+++ Am Donnerstag, den 20. November, wurde eine Genossin aus Villingen-Schwenningen vor dem Stuttgarter Amtsgericht angeklagt, der im Rahmen der revolutionären 1. Mai Demonstration vergangenen Jahres Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung vorgeworfen wurde. +++
Nach der Verlesung der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft, erklärte die Genossin, dass sie nicht beabsichtige, Angaben zur Sache zu machen und beschränkte sich auf eine knappe Angabe zu ihrer Person. Nach der Verlesung des Auszuges aus dem Bundeszentralregister musste die Verhandlung erst einmal für 20 Minuten unterbrochen werden, da noch keiner der, als Zeugen geladenen, Polizisten den Weg ins Stuttgarter Amtsgericht gefunden hatte.
Nach dieser nicht vorgesehenen Pause begann die Zeugenbefragung mit Herrn Stadtmüller – tätig bei der Kriminalpolizei Stuttgart – dessen dürftiges Informationsangebot zum Sachverhalt wohl kaum die Wartezeit wert gewesen wäre. Er konnte lediglich berichten, dass er am 1. Mai 2013 für die Auswertung der Beweisaufnahmen zuständig gewesen sei. Bei den Ermittlungen seien dann oben genannte Straftaten festgestellt worden. Auf Rückfragen der Verteidigung reagierte Herr Stadtmüller teils mit Unverständnis und so wurde er nach kurzer Zeit vom Richter wieder entlassen.
Als nächstes war der eigentliche Belastungszeuge, POM Schmidt, an der Reihe. Zunächst schilderte er den Vorgang, wie es zu den angeblichen Straftaten gekommen sein soll. Demnach wurde auf der Hauffstraße in Richtung Marienplatz ein Toptransparent entrollt, „Pyrotechnik“ entzündet und der komplette Demonstrationszug sei Parolen rufend Richtung Marienplatz gerannt. Noch bedrohlicher wurde diese Situation seiner Meinung nach durch den Umstand, dass sich dies alles auch noch auf einer „abschüssigen“ Straße abspielte. Nicht zuletzt deswegen habe sich die Polizei entschieden eine Polizeikette noch vor Erreichen des Marienplatzes zu errichten, um die Stimmung innerhalb des Demonstrationszuges beschwichtigen zu können. Doch die DemonstrationsteilnehmerInnen hätten der Polizei gegenüber ein aggressives Verhalten gezeigt und wären beleidigend geworden, so auch die „Angeklagte“ – deren Person er lediglich anhand ihrer Haarfarbe zu beschreiben vermochte. Zunächst seien die Worte „Arschloch“ und dann „Du Wichser!“ gefallen, woraufhin Herr Schmidt ebenso besonnen wie entschlossen reagierte und sich sofort die Verstärkung durch einen „BeSi“ – Beamten suchte. Dieser fackelte nicht lange und leitete sofort eine Filmaufnahme ein, wofür POM Schmidt das Fronttransparent versuchte herunter zu ziehen. Gestört wurde das dynamische Duo bei diesem perfekt einstudierten Manöver jedoch durch mehrere Faustschläge auf die Hand des Truppführers. Diese ordnete er der Angeklagten zu, worauf sich der Vorwurf der Körperverletzung schließlich stützte. Hier muss jedoch erwähnt werden, dass diese Schläge offenbar so raffiniert ausgeführt wurden, dass Herr Schmidt keine Verletzungen oder Schmerzen vorzuweisen hatte – daher auch nur versuchte Körperverletzung.
Warum er sich überhaupt dazu entschlossen hatte, eine Anzeige zu stellen, rechtfertigte er ungefragt folgendermaßen: „Grundsätzlich schlägt man einem Polizeibeamten nicht auf die Hand!“. Im weiteren Verlauf seiner Befragung verlor der Zeuge jedoch sein sicheres Auftreten, konnte seine Aussage schließlich nur noch mit „90 rozentiger“ Sicherheit bestätigen und verrannte sich in krude, nicht gerade hilfreiche Beispiele, um dies zu erläutern. Als der Verteidiger ihn dann auch noch damit konfrontierte, dass seine schriftlichen Vermerke – selbst im Wortlaut – zu 80% mit denen des anderen Belastungszeugen übereinstimmten, war es um die Glaubwürdigkeit des Zeugen endgültig geschehen. Denn obwohl er anfangs erklärte: „Wenn Sie darauf hinaus wollen, dass wir uns danach [nach der Versammlung] unsere Zeugen suchen – so läuft das nicht!“, musste er nach weiteren Nachfragen eingestehen, dass es durchaus zum Polizeialltag gehört solche Vermerke abzusprechen und anzugleichen, damit „es ein stimmiges Bild ergibt“.
Der Richter hatte angesichts solcher dumm – dreisten Ehrlichkeit sichtlich Mühe seine Fassung zu behalten und entließ den Zeugen nach einem kurzen Rüffel, um ihm nicht die Möglichkeit zu geben durch weiteres Gestammel seine eigene Anzeige noch weiter zu demontieren.
Als dritter Zeuge war PM Hauptmann geladen, der grob zusammengefasst von gar nichts wusste. Die Ausdrücke „Arschloch“ und „Wichser“ seien zwar zum Einsatz gekommen, völlig offen ließ er jedoch von wem. Ob die Stimmlage eher auf eine weibliche oder auf eine männliche Person passte, konnte er ebenso wenig beantworten wie die Frage, ob die Beleidigungen von einer oder mehreren Personen getätigt wurden. Die von ihm geschilderten Faustschläge auf POM Schmidts Hand konnten unmöglich von der Angeklagten ausgeführt worden sein, weshalb seine Befragung zum Sachverhalt relativ schnell abgeschlossen wurde.
Ein Hauch von Mysterium durchwehte den Gerichtssaal als PM Hauptmann mit aller ihm zur Verfügung stehenden Glaubwürdigkeit versicherte, er könne sich überhaupt nicht erklären, warum seine schriftliche Schilderung über mehrere Absätze den selben Wortlaut aufwies wie die seines Kollegen Schmidt. Auf Nachfragen des Richters und des Verteidigers, ob es denn möglich sei, dass einer der beiden Berichte eventuell von dem anderen abgeschrieben wurden, blieb er sturr und verneinte vehement den Sachverhalt, den sein Truppführer kurz zuvor bereits zumindest indirekt eingestanden hatte. In dieser Situation wurde der Richter zornig und fing an den Zeugen anzuschreien, besann sich jedoch recht schnell wieder darauf, dass es nicht die Aufgabe der deutschen Rechtsprechung ist, die Polizeipraxis zu hinterfragen. Dementsprechend wurde auch dieser Zeuge unvereidigt entlassen.
Im Anschluss an die theatralische Uraufführung des zornigen Richters folgte seinerseits die Feststellung, dass er bei den beiden angehörten Polizeibeamten keinen Belastungseifer feststellen konnte. Außerdem sei seiner Meinung nach vollkommen nachvollziehbar Polizeiberichte zu fälschen, Zitat: „... wenn man mal ehrlich ist, kann ich mir aus Gründen der Bequemlichkeit gut vorstellen, dass man eben auch mal solch einen Vermerk voneinander abschreibt.“
Um das politische Engagement der Angeklagten jedoch nicht ungestraft zu lassen, schlug er den Anwesenden eine Einigung vor. Die Vorwürfe der versuchten Körperverletzung und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte seien nicht zu halten für eine Verurteilung – wegen Beleidigung seien die Beweise – zwei ungültige Polizeivermerke, widersprüchliche Zeugenaussagen und ein Video auf dem keiner der Tatvorwürfe zu erkennen sind – jedoch durchaus ausreichend. Jedoch bot er der angeklagten Genossin in diesem Fall an, ihren Einspruch gegen den Strafbefehl zurückzuziehen, andernfalls würde er die Tagessätze ihren wirtschaftlichen Verhältnissen anpassen, und damit mehr als verdoppeln. Da der Richter seine Absicht zu einer Verurteilung also bereits offengelegt hatte, wurde dieses Angebot angenommen und die daraus resultierende Gesamtstrafe von 300 € akzeptiert.
Aus politischer Sicht ist der heutige Prozess erneut ein Schauspiel für den rigorosen Zusammenhalt von Justiz und Polizei geworden. Ein Richter, der sich zunächst über die Absprachen von Zeugen ärgert, gar ihnen gegenüber belehrend zu wirken versucht, dann durch eine 180 Grad Wendung seine Aussagen revidiert und klarstellt, dass er keinen Anlass für einen Freispruch sehe.
Um das heutige theatralische Vorspiel mit den Worten Kurt Tucholskys zu unterstreichen: „Ich habe nichts gegen die Klassenjustiz. Mir gefällt nur die Klasse nicht, die sie macht. Und dass sie noch so tut, als sei das Zeug Gerechtigkeit – das ist hart und bekämpfenswert“.
Getroffen hat es eine, gemeint sind wir alle!
Schafft Rote Hilfe!
AK Antirepression Villingen-Schwenningen