Seit 1952 findet in der BRD jedes Jahr, zwei Sonntage vor dem ersten Advent, der sogenannte Volkstrauertag statt. Dieser staatliche Gedenktag soll dazu dienen, den Toten beider Weltkriege zu gedenken. Wie kaum ein anderer Gedenktag steht dieser Tag im Zeichen der Verharmlosung der deutschen Vergangenheit. Unterschiedslos wird am Volkstrauertag jenen gedacht, die die faschistische Barbarei über Europa brachten, sechs Millionen Jüdinnen und Juden und tausende politische Gegner_innen ermordeten und jenen, die diesen Terror mit Waffengewalt niederrangen oder ihm zum Opfer fielen. Durch die Vermischung verschiedener wirklicher und vermeintlicher Opfergruppen verschwinden Ursache und Wirkung von Krieg und Massenmord in Nazideutschland. Nach den Verweisen auf "dunkle Kapitel" deutscher Geschichte können sich die Deutschen unverblümt als Opfer inszenieren und setzen die Ermordeten von Auschwitz, Belzec, Treblinka und anderen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern in eine Reihe mit dem Mordkollektiv, das diesen Horror erst möglich machte.
Es verwundert nicht, dass deutsche Neonazis diesen Tag für ihre Zwecke
nutzen. Bei ihnen heißt der Volkstrauertag, wie schon zu NS-Zeiten,
Heldengedenken. Die zentrale Veranstaltung der Thüringer Neonazis findet
jährlich in Friedrichroda statt. Der Fackelmarsch in der Kleinstadt im
Gothaer Landkreis ist, verschwiegen und damit gefördert von Politik und
Öffentlichkeit, zu einem festen Termin im Thüringer Eventkalender der
Neonazis geworden.
Wir wollen am 15. und 16. November in Gotha und Friedrichroda nicht nur
gegen die Strategie der Ignoranz und den Aufmarsch der Nazis auf die
Straße gehen, sondern gegen eine deutsche Gedenkpolitik, die die Opfer
der deutschen Vernichtungspraxis wie die Kämpfenden gegen das
faschistische Deutschland verhöhnt, indem sie sie mit ihren Mördern in
das gleiche Gedenken einbegreift. Der Kampf gegen den Volkstrauertag und
seine Verfechter ist also ein Kampf gegen das Vergessen, gegen die
deutsche Version von Versöhnung, gegen alles was sich mit der Macht der
Herrschenden Geltung verschafft: Gegen Deutschland und seine Nazis!
Volkstrauertag abschaffen!
Gegen NS-Verharmlosung, Naziaufmärsche und deutsche Opfermythen!
Der Aufschrei war groß als in den vergangenen Monaten die Zahl
antisemitischer Ausschreitungen in der Bundesrepublik infolge des
Gaza-Konfliktes im Nahen Osten sprunghaft zunahm und auch die ständigen
Enthüllungen im Rahmen der Aufklärungen zur NSU-Mordserie produzierten
unter den Verantwortlichen in der deutschen Politik einen quasi zum
Dauerzustand erstarrten Modus der Empörung und Abwehr. Immer dann, wenn
im postfaschistischen Deutschland Verantwortliche mit den Nachwirkungen
und Parallelen der deutschen Vergangenheit konfrontiert werden, hört man
allerorts durch bußfertige Machthaber von der Verantwortung, die die
deutsche Vergangenheit mit sich bringe. Was von diesem
Verantwortungsbewusstsein der vermeintlich geläuterten Deutschen zu
halten ist, zeigt sich jährlich zwei Sonntage vor dem Ersten Advent am
sogenannten Volkstrauertag. An diesem offiziellen Gedenktag offenbart
sich, dass die unverschämte Rehabilitierung der deutschen
Vernichtungstruppen und die Verharmlosung der deutschen Barbarei heute
immer noch zentraler Bestandteil deutscher Gedenkpolitik ist.
Der Volkstrauertag und die deutsche Gedenkpolitik
Die Geschichte des Volkstrauertages begann bereits in der Weimarer
Republik. Im Jahr 1926 wurde der erste Volkstrauertag begangen, um den
deutschen Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu gedenken. Was damals schon
seinen Zweck in einer mehr oder weniger intensiven Kriegshetze fand,
trat zur Zeit des Nationalsozialismus offen zu Tage. Die Nazis begingen
den Volkstrauertag als sogenanntes "Heldengedenken" und auch die
heutigen Nazis knüpfen nicht nur begrifflich an diese Tradition an. Nach
der militärischen Niederschlagung Nazideutschlands und dem Abbruch der
Shoah durch die Anti-Hitler-Koalition wurde der Volkstrauertag in der
alten Bundesrepublik wieder eingeführt. Heute soll ausdrücklich den
Toten beider Weltkriege und den Opfern der Gewaltherrschaft aller
Nationen gedacht, für Frieden, Versöhnung und Verständigung gemahnt
werden. Jeder spezifische historische Charakter jener
"Gewaltherrschaft[en]", die durchaus inzwischen auch den
Staatskapitalismus der DDR einschließt, geht in einem solchen Gedenken
verloren. Die deutschen Täter, die Millionen Menschen ausrotteten,
stehen in einer Reihe mit den Mauertoten, den gefallenen Alliierten und
den Opfern der Deutschen. Ein solches nivellierendes, also zwischen
Opfern und Tätern nicht mehr unterscheidendes, Gedenken im Land der
Täter ist für die politische Linke und für alle Menschen problematisch,
die dafür eintreten, dass die Bedingungen der deutschen Barbarei, die
Bedingungen des eliminatorischen Antisemitismus in diesem Land und
weltweit beseitigt werden. Die gleichmachende deutsche Gedenkpolitik zum
Volkstrauertag ist Ausdruck eines Bewusstseins, das die wirkliche
Aufarbeitung des Nationalsozialismus ablehnt, verdrängt bzw. diesen
überhaupt vergessen machen will. Sie bestätigt nur immer wieder den Satz
Paul Spiegels, wonach sich hinter den Rufen nach Frieden die Mörder
verschanzen. Eine solche Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit hätte
u.a. die Kontinuität jener Bedingungen, die nach Auschwitz führten und
die bis in die Gegenwart fortdauern, zu thematisieren und zum Gegenstand
politischer Kämpfe zu machen. Im Sinne eines solchen antifaschistischen
Kampfes ist ein Gedenken an die deutschen Täter nicht hinnehmbar. Wir
gedenken den ermordeten Jüdinnen und Juden, den Kommunistinnen und
Kommunisten, den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, den Sinti und
Roma sowie all den anderen unzähligen Opfern, die aufgrund einer
menschenverachtenden Ideologie ihr Leben lassen mussten. Wir gedenken
auch den Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern, den
Partisaninnen und Partisanen sowie den Soldatinnen und Soldaten der
Anti-Hitler-Koalition. Für dieses Erinnern und Gedenken bedarf es keines
Volkstrauertages, der im Begriff des Volkes ein Denken mitführt, das in
Deutschland immer mit der Blut- und Bodenideologie verknüpft war, für
welche Rassismus und Antisemitismus wesentliche Bestandteile sind. Eine
Gemeinschaft, die auf Ausgrenzung basiert, lehnen wir ab. Wir kämpfen
für ein solidarisches Miteinander aller Menschen, ungeachtet ihrer
sexuellen Orientierung, Hautfarbe oder Herkunft, für eine Gesellschaft
jenseits kapitalistischer Ausbeutung und Zurichtung.
Friedrichroda begrüßt seine Kinder
Wenn also jedes Jahr zum Volkstrauertag vielerorts Personen und Gruppen
zusammenkommen, die die deutschen Verbrechen verharmlosen, offen leugnen
oder die deutsche Kriegsschuld bestreiten, dann kann es nicht
verwundern, wenn an diesen Zusammenkünften auch Nazis beiwohnen. Dass
Nazis diesen Tag nutzen, ist keine Instrumentalisierung des Tages für
andere Zwecke, sondern die logische Konsequenz seiner politischen
Bestimmung. Zum zwölften Mal findet nun das zentrale Thüringer
"Heldengedenken" am 16. November 2014 in der westthüringischen Provinz,
in Friedrichroda, statt. Bereits am Vormittag legen die organisierten
Thüringer Nazis in ihren jeweiligen Heimatgemeinden Kränze vor den
Kriegsdenkmälern ab, oftmals zusammen mit dem dortigen Bürgertum. Zum
abendlichen Fackelmarsch versammeln sich dann Nazis aus ganz Thüringen
am Kriegsdenkmal in Friedrichroda. Im Stein des Denkmals ist die
Inschrift "Für Heimat und Vaterland" eingeprägt. Die Zahl der Teilnehmer
brach 2013 drastisch ein. Zogen Fackelmarsch und gemeinsame
Gesangsfolklore in den Jahren zuvor noch bis zu 140 Personen an,
schafften es im letzten Jahr lediglich zwei Dutzend Trauernazis nach
Friedrichroda. Die traditionell von der Gothaer NPD angemeldete
Veranstaltung, wird seit 2013 wieder von der Kameradschaftsszene
organisiert. Nach der Schlappe des letzten Jahres, versuchen die Nazis
rund um die noch recht junge Kameradschaft "Bündnis Zukunft Landkreis
Gotha" das Friedrichrodaer Heldengedenken wiederzubeleben und
mobilisieren schon seit Monaten für den Aufmarsch.
In den frühen Abendstunden, und mit Fackeln bewaffnet, begehen die
anwesenden Nazis dann ihr ritualisiertes Gedenken an die gefallenen
deutschen Soldaten. In gespenstiger Atmosphäre werden die Geister der
Soldaten des Heeres, der Kriegsmarine, der Luftwaffe, der Waffen-SS und
des Volkssturms zurück in die Reihen ihrer Kameraden gerufen.
Auferstanden ist zwar bis heute noch keiner, doch der Gruselfaktor in
Friedrichroda ist enorm. Zum Abschluss der Zeremonie singen die Nazis
noch Soldatenlieder und begehen eine Schweigeminute für die Verbrecher,
die Auschwitz, Treblinka und all die anderen Konzentrations- und
Vernichtungslager möglich gemacht haben, die Millionen Menschen ermordet
und Europa in Schutt und Asche gelegt haben.
Auf die Straße!
Protest gegen den Naziaufmarsch und das Volkstrauertagsgedenken gab es
in den vergangenen Jahren nur von Seiten der Antifa. Die
Mehrheitsbevölkerung von Friedrichroda versteckt sich in ihren Häusern,
vermutlich wegen einer Mischung aus Desinteresse und heimlicher
Sympathie für die Nazis. Die Verantwortlichen der Stadtpolitik versuchen
das Thema so gut es geht zu verschweigen. Das macht Friedrichroda
gewissermaßen zu einem Sonderfall Thüringischer Protestkultur. Wo
andernorts bei ähnlichen Naziaufmärschen sich sofort Initiativen ans
Werk machen, um Proteste zu organisieren, will man in Friedrichroda
davon nichts wissen. Und wenn Schweigen und Ignorieren nicht mehr
möglich sind, weil der Druck von außen zu groß wird, greift man - wie
andernorts auch - zur Extremismusdoktrin. Schädlich für das Image des
Kurortes sind demnach nicht bloß die Nazis und ihre Aufmärsche, sondern
auch diejenigen, die die Aufmärsche und den öffentlichen Umgang mit
ihnen problematisieren. Das Resultat dieses Manövers ist letztlich die
Akzeptanz des Naziaufmarschs und die Gleichsetzung des
antifaschistischen Widerstandes mit den Nachfahren von Mördern.
Wir wollen am 15. und 16. November in Gotha und Friedrichroda nicht nur
gegen diese Strategie der Ignoranz und den Aufmarsch der Nazis auf die
Straße gehen. Sondern gegen eine deutsche Gedenkpolitik, die die Opfer
der deutschen Vernichtungspraxis wie die Kämpfenden gegen das
faschistische Deutschland verhöhnt, indem sie sie mit ihren Mördern in
das gleiche Gedenken einbegreift. Der Kampf gegen den Volkstrauertag und
seine Verfechter ist also ein Kampf gegen das Vergessen, gegen die
deutsche Version von Versöhnung, gegen alles was sich mit der Macht der
Herrschenden Geltung verschafft: Gegen Deutschland und seine Nazis!
Antifaschistisches Bündnis Gotha, September 2014
Flyer, Plakate und Aufkleber können bestellt werden
Das diesjährige Mobimaterial ist eingetroffen und kann bestellt werden per Mail: antifa-sth@riseup.net
Aktionswoche
Die ganze Woche über finden in mehreren Städten Infoveranstaltungen und
dezentrale Aktionen in Gotha und Friedrichroda statt. Zentrale
Veranstaltungen, zu deren Teilnahme wir euch aufrufen, sind folgende:
10.11.2014: (Des-)Interesse als Mittel - Gedenken an Auschwitz in der DDR.
Wo: JU.W.E.L. in Gotha (Hersdorfstr. 15)
Wann: 19 Uhr
Was: Das Interesse der Bevölkerung der DDR und der damaligen
Staatsregierung an der Aufarbeitung des Holocaust hielt sich beinahe
während der kompletten Existenzperiode des ostdeutschen Staates in
Grenzen. Zwar fand in wissenschaftlichen und literarischen Kreisen
durchaus eine Beschäftigung mit der Shoah statt, doch gerade auf
staatlicher Seite schien die Aufarbeitung der Vergangenheit
nebensächlich. Die Beschäftigung mit Auschwitz in der DDR war maßgeblich
durch realpolitische Erwägungen geprägt. Im Vortrag sollen die
staatlichen Vorgaben zum Umgang mit dem Massenmord sowie die in der DDR
gepflegte Erinnerungspolitik erörtert werden.
13.11.2014: Infoveranstaltung zum Volkstrauertag und Naziaufmarsch in Friedrichroda und dem Widerstand dagegen
Wo: JU.W.E.L. in Gotha (Hersdorfstr. 15)
Wann: 19 Uhr
Was: Mittlerweile veranstalten Thüringer Neonazis anlässlich des
Volkstrauertages zum zwölften mal ein so genanntes "Heldengedenken" in
Friedrichroda. Zeitgleich öffnet der sogenannte Volkstrauertag mit
seiner Idiologie der Gleichsetzung zwischen Opfer und Täter, Tür und Tor
für Nazis und Geschichtsrevisionist*Innen. Wir wollen über
Naziaufmarsch, Volkstrauertag und den Widerstand dagegen berichten.
15.11.2014: Antifa-Demonstration mit Live-Musik in Gotha
Treffpunkt: 17 Uhr, Hauptbahnhof
16.11.2014: Antifa-Kundgebung in Friedrichroda
Treffpunkt: 16 Uhr REWE-Parkplatz
Nazifackelmarsch
Statt von der NPD wird der Aufmarsch auch in diesem Jahr wieder von den
Kameradschaftsnazis organisiert. Genauere
Informationen zum Ablauf des Naziaufmarsches folgen.
Mehr Informationen auf: www.volkstrauertag-abschaffen.tk