Kein Zurück mehr: ArbeiterInnen bei Amazon streikten die gesamte vergangene Woche an fünf Standorten des Onlinehändlers. // Zweiter Bericht aus Bad Hersfeld.
"Wir haben nichts gegen Amazon", sagt Martin Schierl in seiner gelben Streikweste der Gewerkschaft ver.di. "Wir wollen nur bessere Arbeitsbedingungen." Der 41jährige arbeitet beim Logistikzentrum im hessischen Bad Hersfeld. Vergangene Woche war er im Ausstand und agitierte fast rund um die Uhr, sowohl unter Streikenden als auch unter Nichtstreikenden.
Rund 2.000 Beschäftigte an fünf von neun Amazon-Standorten waren von Montag bis Freitag im Ausstand. ArbeiterInnen in Bad Hersfeld, Leipzig, Graben (Bayern), Rheinberg und Werne (beides NRW) stellten sich vor die Betriebstore. Am Mittwoch wurde der Streik an mehreren Standorten bis Sonnabend verlängert. Der Kampf für einen Tarifvertrag, der im Mai 2013 begonnen hat, erreichte so einen Höhepunkt.
In Bad Hersfeld, wo Amazon im Jahr 1998 seine erste deutsche Niederlassung eröffnete, demonstrierten die Beschäftigten durch die Altstadt. "Work hard. Have fun. Make history" ist das offizielle Motto des Onlinegiganten aus den USA. Dass die Arbeit hart ist, bestätigen alle Beschäftigten. Spaß haben die wenigsten dabei. Aber Geschichte wollen sie schreiben. Der gewerkschaftsfeindliche Konzern mit Sitz in Seattle soll an den Verhandlungstisch gezwungen werden.
Auch KollegInnen mit befristeten Verträgen waren dabei. Am Donnerstag kurz nach fünf Uhr wollten Marlene Wempe und David Berten (Namen geändert) durch das Werkstor. "Ich dachte, dass wir gar nicht streiken dürfen", erklärt Berten. Doch nach einem Gespräch mit ihren KollegInnen bei den Streikposten entschieden die beiden, draußen zu bleiben. Kurz danach haben sie die Eintrittsformulare für die Gewerkschaft unterschrieben, auch, um Streikgeld zu bekommen. Ihre Verträge laufen am 31. Dezember aus, sie wollten ihre KollegInnen unterstützen. Allerdings gibt es nach der Unterschrift nicht viel zu tun, bald fahren beide wieder nach Hause.
In Bad Hersfeld arbeiten Menschen aus Dutzenden Nationalitäten. Als Einstiegsgehalt verdienen sie 10,23 Euro pro Stunde – seit Beginn des Arbeitskampfes hat der Konzern die Löhne erhöht und 2013 erstmals Weihnachtsgeld gezahlt. Vielen Streikenden geht es nicht nur um die Löhne, sondern um die Sicherheit und die Anerkennung durch einen Tarifvertrag. Sie schätzen den Krankenstand in der Belegschaft auf 20 bis 30 Prozent. "Du kannst jeden bei Amazon fragen" sagt Gewerkschafter Schierl, "und sie werden dir sagen, dass sie Rückenprobleme haben."
"Werden Sie offizieller Partner vom Weihnachtsmann", heißt es auf einem Plakat – eine Werbung um SaisonarbeiterInnen. In diesen Tagen versucht Amazon, rund 10.000 zusätzliche Arbeitskräfte für das Weihnachtsgeschäft anzuheuern. Das angestrebte Image: Amazon macht Kinder glücklich – die Streikenden dagegen wollen den Feiertag ruinieren, ver.di sei ein richtiger "Grinch", wie ein Manager letztes Jahr erzählte. Als Antwort darauf reiste ein Kollege aus Bad Hersfeld zu den Streikenden im bayerischen Graben und zog sich eine Grinch-Maske an – das Foto ging durch alle Medien. "Wenn sie das Buch zu Ende gelesen hätten, würden sie wissen, dass der Grinch in Wirklichkeit Weihnachten rettet", so der 50jährige.
Die GewerkschafterInnen sind breit vernetzt. Schierl war vor einem halben Jahr im französischen Chalon, um den Streik dortiger KonzernmitarbeiterInnen zu unterstützen. Seitdem trägt er die rote Fahne der französischen Gewerkschaft CGT immer wie einen Schattenrock. Wiederum nach Bad Hersfeld gekommen sind AktivistInnen eines Solidaritätskomitees aus Kassel. "In jedem Streik steckt ein Traum" steht auf ihrem Transparent, darunter die gleiche Losung auf Französisch, weil sie ebenfalls in Frankreich dabei waren. Auch in anderen Städten gab es Unterstützung, in Leipzig haben Studierende vor dem Werk LKWs blockiert.
Die Streikenden sind auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt, auch im Weihnachtsgeschäft. "Es geht uns um unsere Ideale", sagt ein 20jähriger, dessen Vertrag sehr wahrscheinlich nicht für 2015 verlängert wird, der allerdings trotzdem den Streik unterstützt. Ein Liedermacher zitiert vor der Streikhalle Bertolt Brecht: "In Erwägung, es will euch nicht glücken, uns zu schaffen einen guten Lohn, übernehmen wir jetzt selber die Fabriken, in Erwägung, ohne euch reicht's für uns schon."
Amazon-Manager Armin Cossmann hatte die Gewerkschaft im März als "nicht mehr zeitgemäß" bezeichnet. Für den Arbeiter Schierl ist es genau andersherum: Die Belegschaft bekommt Obst, einen Fußballtisch im Pausenraum und ein kleines Weihnachtsgeld, um sie vom Arbeitskampf fernzuhalten. "Das sind Brot und Spiele", sagt er, "genauso wie im alten Rom".
von Wladek Flakin, Bad Hersfeld, Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO)
eine kürzere Version dieses Artikels erschien in der jungen Welt am 2.11.