// Am größten Amazon-Standort in Bad Hersfeld demonstrierten am Mittwoch Hunderte in der Innenstadt. Auch in München und Düsseldorf gingen Streikende auf die Straße. // Erster Bericht aus Bald Hersfeld // Der gelbe Turm steht noch im Dunkeln. Es ist Mittwoch, 5.30 Uhr, und Robert Merk* steht vor dem Eingang des großen Logistikzentrums im hessischen Bad Hersfeld. Der Onlinehändler Amazon wird diese Woche in ganz Deutschland bestreikt.
Vor der Riesenhalle in Bad Hersfeld – FRA3, wie es konzernintern heißt – stehen rund 20 Menschen mit den weiß-roten Fahnen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und verteilen Flyer. Dennoch gehen viele von der Frühschicht rein – es ist schon der dritte Streiktag in Folge und die KollegInnen wissen, worum es geht. "Habe ich schon", sagt ein Kollege zu Robert. "Was soll ich damit?", fragt der nächste, "es wird eh nicht besser." Ein dritter Beschäftigte grüßt freundlich und nimmt den Flyer: "Cool", sagt er – und geht trotzdem durch die Drehscheibe.
Seit anderthalb Jahren kämpfen die Beschäftigten der beiden Amazon-Zentren in Bad Hersfeld für einen Tarifvertrag. Mittlerweile sind fünf der neun Standorte am Arbeitskampf beteiligt – weitere sollen dem Vernehmen noch nach im Weihnachtsgeschäft dazu kommen.
Befristet, aber im Streik
Robert arbeitet seit Juli bei Amazon, aber sein Vertrag läuft am 31. Dezember aus. Wie etwa 20 Prozent der fast 4.000 Beschäftigten in Bad Hersfeld ist er befristet eingestellt. "Schon beim Einstellungsgespräch hieß es, ich solle mir nicht einbilden, dass ich verlängert werde", erinnert er sich. Den Job wird er in zwei Monaten nicht mehr haben. "Dann kann ich zumindest etwas für die KollegInnen tun, die noch hier bleiben." Deswegen steht er bei den Streikposten.
Den Job als "Picker", der die Waren aus den riesigen Lagern holt, bekam er über das Arbeitsamt in Fulda vermittelt. 100 Kilometer muss er jeden Tag hin und zurück fahren. "Anfangs war ich am Ende einer Schicht klinisch tot", sagt er. Jetzt, nach vier Monaten, ist er "nur noch müde".
Roberts letzter Job bei McDonalds war auch nicht einfach, aber dort gab es einen Tarifvertrag. Mit jedem Jahr im Betrieb bekam er eine Lohnsteigerung – bei Amazon dagegen hat man nach einem Jahr schon das Endgehalt. "Mit einem Tarifvertrag kann der Arbeitgeber kann nicht alles machen, was er will", sagt Robert, der zum ersten Mal in seinem Leben an einem Arbeitskampf teilnimmt.
Auf die Straße
Ab 8 Uhr versammeln sich 500 Streikende in einer alten Fabrikhalle im Stadtkern. Zum dritten Mal diese Woche sitzen sie auf den langen Bierbänken – ein Streik von Sonntag AbendSonntagabend bis Mittwoch hatte ver.di angekündigt. Von der Bühne fragt Christian Krähling, Ersatzmitglied des Betriebsrats: "Wer will morgen noch streiken?" Als Antwort bekommt er einen riesigen Jubel. "Und übermorgen?" Noch lauter wird applaudiert. "Dann hängen wir noch einen Tag ran, bis Samstag!" Diese Woche ist der bisherige Höhepunkt der Streiks – laut Gewerkschaftsangaben beteiligen sich 2000 ArbeiterInnen.
Der US-amerikanische Konzern zeigt sich noch unbeeindruckt. "Amazon sagt immer, dass die Kunden nichts merken, weil alle Waren trotz des Streiks pünktlich geliefert werden", erklärt Betriebsrätin Annett Kaub. "Das stimmt nur deshalb, weil sie in den Streikwochen die Lieferzeiten nach oben setzen." Ein Buch, das normalerweise in 24 Stunden geliefert wird, wird in mit zwei bis drei Tagen Lieferzeit angeboten.
"Vorwärts, und nicht vergessen", wird von der Bühne gesungen, als die Streikenden die Halle verlassen. Lautstark demonstrieren sie durch die mittelalterlichen Gassen der hessischen Kleinstadt. Sarah Meyer* hat ihren sechsjährigen Sohn mit einem roten ver.di-Halstuch ausgestattet, denn es sind Schulferien und eine Babysitterin kann sie sich nicht leisten. Vor dem Reporter ist das Kind etwas schüchtern, aber die Mutter erklärt: "Er will, dass seine Mama mehr Geld verdient, damit wir in Urlaub fliegen können." Daneben steht ein zweijähriger Junge, der mit einer Trillerpfeife spielt und "Tarifvertrag" mit ruft.
Bundesweite Proteste
Auch im bayerischen Graben wird bei Amazon gestreikt. Von dort aus sind 150 ArbeiterInnen zur Konzernzentrale im Norden Münchens gefahren. Direkt vor dem siebenstöckigen Gebäude dürften sie nicht protestieren, aber immerhin in Sichtweite. "Amazon verbreitet Lügen über uns, dass ver.di uns nur gekauft hätte", sagt ein Beschäftigter, der anonym bleiben wollte. "Dabei sind wir alle Amazon-Arbeiter." Sie betonen, dass die Gewerkschaft nicht gegen Amazon sei, sondern "Pro-Amazon", aber eben auch "Pro-Tarifvertrag".
Nach Düsseldorf waren nach ver.di- Angaben mehrere hundert Beschäftigte gefahren, um vor der E-Commerce- und Versandhandelsmesse Neocom zu protestieren. Dort war als hochkarätiger Redner der Amazon-Deutschland-Chef Ralf Kleber vor Ort. Vor die Tür, um sich seinen Beschäftigten zu stellen, kam er nicht.
In Bad Hersfeld kommen Solidaritätsbotschaften von den Gewerkschaften IG Metall und NGG. Auch Linksparteichef Bernd Riexinger, ist zur Unterstützung angereist. "Schluss mit der Befristerei", rief er den Streikenden zu. Er forderte "Löhne, mit denen man eine Zukunft planen kann, ohne Angst zu haben, dass man am nächsten Tag keine Arbeit hat." Durchhaltevermögen empfahl er und verwies auf die Einzelhandelsbeschäftigte in Stuttgart, die nach bis zu 104 Streiktagen ihren Tarifvertrag verteidigten.
Sein Parteikollege Jan Schalauske kritisierte, dass Amazon millionenschwere Subventionen von Bund und Ländern erhält, während es nur ein Prozent Steuern auf seine europäischen Gewinne bezahlt. "Leiharbeit und der Missbrauch von Werkverträgen gehören verboten", sagte er auf der Kundgebung.
Die Streikenden sind auf eine lange Auseinandersetzung vorbereitet, im Weihnachtsgeschäft und darüber hinaus. Ihnen geht es ums Prinzip, wie der "Packer" Niklas Hüttner erklärt: "Ein Tarifvertrag wäre ein Signal für die ganze Branche, zum Beispiel für die Kollegen bei Zalando." Aber auch für den gewerkschaftsfeindlichen Konzern geht es ums Prinzip.
* Name von der Redaktion geändert.
Solidarität von außen: Das Solibündnis Kassel
1185 Euro würden die Amazon-Beschäftigten als Weihnachtsgeld erhalten, würde der Konzern sie nach Tarifvertrag des Einzel- und Versandhandels bezahlen. Dieses Jahr bekommen sie nur 400 Euro, die der Onlinehändler freiwillig zahlt – und das kann sich jeden Tag ändern.
Deswegen hat ein Solidaritätsbündnis in Kassel, etwa eine Stunde von Bad Hersfeld entfernt, 1185 Unterschriften für den Streik gesammelt. Sie sammelten auf der Straße, an der Uni und auch in einem Volkswagen-Werk. Auf einer Betriebsversammlung bei Amazon wurde die Liste der Geschäftsleitung übergeben.
Erst im März dieses hat sich das Solibündnis gegründet, nach einer Filmvorführung auf der Universität. Menschen aus allen Altersgruppen machen mit, von Studierenden bis hin zu Rentnern. Regelmäßig sind AktivistInnen bei den Streiks dabei, auch bei den monatlichen Aktiventreffen. "In Kassel und Region wollen wir öffentlichkeitswirksame Aktionen für den Streiks organisieren", so eine Aktivistin. Sie haben schon Veranstaltungen mit Streikenden an der Universität durchgeführt.
Vom 14. bis zum 16. November treffen sich UnterstützerInnen des Streiks aus ganz Deutschland in Frankfurt, um bundesweite Solidaritätsarbeit zu diskutieren. "Immer mehr Menschen sind motiviert, betriebliche Auseinandersetzungen zu unterstützen", heißt es in der Einladung. Auf dem Seminar im DGB-Jugendhaus sollen die nächsten Aktionen geplant werden.
von Wladek Flakin, Bad Hersfeld, Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO)
eine kürzere Version dieses Artikels erschien im Neuen Deutschland am 30.10.