Exodus der Hoffnungslosen: Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit geben Zehntausende Kosovaren auf. Ganze Trecks ziehen ins EU-Land Ungarn - und weiter nach Norden.
Von Thomas Roser und Norbert Mappes-Niediek
Ásotthalom. Kinder wimmern, Frauen jammern, Männer fluchen. Schneeregen peitscht übers Schilf. Dutzende Menschen waten durch knietiefes Wasser, wenige Schritte sind es noch von Serbien nach Ungarn.
"Freiheit", jubiliert ein Mann, als er südlich der Gemeinde Ásotthalom
die Böschung des halb ausgetrockneten Grenzkanals erklimmt. "Ist das
Ungarn?", vergewissert sich ein fröstelnder Vater. Wohin will er? Der
Mann zuckt mit den Schultern: "Deutschland, Österreich, Frankreich,
ganz egal, Hauptsache weg: Im Kosovo ist es kein Leben mehr."
Es ist ein langer Weg vom Kosovo hierher. Mit drei Kindern und seiner
Frau hatte sich der Kosovo-Albaner von der Hauptstadt Pristina aus in
einem überfüllten Bus in die serbische Stadt Subotica aufgemacht. 200
Euro pro Person haben Schlepper verlangt, um die Familie von dort zur
nur wenige Kilometer entfernten Grenze zu bringen. Die letzten Meter
durch den versumpften Grenzkanal müssen die Flüchtlinge allein gehen.
Auf Hindernisse stoßen sie an der erstaunlich durchlässigen
Schengen-Grenze der EU kaum. Erst wenn sie angekommen sind.
Familien mit großen Taschen kauern auf verschneitem Feld,
Grenzpolizisten durchstreifen die Reihen. An einem einzigen Tag hat die
ungarische Polizei 1022 Grenzgänger aufgegriffen, darunter 991
Kosovo-Albaner. Täglich verlassen zehn Reisebusse mit Auswanderern den
Busbahnhof in Pristina. Im Kosovo und in Serbien ist von einem
"Massenexodus" die Rede.
Schätzungen zufolge haben sich binnen drei Monaten 40000 bis 50000
Kosovo-Albaner abgesetzt, davon 35000 in den letzten 45 Tagen. Seit
Jahresbeginn haben nach Angaben der ungarischen Behörden über 20000
"Illegale" die grüne Grenze überquert. Der Kosovo ist das einzige Land
des Westbalkans, dessen Bürger noch Visa für ein Schengen-Land brauchen.
Rund 60000 Kosovaren haben deshalb Serbiens Innenministerium zufolge in
den letzten Wochen den serbischen Pass beantragt, der visumfreie
Einreise in die EU erlaubt.
Ob legale oder illegale Grenzgänger: Hält der Aderlass an, könnte der
nur 1,8 Millionen Menschen zählende junge Staat in wenigen Monaten ein
Zehntel seines Volkes verloren haben. Die Hauptzielländer sind
Deutschland, die Schweiz und Österreich.
Die deutsche Botschaft Pristina schlägt bereits Alarm. In einem Brief an
das Auswärtige Amt, aus dem die "Bild am Sonntag" zitiert, heißt es:
"Hält der Trend an, dürften monatlich etwa 25000 bis 30000 Kosovaren das
Land verlassen." Nötig sei eine "Hauruckaktion des Bundes und der
Länder", denn "erst wenn eine größere Anzahl von Kosovaren medienwirksam
per Sammel-Charterflieger zurückkehrt", spreche sich herum, "dass sich
illegale Einwanderung nach Deutschland nicht rechnet", zitiert "BamS"
aus dem Schreiben. Es seien längst nicht mehr allein ethnische
Minderheiten, die auf die Flucht gehen, sondern auch die Mittelschicht.
Mit kleinen Rucksäcken wie für einen Schulausflug bepackt ziehen
Kolonnen meist junger Menschen über die Waldwege des Grenzortes
Ásotthalom. Manche Paare halten sich an den Händen, andere tragen Kinder
im Arm. "Wo ist die Polizei?", fragt ungeduldig ein Brillenträger. Er
will sein Asylgesuch loswerden. Er flüchtet, wie alle, vor der
desaströsen Wirtschaftslage.
Vier Jugendliche aus der Weinbauhochburg Rahovec scheinen den Marsch ins
Ungewisse ohne Gepäck zu wagen. "Alle gehen", sagt ihr rotbäckiger
Wortführer. "Im Kosovo gibt es keine Arbeit, nur Armut, sonst nichts."
Im Rathaus von Ásotthalom seufzt der Bürgermeister, László Toroczkai,
laut auf: "Niemand schützt die Schengen-Grenze hier", schimpft er. Seine
Polizei bestehe aus zwei Beamten und drei Feldwächtern. Den Schutz des
20 Kilometer langen Grenzabschnitts könnten die kaum übernehmen: "Jeder
kann hier rüberkommen. Erst kamen täglich Hunderte, nun über 1000. Zu 80
bis 90 Prozent sind es Kosovaren."
Jetzt will er einen Grenzzaun, wie es ihn zwischen Bulgarien und der
Türkei gibt. Als Ungarns nächstgelegene Gemeinde zu Serbiens
Schlepperhochburg Subotica sei Ásotthalom besonders betroffen, nicht nur
wegen der Feuer und Müllberge im Wald sei man nervös, sagt der
Bürgermeister von der nationalistischen Jobbik-Partei. Die Hälfte der
4000 Bürger wohne in einsamen Höfen in Waldnähe: "Die Leute haben Angst,
wenn Fremde über ihre Böden ziehen oder an die Häuser kommen. Wir
können kaum schlafen, weil die Hunde immer bellen."
Unbegreiflich sei ihm, dass Eltern mit Kindern nicht wenigstens auf den
Frühling warten könnten: "In der Kälte sind schon Babys gestorben. Wenn
Leute vor dem Krieg in Syrien flüchten, ist das verständlich. Aber im
Kosovo ist kein Krieg. Niemand zwingt sie auszuwandern." Nur die Not.
Sechs Jahre nach der umjubelten Unabhängigkeitserklärung des Kosovos von
Serbien hat die Mehrheit der Kosovaren offenbar jede Hoffnung auf ein
besseres Leben verlassen. Befürchtete ethnische Konflikte blieben aus,
doch am tristen Alltag änderte sich wenig. Die Arbeitslosenrate liegt
bei 45, die Jugendarbeitslosigkeit bei 75 Prozent. Nach Berechnungen der
Hilfsorganisation Mutter Teresa leben 18 Prozent mit einem Einkommen
von weniger als 90 Cent pro Tag in extremer Armut; weitere 28 Prozent
leben von weniger als 1,40Euro. Die meisten Familien hängen am Geldtropf
emigrierter Verwandter.
Vor sieben Jahren sei die Hoffnung groß gewesen, "nun ist sie bei null",
erzählt an der Grenzböschung ein Emigrant: "Schon seit sie ihr neues
Parlament bauten, ging's bergab. In unserer Regierung sind alles
Kriminelle, denen unser Leben egal ist." Wie im Kosovo-Krieg vor 15
Jahren wolle er Asyl in Deutschland beantragen: "Ich spreche Deutsch und
will dort einfach Arbeit finden. Ich habe ohnehin nichts zu verlieren."
Die deutsche Politik sucht schnelle Antworten
Wie kommen die Flüchtlinge aus dem Kosovo in Deutschland an?
Die meisten kommen in Bussen oder kleinen Taxis - manche aber auch mit dem Zug. Am Wochenende etwa wurden 61 kosovarische Staatsangehörige in einem Zug aus Ungarn von der Bundespolizei Rosenheim aufgegriffen. Da sie keine Visa besaßen, nahm die Polizei sie vorläufig fest.
Wie viele Flüchtlinge aus dem Kosovo kommen nach Deutschland?
Im Januar haben in Deutschland nach Angaben des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge 3034 Kosovaren erstmals einen Asylantrag
gestellt. Im Januar des Vorjahres waren es lediglich 451 - ein Anstieg
um 573 Prozent. Ähnlich stark steigt die Zahl der Anträge von Albanern.
Die meisten Asylsuchenden stammen allerdings weiterhin aus dem
Bürgerkriegsland Syrien: Deren Zahl lag im Januar bei 5530.
Wie groß sind ihre Chancen, in Deutschland bleiben zu dürfen?
Äußerst gering. Derzeit werden nur 0,3 Prozent der Kosovaren als Flüchtlinge anerkannt.
nWarum kommen sie dennoch?
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vermutet,
kosovarische Medien setzten gezielt Gerüchte in die Luft, "dass in
Deutschland das süße Leben winkt". Zudem schürten Schlepper falsche
Erwartungen. Dem widerspricht die Flüchtlingsberaterin Reinhild Foltin
von der Caritas in Braunschweig. Den meisten sei bewusst, dass sie nicht
dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen - doch die Situation in ihrer
Heimat sei schwierig. "Sie hoffen, zumindest im Winter in einem anderen
Land zu sein."
Wie lange dürfen die Flüchtlinge in Deutschland bleiben?
Bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens. 2014 dauerte es im Schnitt
viereinhalb Monate, bis das Bundesamt für Asyl und Migration über einen
Antrag entschieden hatte. Künftig soll das jedoch schneller gehen. Das
Bundesamt behandelt die kosovarischen Anträge nach eigenen Angaben jetzt
vorrangig. Bis zur Entscheidung sollen nun nur noch zwei Wochen
vergehen, Abschiebungen sollen binnen vier Wochen erfolgen können.
Wie reagiert die deutsche Politik?
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) will die Zahl der Flüchtlinge aus dem Kosovo begrenzen. Andernfalls stünden nicht genug Kapazitäten für Flüchtlinge aus dem Irak oder Syrien bereit. "Das kann nicht funktionieren und hat auch mit Asyl nichts mehr zu tun, bei allem Verständnis für die Beweggründe der Menschen", sagte Pistorius. Der bayerische Innenminister Herrmann fordert die Einstufung des Kosovo als sicheres Herkunftsland, ähnlich wie zuletzt im Fall von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. Damit könnten Asylanträge ohne Einzelfallprüfung abgelehnt werden.