranten in den vergangenen 12 bis 18 Monaten faktisch eine Verschiebung hin zu einer enormen Senkung des Alters derjenigen bewirkt, die die Reise versuchen und die Risiken der Durchquerung der Wüste zuerst und dann der Überfahrt durch das Mittelmeer auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen. Wenn die Familien in Afrika in Hinblick auf finanzielle Ressourcen investieren müssen, kommen sie nicht umhin, bei der Investition auf die Minderjährigen zu setzen, weil sie wissen, dass es bei Minderjährigen schwieriger ist, Zurückweisungen vorzunehmen. Die höchst restriktiv angelegte italienische Gesetzgebung etwa, erlaubt die Zurückweisung von Minderjährigen unter keinen Umständen. Das hat logischerweise zu einer erheblichen Senkung des durchnittlichen Alters derjenigen, die sich auf die Reise begeben geführt - natürlich in völliger Abwesenheit von jeglicher Berücksichtigung, Kontrolle und Durchsetzung dessen, was die Grundrechte der Migranten und der minderjährigen Migranten ohne Begleitung sind. Wer versucht, emigrierte Arbeitskraft auszubeuten, hat natürlich ein leichtes Spiel, da er Zugriff auf ein umso schwächeres Glied in der Kette hat, das weniger geschützt ist und so natürlich viel leichter in die Kreisläufe der Ausbeutung gelangt.
RBO: Was Sizilien betrifft, reden wir wohl von der Zitrusfrüchte ernte, vermute ich mal...
Mazzeo: Nun, auch dieses Phänomen ist nicht eindimensional: nicht nur die Ernte von Zitrusfrüchten ist betroffen, sondern auch der Anbau in Gewächshäusern, besonders in den Provinzen im Südosten, wo es noch eine recht große gewächshausbasierte Produktionsnische gibt. Fast würde ich sagen, dass es sich dabei um den x-ten Beweis der zerstörerischen Aspekte des Neoliberalismus und der wilden Globalisierung handelt. Diese Menschen sind de facto drei Mal Opfer des Neoliberalismus: sie sind Opfer im eigenen Land, weil die neoliberalen Modelle jede produktive Tätigkeit auf lokaler Ebene faktisch ausgelöscht haben, weshalb es diesen riesigen Schub von den Landgebieten in die großen afrikanischen Städte gibt und den anschließenden, durch das völlige Fehlen von Integrationsmöglichkeiten in den Städten bedingten Versuch, Europa zu erreichen. Sie sind Opfer, weil die neoliberalen Modelle in den sizilianischen Landgebieten in den vergangenen Jahren natürlich zu beängstigender Zerstörung geführt haben. Besonders beim Anbau von Zitrusfrüchten und in der Gewächshausproduktion in den nordafrikanischen Ländern herrscht heute eine erbarmungslose Konkurrenz. Die EU hat sich faktisch dafür entschieden, die Regimes der nordafrikanischen Länder zu belohnen, weil diese die Drecksarbeit verrichten, die in Europa nicht erlaubt wäre, nämlich das Bekriegen der Migrationen und die Durchführung von Zurückweisungen - man schaue sich nur den Fall Marokko an, wo die Migranten die Enklave von Ceuta und Melilla erreichen können und von dort aus die Überfahrt nach Europa versuchen. Faktisch wurden mit der Sicherung der lokalen Produktion, die in Afrika sehr oft auch mithilfe der wirtschaftlichen Ausbeutung der Migranten aus den Ländern südlich der Sahara überlebt, diese Tätigkeiten prämiert, was die Überflutung des europäischen Marktes mit Agrarprodukten aus diesen Ländern erlaubt hat. Das ist die Belohnung, die Europa diesen Regimes gegeben hat, damit sie genau das umsetzen, was man von ihnen wollte, nämlich Grenzpolizeien und die möglichst umfassende Verhinderung der Migrationen. Das hat - ich sage es nochmal - zur Zerstörung der Agrarproduktionen geführt, besonders im Süden Spaniens, wie ich meine. Das Gleiche gilt aber auch für den gesamten Süden Italiens. Durch den Preisverfall bleibt logischerweise nur noch die Möglichkeit, weitere Verschiebungen im Bereich der Ausbeutung von Arbeitskraft vorzunehmen, wenn man versuchen will, zu überleben. Es ist ein Prozess im Gang, bei dem die Verwertung von aus Nordafrika immigrierter Arbeitskraft stattfindet, wobei natürlich genau mit der Frage der Illegalität gespielt wird, weil die Ausbeutung von Personen, die juristisch gesehen keinerlei Möglichkeit haben, sich zu wehren, so noch leichter gemacht wird. Der weitere Verfall der Preise und eine auch strukturelle Veränderung der Migrationsprozesse bewirken so die Verschiebung hin zur Ausbeutung von Minderjährigen.
RBO: Das scheint mir - wie kann ich es sagen? - ein weiterer Bestandteil der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Aller und im Besonderen der Migranten zu sein. Was verdienen zum Beispiel die Obstpflücker für eine Stunde Arbeit?
Mazzeo: Nun, soweit wir wissen, wird nicht pro Stunde abgerechnet. Abgerechnet werden häufig sehr arbeitsintensive Tage, deren Dauer auch 14 bis 16 Stunden erreichen kann. Es gelten inzwischen Preise, die nicht über die 10 bis 15 Euro pro Tag hinausgehen. Hinzu kommen Phänomene wie das Caporalato, also die Tatsache, dass demjenigen, der einem die Möglichkeit verschafft, auf Tageslohnbasis eine Beschäftigung zu finden ein Vermittlungsentgelt bzw. ein Schutzgeld entrichtet werden muss. Hinzu kommen häufig Kosten für den Transport und für Wasser. Was am Ende übrig bleibt, das sind nur wenige Euros. Es handelt sich um ein extrem zerstörerisches Phänomen, das wiederum auch immense Auswirkungen auf die sizilianische Wirtschaft und Gesellschaft hat. Wie sehr viele Forscher in den vergangenen Jahren angemahnt haben, findet ein Prozess der Landkonzentration statt, wie es ihn seit etlichen Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Dutzendfach sehen sich Kleingrundbesitzer im Angesicht der zerstörerischen neoliberalen Modelle gezwungen, ihre Grundstücke unter Wucherbedingungen zu extrem niedrigen Preisen zu verkaufen. Die großen Gesellschaften können so zu extrem niedrigen Preisen Land ergattern, natürlich mit Blick auf eine konkrete Transformation des Territoriums, die seit einigen Jahren hier im Gang ist.
RBO: Neben der Extremausbeutung der immigrierten Arbeitskraft einschließlich der von Kindern und Jugendlichen befinden wir uns also im Angesicht von einer Konzentration des Landbesitzes, wodurch der Versuch, den traditionellen Großgrundbesitz aufzubrechen in das Gegenteil umgekehrt wird, so dass eine, wenn auch nicht mehr semi-feudal, sondern modern ausgerichtete Rückkehr zu einer auf Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Sklaverei ähnlichen Bedingungen basierenden, hypermechanisierten und hyperzentralisierten Landwirtschaft erfolgt.
Mazzeo: Das geht natürlich mit einem weiteren Phänomen einher, das in den Landgebieten auf Sizilien stärke Veränderungen der Verhältnisse nach sich zieht, weil es in den letzten Jahren auch Migrationsphänomene eingetreten sind, die Menschen betreffen, die ihren Grundbesitz verloren haben: Menschen, die es in den 2, 3 Jahrzehnten zuvor noch schafften, über den Anbau von Zitrusfrüchten und die Gewächshausproduktion ein Einkommen zu erzielen. Ein Fall, der mir auch deshalb, weil er mit Militarisierungsprozessen zusammenhängt, unmittelbar bekannt ist, ist sicher der von Niscemi, wo die Realisierung von dieser großen militärischen Systemanlage im Gang ist und in den letzten 12 bis 18 Monaten über 2000 Menschen gegangen sind, weil sie durch den Zusammenbruch der Artischockenpreise de facto vertrieben wurden. Niscemi ist eine der größten Artischockenproduktionsstätten im ganzen Land - vielleicht sogar die größte schlechthin. Der verheerende Einbruch der Artischockenpreise und die Tatsache, dass diejenigen, die inzwischen die Vermarktungssysteme kontrollieren und immense Reichtümer angehäuft haben die Regeln und die Preise festlegen, hat zur Expulsion der kleinen Grundbesitzer geführt, die nun - wie es schon einmal in den 50er Jahren geschah - Samstags in ein Bus steigen, mit dem sie nach Deutschland und Belgien reisen, um dort zu versuchen, in der Industrie oder im Handel Arbeit zu bekommen. Was hier geschieht, ist ein extrem komplexer Vorgang, der natürlich das Ergebnis von neoliberalen und globalen Entscheidungen ist, die sich in Afrika dann in den Migrationsschüben und auf Sizilien in der Aufgabe der Nischenproduktion und der Kopplung des Überlebens an die Intensivausbeutung zunächst von Migranten mit legalem Aufenthaltsstatus und heute von der noch schwächeren Gruppe der Minderjährigen niederschlagen, was gleichzeitig mit sozial wirkungsträchtigen Phänomenen wie dem Zusammenbruch der Produktion und die Hyperkonzentration von Grundbesitz einhergeht, die eine enorm hohe Verdrängung von kleinen Herstellern zur Folge hat, die wiederum auch dem Zwang erliegen, Migrationen in die EU zu versuchen.
RBO: Es geht also um sehr umfassende soziale Zerstörung. Eine Frage, die mir dazu spontan einfällt ergibt sich daraus, dass es im Angesicht von solchen Phänomenen ziemlich offensichtlich ist, dass die Interessen der Arbeiter, der Tagelöhner, die aus Afrika bzw. aus Kriegssituationen herkommen und sich dann in der Situation wiederfinden, dass sie ein Euro, ein Euro fünfzig pro Stunde bekommen und die Interessen der sizilianischen Kleinbauern, die ihrerseits zum Ausverkauf ihrer Grundstücke und dann selbst zur Emigration gezwungen sind, Schnittstellen der Übereinkunft finden können müssten. Findet so etwas statt, gibt es Anzeichen für die Herstellung von Fronten, die über die ethnischen Abgrenzungen und die Abgrenzungen durch Hautfarbe und durch die Kriege der Armen hinausgehen, oder sind derlei Signale überhaupt nicht in Sicht?
Mazzeo: Nun, ich bin diesbezüglich zutiefst pessimistisch. Ich bin pessimistisch, weil der Neoliberalismus zwischengegliederte Subjekte, die eine grundlegende Rolle in der politischen und in der Bewusstseinsbildung wie auch hinsichtlich der Kondivision von Zielsetzungen und Entwürfen diverser Subjekte gespielt haben de facto ausgelöscht hat. Das Verschwinden von Formen wie die Partei und die gewerkschaftliche Organisation, die im 19. Jahrhundert und in einem Teil des 20. in diesem Sinne ein Phänomen der sozialen und politischen Kultur darstellten, kann zu nichts Anderem führen, als zu Spaltungen und Kämpfen. Vor dem Hintergrund lässt sich, glaube ich, nachvollziehen, wie die Lega Nord in Süditalien inzwischen Fuß gefasst hat, auch auf Sizilien politische Erfolge verzeichnet und besonders bei Gruppen ohne Anschluss und im Subproletariat in den kleineren Städten praktisch nichts Anderes getan hat, als rassistische und xenophobe Impulse zu nähren, durch die es viel leichter fällt zu denken, dass es nicht an den Auswirkungen der Globalisierung und von wirtschaftlichen Entscheidungen liegt, die in Brüssel, in Washington und auf den großen Marktplätzen und Börsen gefällt werden, sondern an der migratorischen Präsenz aus Afrika, wenn es eine Krise der Produktion gibt. Darauf folgen xenophob geprägte Antworten, die an Umfang nur noch gewinnen können, wenn die sozialen Bewegungen nicht begreifen, dass uns auf dem Gebiet der demokratischen Gestaltung von Wegen eine epochale Destrukturierungsschlacht blüht. Aufgrund der geostrategischen Bedeutung ist Sizilien natürlich ein Vorposten von solchen Prozessen. Entweder, oder: wenn man nicht ernsthaft eingreift, riskieren wir, der Kolonialisierung durch die großen Wirtschaftsgruppen noch stärker unterworfen zu werden. Die Konsolidierung von deren Beziehungen zu den Territorien gelingt ihnen dann über die Xenophobie, den Rassismus und solche Phänomene wie die Lega Nord und die extreme Rechte.
RBO: Das scheint mir wirklich interessant zu sein, auch wenn mir der Gedanke kommt, dass vor dem Aufkommen Salvinis [die neue Frontgestalt der Lega Nord, d.Ü.] Beppe Grillo auf Sizilien Punkte machte. Eine hinsichtlich der Immigrationsfrage doppeldeutig ausgerichtete, populistische Welle hatte sich also schon einmal durchgesetzt. Die heutige Inkonsistenz der Grillo'schen Formation zieht hinsichtlich der populistischen Welle offensichtlich Substitutionsphänomene nach sich - besonders nach dem von Salvini durchgeführten Versuch einer Imagepolitur der Lega Nord nach dem Motto: "Wir haben es jetzt nicht mehr mit den Süditalienern". Abgesehen von der mageren Glaubwürdigkeit, scheint dieses Phänomen, auf das ich zuvor nicht gewettet hätte, vor dem Hintergrund der Performances des neuen Lega Nord Sekretärs und von dessen neuen Schulterschlüssen mit der extremen Rechten Hinweise auf eine stärkere Verankerung zu geben. Wenn auch ich Umfragen nicht sonderlich viel Vertrauen schenke, scheint es aber so zu sein, dass die Lega nach dem römischen Auftritt des neuen Sekretärs bei Meinungsumfragen zu den Wählerabsichten einen Sprung nach vorn in Höhe von 15 Prozentpunkten verzeichnen konnte, was Forza Italia und das alte System der Allianzen klar ins Abseits drängte, in dem - wie es bei der Lega auch schon in der Vergangenheit, um so mehr aber in der Gegenwart der Fall ist, eine Kraft zur Kandidatur präsentiert wurde, die wir nicht anders als rechtextrem bezeichnen können. Das stellt hinsichtlich der Selbstwahrnehmung der Leute und der Möglichkeiten, Bewegungen aufzubauen, ein besonders beunruhigendes Phänomen dar. In Bezug auf die Frage der Form der Partei im 19./20. Jahrhundert meine ich behaupten zu können, dass jene Form - wie könnte ich es sagen? - ziemlich...
Mazzeo: Aber ja, darum ging es gar nicht - ganz und gar nicht. Worauf ich anspielte war, dass es dieses Zwischensubjekt gab, das Organisation im Territorium zu erzeugen vermochte. Natürlich spielte ich nicht auf die Parteiform an, wie sie leider interpretiert wurde und mit den Verdrehungen, die sie erfahren hat. Das Problem ist, dass die neoliberal geführte Desartikulation mittlerweile zur faktischen Abwesenheit von Subjekten führt und der Bürger auf das populistische Modell Bezug nimmt. Hinsichtlich der Analyse stimme ich dir voll und ganz zu. Es ist aber etwas Neues hinzugekommen. Zwar stimmt es, dass es einen populistischer Erfolg gab - allerdings in der klassischen Form der Ablehnung der Artikulation. Hier liegt aber etwas Neues vor, das ist ganz deutlich spürbar. Ich glaube, dass die Tatsache dass sich die Lega, die noch vor einem Jahr unterhalb von 3 bis 5 Prozentpunkten rangierte, heute konkret als Kraft präsentieren kann damit zusammenhängt, dass es letztlich allen gelegen kam. Es kam den führenden Klassen des Landes, den Finanzunternehmen etc. gelegen, die Aufmerksamkeit umzulenken. Die extrem übersteigerte mediale Allgegenwärtigkeit Salvinis ist kein Zufall. Sie hat dazu gedient, ihn Dinge sagen zu lassen, die den Vorstellungen der in Italien vorherrschenden Bourgeoisie nach gesagt werden sollten. Es ging darum, die Aufmerksamkeit umzulenken und die Migrationen als alleinige Ursache der strukturellen Wirtschaftskrise zu kriminalisieren. Aus meiner Sicht wurde da ganze Arbeit geleistet. Auf Sizilien wird uns das deutlich, wenn wir zusätzlich zum besagten Problem die über alle Maße gigantische Kampagne betrachten, die anhand der Gleichung ISIS = Migrant tagein, dort tagaus ihre Runden macht. Dieser zufolge stiehlt dir der Migrant nicht bloß die Arbeit; nicht nur destrukturiert der Migrant die Gesellschaft, nicht nur begeht er Anschläge auf deine kulturellen Werte: heute wird der Migrant direkt zum Inbegriff desjenigen gemacht, der dich zu Hause aufsucht, um dir den Kopf abzuschlagen. Dazu ist eine mediale Operation im 360 Grad Winkel im Gang, die zwar alle Niveaulosigkeiten, wie die Lega Nord sie zu bringen pflegt beinhaltet, funktional aber einem Prozess zuträglich sind, der bezweckt, die Aufmerksamkeit umzulenken und auch die Polizeikontrollen in unserem Land zu verstärken. Was heute los ist, ist dass wir keine 5000 Leute finden, die wir Gegen den IS nach Libyen schicken könnten, aber an sensiblen Orten in unserem Land 4800 Militärs zur Verstärkung von Präsidien abgestellt haben, die nicht den IS im Auge haben, sonden auf die Einschränkung von demokratischen Handlungsmöglichkeiten, von sozialen Kämpfen und von Bewegungen abzielen. Das ist aus meiner Sicht die andere zerstörerische Auswirkung, die im Begriff ist, aus dem besagten Modell hervorzugehen. Das Ganze macht, bei völliger Abwesenheit antagonistischen Denkens, am Ende die extreme Rechte, Salvini und die herrschende und mafiöse Bourgeoisie dieses Landes fett.
RBO: In dieser Hinsicht kann ich dir nur zustimmen. Von diesen 4800 Militärs waren 3000 über das Gesetzespaket Maroni schon seit 2009 aktiv. Wir fanden sie bei den Mülldeponien vor, gegen die von den Leuten in Kampanien protestiert wurde. Es waren 200 und der Auftrag wurde wiederbestätigt und vielmehr noch erweitert. Wir finden sie im Susa Tal bei der Überwachung der befestigten Baustelle in La Maddalena vor, wir finden sie in den Identifikations- und Abschiebezentren und in den Straßen von einigen Stadtteilen in großen Städten wie Turin. Wir werden während der Expo Mailand auf sie stoßen, wo ausgerechnet am Tag der Arbeiter am 1. Mai die Ära des "Es wird gearbeitet und das auch umsonst" eingeläutet werden soll. Ich denke, dass es hier sogar von der Symbolik her um einen Angriff auf das Herz dessen geht, was dereinst die Selbstvertretung der Arbeiter darstellte. In dieser Hinsicht glaube ich, dass bezüglich der abhanden gekommenen Zwischensubjekte mit Sicherheit die Staatsgewerkschaften besonders hervorgehoben werden müssen. Man bedenke die Verstaatlichung von CGIL, CISL und UIl und deren faktische Teilwerdung des Konsensapparates der Regierungen, die so weitreichend ist, dass einer wie Renzi, der ein ausgewiesener Zyniker ist, sie als vollkommen unwesentlich ansieht und sich über sie lustig macht, was nach dem Motto: "Ihr habt ja gar nichts mehr, was ihr kontrollieren könntet. Warum sollte ich euch an den Mediationstischen legitimieren bzw. euch irgendeine Bedeutung beimessen?" der Renzi-Camusso [Ministerpräsident vs. CGIL –Generalsekretärin, d. Ü.] Auseinandersetzung zugrunde liegt. Nicht von ungefähr richtete sich der einzige von der CGIL ausgerichtete Arbeitskampf gegen die weitere Kürzung von Staatsgeldern für die Gewerkschaft, weil man so hoffte, weitere, längst mit dem Haushaltsgesetz angekündigte Einschnitte bei der Finanzierung über die Auflösung der Arbeitnehmerbeihilfeeinrichtungen abwenden zu können. Ich glaube, dass es über eine Situation Bände spricht, die sehr schwierig wird, wenn es nicht gelingt, zu Formen der Selbtorganisation und der Autorepräsentanz zurückzufinden. Offenbar fahren wir weiter damit fort, solche Phänomene als etwas außerordentliches ein zu betrachten, womit ich auf das eigentliche Thema unseres Gesprächs zurückkomme, also auf den Einsatz von Kindern und Jugendlichen bei der Arbeit in der Landwirtschaft unter Bedingungen, die der Knechtschaft nahe kommen. Weit entfernt davon, eine Ausnahme darzustellen, laufen diese Phänomene Gefahr, zur Norm zu werden. Das stellt meiner Meinung nach ein Reflexionselement dar, der auf den Tisch gehört. Dabei sollte im Übrigen auch etwas wiederaufgegriffen werden, worauf du vorhin schon hingewiesen hast, nämlich die Gleichsetzung des Immigrierten mit dem Jihadisten. Selbst Publizisten, die über jeden Verdacht erhaben sind, Sympathie für die Lega Nord zu hegen oder grobschlächtige Analysen zu verfassen bezeichnen - wie es heute besonders Antonio Stella in seinem Editorial für den Corriere della Sera tat - die Präsenz bzw. das Image der Jihadisten als Problem, weil diese 'anständigen' Migranten irgendwie die Chance auf Bürgerschaft erschweren würden. Anschließend weist er auf eine tabellarische Auflistung von Wertebekenntnissen hin, die man einem italienischen Staatsbürger gar nicht abverlangt, von einem Immigrierten aber regelrecht eingefordert werden. Von diesen gesammelten, abstrakten Werten werden dabei so viele ganz besonders im Kontext der Einwanderung umfangreich missachtet. Hier schließt sich auch in Bezug auf die sogenannte bürgerlich-demokratische öffentliche Meinung, zu der auch Stella gezählt werden muss, die in Bezug auf die Arroganz der Lega Nord und der Faschistenpropaganda zum Thema Migration eine defensiv ausgerichtete Rolle einnimmt, ein Kreis. Wie siehst du das?
Mazzeo: Ich sehe es genauso. Es liegt ein Problem der kulturellen Verrohung vor - auch unter den wenigen Gestalten der Intellektualität, die es in den letzten Jahren vermochten, sich ein Quäntchen Autonomie zu bewahren. Ich erlebe es jeden Tag. Immer noch verwenden wir im Angesicht von Tragödien, die in einer einzigen Verantwortlichkeit liegen, Europapolitiken heißen und das Bekriegen von Migrationen bedeuten, die gleichen Formeln. Von rechts, von links und von der Mitte lautet die einzige Antwort, die auf diese Tragödien gegeben wird "Mare Nostrum". Ich finde, das liefert den konkreten Beweis für den Verlust an politischer und kultureller Identität sowie an selbständigen Denkweisen. Die Tatsache selbst, dass man eine militärische Operation legitimiert, die das, was die Rettung aus Seenot sein sollte, an Streitkräfte delegiert und dabei vergisst, dass die Rettung aus Seenot für jedwede Schiffseinheit, ob ziviler oder militärischer Art, eine Pflicht darstellt. Das Mittelmeer im 21. Jahrhundert "Mare Nostrum" [Unser Meer, d. Ü.] zu nennen und damit ein "lateinisches" Eigentumsverhältnis zu behaupten, wo das Mittelmeer das gemeinschaftliche Wasserbecken darstellt, in das sich die Kulturen, die Geschichten und die Identitäten von Millionen von Menschen spiegeln, diesen Besitzanspruch so zu behaupten, dass man gezwungen ist, ihn mithilfe von Streitkräften, Flugzeugträgern, Raketenwerfern, unbemannten Flugzeugen zu verteidigen: das ist die Operation "Mare Nostrum" gewesen. Dass die Operation stattgefunden hat, wie Salvini es sagt - womit ich, ganz provokatorisch, sogar einverstanden bin - das stimmt. Sie war aber anders gedacht. "Mare Nostrum" sollte ein Versuch sein, die Grenzen weiter nach Süden zu verschieben, um mit Schiffseinheiten, mit großen Landungszentren, mit U-Booten und unbemannten Flugzeugen, die Abreise der Leute zu verhindern. Das hat sich nicht umsetzen lassen, da der Migrationsdruck extrem stark ist und in Nordafrika jedwede staatliche Organisation ganz reell extrem krisenbehaftet ist und sie sich faktisch mit diesem Klotz am Bein wiedergefunden haben. Ich glaube, dass die große Niederlage in der Tatsache liegt, dass es nicht gelingt, anders zu denken, dass in der Linken nicht für jedweden Bürger auf Erden dessen Recht behauptet wird, sich frei wo auch immer er will sich hinzubewegen und frei zu wählen, wo er seine eigene Geschichte, seine Beziehungen, seine Familie und so weiter gestalten will. Hierin liegt meiner Meinung nach die große politische und kulturelle Niederlage. Solange die Linke es nicht fertig bringt, anders zu denken und allen Schwestern und Brüdern, die auch am anderen Ufer des Mittelmeers leben Subjektivität zuzugestehen, ist natürlich klar, dass xenophobe und rassistische politische Positionen vor dem Hintergrund einer strukturellen und wirtschaftlichen Krisensituation die Migranten benutzen, um sie als die Ursache zu benennen und den Kampf gegen die Migrationen als die einzige mögliche Antwort auf die von den Banken, den großen Finanzgruppen etc. gewollte Strukturkrise zu legitimieren. Hierbei handelt es sich meiner Meinung nach um etwas Grundlegendes: weiter strukturieren, um weiter Räume wegzunehmen. Gestatte mir, Sayad - einen großen Anthropologen und Soziologen - zu zitieren: "Was wir heute erleben, wird sich zwangsläufig in unserem Land widerspiegeln". Ich möchte alle daran erinnern, dass es sich beim Einsatz von Identifikationszentren und der CARA, der Aufnahmezentren für Asylbewerber, die regelrechte Lager und obendrein kriminogene Orte sind, weil sie über das Geschäft mit den Migranten [unverständlich] von Reichtümern erlauben um die Anwendung von Modellen der sozialen Kontrolle, der Delegitimation von Identitäten handelt. Heute sind es Orte, die an den Migranten erprobt werden. Diese Modelle sind aber längst für die Erprobung an Leuten mit italienischem Pass bzw. mit italienischer Staatsangehörigkeit reif. Angesichts von dieser Tatsache glaube ich, dass die internationalistische Solidarität wirklich aufgefordert ist, die Fähigkeit aufzubringen zu begreifen, dass solche Modelle, wie sie heute gegen die Migranten erprobt werden, in Zukunft aber auch gegen uns Verwendung finden werden - auch, um uns Möglichketen der Dispersion und Freiheit zu nehmen.
RBO: Für deine äußerst präzise Analyse danke ich dir wirklich sehr, auch weil sie uns auf diese Art von Neuauflage des Feindstrafrechts verweist, der - genau wie es heute mit den Identifikationszentren und den CARA der Fall ist - im Deutschland der 30er Jahre in der administrativen Verwahrung zum Ausdruck kam. Dinge, die es schon gegeben hat, können sich, natürlich in unterschiedlichen Formen und Modi, durchaus wieder ereignen. Hierzu sollte man die Augen weit offen halten, um nicht sagen zu müssen, dass man von nichts gewusst hatte. Wir sind alle dabei, wir sehen alle zu, wir alle sind in der Lage, zu öffnen. Wir hoffen, dass wir mit dieser Informationssendung einen Beitrag in solchem Sinne leisten konnten. Danke, Antonio, bis zum nächsten Mal!
Mazzeo: Ich danke euch und ich wünsche euch gute Arbeit!
Quelle: http://radioblackout.org/2015/03/sicilia-piccoli-schiavi/