Flüchtlingsdrama im Mittelmeer – Eine Bankrotterklärung Afrikas
David Signer 27.2.2015, 15:47 Uhr
Der eigentliche Skandal hinter dem Flüchtlingsdrama vor Lampedusa ist nicht die «Abschottung Europas», sondern die Gleichgültigkeit der afrikanischen Regierungen gegenüber dem Exodus. Ein Kommentar von David Signer
Angesichts der vielen Flüchtlinge, die versuchen, über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen, und angesichts der unzähligen, die dabei ums Leben kommen, ist oft vom Versagen und von der Schuld Europas die Rede. Mit moralischem Unterton wird von der «Festung Europa» gesprochen, den hohen Zäunen in Marokko, der Hartherzigkeit der Behörden, die Flüchtlinge auf offener See ertrinken lassen, den profitgierigen Schleppern, den rigiden Migrationsgesetzen und einer Asylpraxis, die den Fremden wenig Perspektiven lasse. All dies ist bedenkenswert. Aber seltsam ist, dass in all diesen Diskussionen die Hauptschuldigen der ganzen Misere kaum je an den Pranger gestellt werden: die afrikanischen Regierungen.
Die Bootsflüchtlinge und der «Boom»
Wie kaputt muss ein Land sein, dass junge Leute es massenhaft verlassen und sich auf solche Kamikaze-Missionen einlassen? Wohlgemerkt kommen viele der afrikanischen Flüchtlinge nicht aus Bürgerkriegsländern und sind auch nicht vom Hungertod bedroht. Oft gehören sie dem unteren Mittelstand an. Aber sie sind offenbar so ohne Hoffnung, dass sie lieber ihr Leben riskieren, als auszuharren. Jeder normale Staatschef müsste verzweifeln über so einen Exodus. Hat man je eine afrikanische Regierung Alarm schlagen hören? Ist die Afrikanische Union je zu einem Sondergipfel zusammengetreten, um sich zu fragen: Was machen wir falsch? Nein. Wenn die Mächtigen in Afrika das Thema überhaupt anschneiden, dann, um Europa für seine «Abschottung» zu kritisieren. Möglicherweise ist ja manche Regierung insgeheim froh, wenn die ambitionierten, aber frustrierten Jungen dem Land den Rücken kehren. Sonst würden diese vielleicht zu Hause auf die Barrikaden steigen. So kann die Arbeitslosigkeit exportiert werden, und die Emigrierten unterstützen die Wirtschaft und indirekt das Regime, indem sie Geld nach Hause schicken, zum Beispiel ins repressive Eritrea.
Seltsamerweise erscheinen am Laufmeter Bücher wie «Der Afrika-Boom» oder «Afrika ist das neue Asien», und zugleich riskieren Tausende ihr Leben, um diesem boomenden Kontinent zu entkommen. Diese Desperados sind nicht naiv. Befragungen zeigen, dass sie mehrheitlich über die Risiken Bescheid wissen. Migration ist ein Prozess, der sich selber verstärkt. Emigranten ziehen weitere Emigranten nach. Es gibt Länder mit einer Migrationstradition, und es ist doch anzunehmen, dass sich dort die Wahrheit über Europa früher oder später herumspricht. Aber offenbar ist der Leidensdruck grösser. Es ist vor allem der Mangel an Perspektiven und Hoffnungen, der die jungen Ausbrecher deprimiert. Sie nehmen enorme Strapazen auf sich und riskieren ihr Leben, wenn sie nur ein winziges Versprechen am Horizont sehen. Die jungen Afrikaner leben nicht sorglos im Hier und Jetzt, wie es das Klischee will. Auch sie wollen sich entfalten und vorwärtskommen. Aber alles bremst sie: Die Schulen und Universitäten sind marod, der öffentliche Verkehr, die ärztliche Versorgung, die Verwaltung sind ein Desaster, Arbeitsplätze kriegt man nur durch Beziehungen oder Schmiergeld, verdient man endlich etwas, muss man es verteilen, auch Heiraten kann man nur mit Geld, und überall herrschen Traditionalismus, Konformismus, Sexismus, Autoritarismus, Aberglauben. Trotz beeindruckenden Wachstumszahlen vieler afrikanischer Länder haben sich die Lebensbedingungen der meisten Bewohner nicht verbessert, aber die meisten Regierungen kümmert das kaum. Das ist der eigentliche Skandal am Flüchtlingsdrama vor Lampedusa.
Das armregierte Afrika
Heute wagen mehr Flüchtlinge die Fahrt über das Mittelmeer als vor einem Jahr, als die Schiffbrüchigen dank der Aktion «Mare Nostrum» auch auf hoher See gerettet wurden. So zynisch es klingt: Man kann Flüchtlinge im Meer ertrinken lassen, Schlepper verhaften, zehn Meter hohe Zäune errichten, Migranten schon in der Sahara stoppen und in Auffanglager stecken, ihnen in Europa Arbeitsrecht und Sozialunterstützung verweigern oder auch nicht – das System von Abschreckung oder Anreiz versagt. Solange sich die Verhältnisse in den Herkunftsländern nicht grundlegend ändern, reisst der Zustrom nicht ab. Die Verwandtschaft wird weiterhin die Ersparnisse zusammenkratzen und denjenigen losschicken, der es am ehesten schaffen könnte. Afrika hat die grösste Migrationsrate der Welt. Schätzungsweise 35 Millionen Afrikaner leben ausserhalb ihres Heimatlandes. Und diese mobilen Millionen gehören eher zum dynamischen, mutigen Teil der Bevölkerung. Eine eigenartige Selektion: Die Tüchtigsten verlassen das Schiff als Erste. Ein Braindrain par excellence. In Grossbritannien arbeiten mehr ghanesische Ärzte und Krankenpflegerinnen als in Ghana selbst. In den letzten zwanzig Jahren hat das subsaharische Afrika ein Drittel seiner– sowieso schon wenigen – Wissenschafter verloren. Sie ziehen es vor, im Ausland zu leben. Die Regierung hat es nicht geschafft oder gar nicht erst versucht, sie im Lande zu behalten. Dafür ersetzt Europa dann diese Fachleute durch eigene «Entwicklungsexperten», übernimmt all die Aufgaben, für die eigentlich das Land selber zuständig wäre (schulische, sanitäre, medizinische Versorgung), und hält die korrupten Regime durch «Entwicklungsgelder» am Leben.
Man sage nicht, Afrika sei eben arm. Länder wie Nigeria oder Kongo-Kinshasa, aus denen viele Flüchtlinge kommen, verfügen über immense Reichtümer. Bloss sieht die Mehrheit der Bevölkerung nichts davon. Sowohl Präsident Goodluck Jonathan als auch Joseph Kabila sind vollauf damit beschäftigt, sich durch allerlei Tricks den nächsten Wahlsieg zu sichern. Für Probleme wie Boko Haram oder die jahrzehntelange Misere der Bevölkerung in Ostkongo bleibt dabei keine Zeit. Dafür ist das Ausland zuständig. Nein, Afrika ist nicht arm. Das Geld ist lediglich extrem ungerecht verteilt. Und diejenigen, die es haben, verschleudern es, anstatt im Land zu investieren, und verscheuchen noch diejenigen, die fähig und bereit wären, etwas für den Aufbau zu tun. Um es mit dem Titel eines Buches von Volker Seitz zu sagen: «Afrika wird armregiert». Hinzu kommen die falschen Anreize, verkörpert von einer egoistischen, inkompetenten Elite: Zu Geld und Einfluss kommt man im subsaharischen Afrika im Allgemeinen nicht durch Bildung, Arbeit, Fleiss und Fairness. «Trop bon, trop con», sagt man über solche Naivlinge: «zu gut, zu blöd». Gibt es im Land keine Möglichkeit, mit der eigenen Energie etwas Sinnvolles anzufangen, überstrahlt eben die Versuchung der Emigration alles. Jeder Europäer würde in dieser Situation sein Glück auch woanders suchen.