Shingal. Unsere Redaktion hat sich in der vergangenen Nacht ausführlich mit Kommandeuren der Widerstandseinheiten im Shingal-Gebirge und an der Pilgerstätte Sherfedîn bezüglich der gegenwärtigen Situation der Zivilisten als auch der Kämpfer ausgetauscht. Alle Ausführungen basieren auf Angaben der Kommandeure vor Ort.
Humanitäre Situation
Die Gesamtsituation ist den Angaben der Kommandeuren nach sowohl in humanitärer als auch in militärischer Hinsicht weiterhin sehr bedrohlich, vor allem aber sei der Gesundheitszustand vieler der rund 7.000 Zivilisten im Gebirge besorgniserregend. Nahrungsmittel- und Trinkwasservorräte neigen sich dem Ende zu, sodass man die Essensrationen senken musste. Täglich bekommen Erwachsene und Kinder nur noch ein dürftige Mahlzeit am Nachmittag. Über den gesamten Tag hinweg versucht man die Kinder dann zum Schlafen zu bewegen oder lässt sie solange schreien, bis sie ermüden und einschlafen. Für die Mütter an der Pilgerstätte sei es “kaum zu ertragen”, ihre Kinder vorsätzlich hungern zu lassen, um sie möglichst lange am Leben zu erhalten, erklärte einer der Kommandeure in ernstem Ton. Zudem gebe es für rund 400 Kleinstkinder keine Milch, wie auch Dr. Saad Babir gegenüber Al-Jazeera bestätigte. Dr. Babir hielt sich zusammen mit einem Team von Medizinern für zehn Tage im Gebirge auf, um die Zivilisten zu versorgen (Bericht von Al-Jazeera).
Sowohl im Gebirge als auch an der wenige Kilometer entfernten Pilgerstätte Sherfedîn, spitzt sich die Situation der erkrankten Zivilisten zu, da keine ausreichende medizinische Versorgung vorhanden ist. Gestern etwa verstarb ein älterer Mann unerwartet an der Pilgerstätte. Die Todesursache ist unbekannt, vermutet wird Herzversagen. Er klagte zuvor über starke Kopfschmerzen und fiel schließlich in Ohnmacht. Bestattet wurde er an der Pilgerstätte Sherfedîn.
Dr. Babir erklärte Al-Jazzera, dass es “dort [im Gebirge; Anm. d. Red.] keine Schuhe gibt. Sie haben keine Kleidung. Jeden Tag hatten wir bis zuletzt hunderte von Menschen, die unter verschiedensten Krankheiten litten – Bluthochdruck, Diabetes, Durchfall, Verletzungen und Kälte”. Kommandeure der Widerstandseinheiten bestätigten unserer Redaktion derartige Vorfälle. Besonders den Kindern, Frauen und älteren Menschen setze die Belagerung des IS zu. Hilfe kommt, wenn überhaupt, nur selten und per Helikopter. Gestern erreichten zwei Helikopter der Peshmerga das Gebirge, nur ein geringer Teil der Hilfsgüter gelangte jedoch zu den Zivilisten und reichte für weniger als einen Bruchteil aller betroffenen Menschen. Die humanitäre Situation sei “eine reine Katastrophe”, erklärte General Qasim Shesho. Die Zivilisten müssen evakuiert werden, dafür müsse es eine internationale Rettungsaktion geben. Die Helikopter, die sporadisch das Gebirge anfliegen, können nur wenige der Zivilisten evakuieren.
Im Gebirge sind die Zivilisten in der Nacht der Kälte ausgesetzt, nur wenige besitzen Zelte und es mangelt an winterfester Kleidung sowie ausreichend Decken. Während den Gefechten suchen die Menschen im Gebirge Schutz, viele der Kinder sind traumatisiert. Aufgrund der tagelangen Regenfälle, haben sich viele der Menschen Erkältungen und andere Krankheiten zugezogen. In einem Video ist die Situation der Flüchtlinge festgehalten worden:
Die Kommandeure fordern die kurdische und irakische Regierung sowie die internationale Staatengemeinschaft auf, eine Evakuierung der Zivilisten aus dem Shingal-Gebirge einzuleiten. Oberkommandant Heydar Shesho erklärte, dass die Widerstandskämpfer bereit sind, für den Schutz der Zivilisten zu sterben, diese müssten aber dringend versorgt und bestenfalls evakuiert werden.
Die Vereinten Nationen erklärten vor wenigen Tagen, dass die Verbrechen der IS-Terroristen gegen die Minderheit der Êzîden einen versuchten Völkermord darstellt. Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sprach in einem Bericht von “Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Über 5.000 Êzîden sind von der Terrormiliz seit dem Ansturm auf die Shingal-Region am 3. August getötet, bis zu 7.000 Frauen, Mädchen und Kinder entführt und über 400.000 Êzîden aus ihrer Heimat vertrieben worden. Das Schicksal hunderter männlicher Êzîden, die vom IS verschleppt wurden, ist zudem bis heute ungewiss.
Ernst bleibt auch die Situation der Flüchtlinge aller Minderheiten, die überwiegend in die südkurdischen Regionen geflüchtet sind. Regenfälle haben zu Überschwemmungen in den Flüchtlingslagern geführt und zahllose Zelte ruiniert. Christen, Schiiten, Shabak, Yarsan, Eziden, Sunniten sowie Flüchtlinge aus Syrien warten auf Hilfe, um den anstehenden Winter überstehen zu können.
Militärische Situation
Die Großoffensive der Terrormiliz Islamischer Staat begann am Montag dem 20. Oktober. Seit dem konnten sie nahezu alle restlichen, von Widerstandseinheiten kontrollierten, Dörfer einnehmen. Unter den Widerstandskämpfer befinden sich mehrere deutsche Staatsbürger, die mit Nachdruck erklärten, die deutsche Bundesregierung müsse sich ihrer Situation annehmen. Auch solle “in keinem Fall” Lösegeld gezahlt werden, sollten sie von den IS-Terroristen gefangengenommen werden. Man “sterbe lieber als dem IS noch mehr Geld zur Finanzierung seines Terrors zukommen zu lassen “, erklärte einer der Kämpfer während des Telefongesprächs. An der Pilgerstätte Sherfedîn tobten gestern stundenlange Gefechte, mit Mörsergranaten beschossen die IS-Terroristen die Widerstandskämpfer und Zivilisten, verfehlten aber glücklicherweise ihr Ziel. Die Angriffe wurden schließlich zurückgeschlagen, als die Verteidigungseinheit Shingals (HPŞ) das Feuer erwiderte und ein IS-Fahrzeug zerstörte. Die Insassen wurden getötet, weitere Terroristen verletzt.
Schwere Zusammenstöße mit IS-Terroristen erfolgten im Süden des Gebirges. Terrorverbände aus der nahe gelegenen Stadt Tel Afar sowie von der syrisch-irakischen Grenze, unterstützten die Terroristen bei dem Versuch, das Gebirge einzunehmen. Teilweise gelang es den Extremisten in das Gebirge vorzudringen und beschossen z.B. die Heiligenstätte Memê Reshan, wenige hundert Meter von den Zivilisten entfernt. Die Angriffe konnten von den Widerstandseinheiten der YBŞ und YPG abgewehrt werden, zahlreiche IS-Terroristen wurden dabei getötet (Gefechte vom 24. Oktober in der Übersicht).
Seit der erneuten Großoffensive des IS sind den Kommandeuren zufolge im Verlauf dutzender Gefechte bisher über 360 IS-Terroristen getötet und eine Vielzahl an bewaffneten Fahrzeugen zerstört worden. Auf Seiten der Widerstandseinheiten sind bis zu 60 Kämpfer gefallen. Unter ihnen der hochrangige Kommandeur Sheikh Kheri, ein Êzîdî mit deutscher Staatsangehörigkeit. Er kam am 22. Oktober bei dem Beschuss mit einer Mörsergranate ums Leben und wurde im Heiligtum Lalish beigesetzt. Die Einheit Sheikh Kheris gilt als eine der schlagkräftigsten, die vor allem in Sikeniye operiert.
Den Kämpfern fehlt es – nach wie vor – an schweren, panzerbrechenden Waffen, um die Terroristen zurückzudrängen. Die vergangenen Offensiven des IS haben gezeigt, dass sie den Widerstandskämpfer mit ihrer technisch hochgerüsteten Armee weit überlegen sind. Das Gebirge ist vollständig von der Terrormiliz belagert, alle Landwege sind blockiert. Verluste kompensieren die Terroristen mit neuen Einheiten aus umliegenden Regionen, die unter ihrer Kontrolle stehen.
Die Widerstandskämpfer im Gebirge sowie an der Pilgerstätte Sherfedin sind zum Schutz der Zivilisten gezwungen, lange Wachschichten am Tag und in der Nacht einzulegen, um auf mögliche Übergriffe schnell reagieren zu können. Der einzige Stromgenerator fällt immer wieder aus. Unterdessen rücken die IS-Terroristen der Pilgerstätte immer näher, der Abstand beträgt nunmehr weniger als zwei Kilometer.
Luftschläge sind gestern nicht erfolgt. Am Donnerstag griffen irakische Kampfhubschrauber IS-Einheiten am südlichen Gebirgshang an und fügten der Terrormiliz schwere Verluste zu (siehe Chronik vom 23. Oktober). Weitere Luftschläge der Koalitionsstreitkräfte erfolgten nahe der Stadt Shingal. Obwohl die Koordinaten für die vorrückenden IS-Terroristen nahe der Pilgerstätte Sherfedîn an die entsprechenden Kommandozentralen weitergeleitet wurden, erfolgten im Norden keine Luftschläge, trotz wolkenfreier Sicht. Der Vormarsch der IS-Terroristen, die mit gepanzerten Fahrzeugen der Pilgerstätte immer näher kommen, geht daher weiter. Sollte die Pilgerstätte fallen, so ein Kommandant, werden die Terroristen leicht ins Gebirge eindringen können.
Eine ernsthafte Intervention der kurdischen Peshmerga-Armee wird daher entschieden gefordert. Ansonsten müsse wenigstens die internationale Staatengemeinschaft eingreifen, um weitere Massaker zu verhindern. Die Situation bleibt weiterhin angespannt, die Lage könnte jederzeit gänzlich eskalieren, “es handelt sich um Minuten”, erklärt ein Widerstandskämpfer. Die vergangene Nacht jedenfalls verlief ruhig.
êzîdîPress, 25. Okt. 2014