30 Jahre Blutvergießen zwischen Regierung und Kurden haben die Türkei traumatisiert. Nun möchte Ankara den Vormarsch der IS-Terroristen stoppen. Gleichzeitig fürchtet es eine Stärkung der Kurden in der Region - mit absurden Folgen.
Für Recep Tayyip Erdoğan hat sich ein Traum erfüllt. Aus einem Istanbuler Slum- und Hafenviertel, in dem man die Sprache der Straße lernt, ist er bis ins Heiligste der Macht in der Türkischen Republik aufgestiegen: in den Präsidentenpalast von Çankaya in Ankara. In einer eher bescheidenen Villa in Çankaya residierte einst Atatürk, der Gründer der modernen Türkei. Wie das Schloss Bellevue in Berlin steht Çankaya für das Amt und seinen Träger. Erdoğan genügt Çankaya nicht mehr.
Noch als Premier hat er sich ein neues Schloss bauen lassen, eine Art Versailles im Wald bei Ankara, hochgesichert, mit 1000 Zimmern. Erdoğan will den Prunkpalast zu seinem Amtssitz machen. Der zwölfte Präsident der Türkei glaubt, sich diesen Bruch mit einer 90 Jahre alten republikanischen Tradition leisten zu können - wie vieles andere auch.
So hat Erdoğan schon erklärt, er werde sich fortan um die Außenpolitik kümmern. Der ehemalige Außenminister Ahmet Davutoğlu, dem Erdoğan seinen bisherigen Posten als Premier überlassen hat, werde dagegen das innenpolitische Geschäft besorgen. In der türkischen Verfassung ist eine solche Arbeitsteilung nicht vorgesehen. Sie dürfte im politischen Alltag noch für Spannung sorgen. Der syrische Krieg vor der türkischen Haustür lässt dies bereits ahnen. Innen- und außenpolitische Interessen Ankaras decken sich hier kaum.
Ankara fürchtet die Terroristen, aber es fürchtet auch die Kurden
Ein innerer Frieden mit den Kurden ist für die Türkei von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Dreißig Jahre Blutvergießen haben das Land traumatisiert, eine Aussöhnung ist überfällig und war zuletzt auf gutem Weg. Nun greifen türkische Kurden wieder zu den Waffen, um ihre syrischen Brüder vor den Extremisten des "Islamischen Staats" zu retten. Aber türkische Gendarmen hindern die Kämpfer am Grenzübertritt - weil Ankara sich immer noch vor jeder politischen oder militärischen Stärkung der Kurden fürchtet, wie vor einer ansteckenden Krankheit. Mit absurden Folgen.
So werden türkische Truppen den im syrischen Kobanê von IS-Terroristen eingeschlossenen und beschossenen Kurden kaum zu Hilfe eilen, obwohl sie dies könnten. Schließlich hat das Parlament in Ankara mit großer Mehrheit der Armee erlaubt, nach Syrien und in den Irak einzumarschieren. Was Erdoğan und die Generäle mit diesem Freibrief für einen Kriegseinsatz anfangen sollen, wissen sie aber offenbar selbst nicht. Die Türkei hat keine Strategie für das Syrien-Desaster.
Erst jüngst beendete Erdoğan den laxen Umgang mit IS
Das gilt allerdings für Amerika und seine neuen arabischen Verbündeten in der Anti-IS-Allianz ebenso. Gegenseitiges Misstrauen stärkt das Bündnis nicht. Erdoğan fürchtet, Washington werde sich am Ende mit seinem Erzfeind Baschar al-Assad in Damaskus arrangieren. Für Erdoğan, der schon lange auf Assads Ende setzt, wäre dies das zweite außenpolitische Fiasko nach dem Sturz der Muslimbrüder in Ägypten, mit deren Entmachtung er sich bis heute nicht abfinden will.
Erdoğan wollte die Türkei zur Vorbildnation im Nahen Osten machen: konservativ, wohlhabend, stolz. Die ökonomische Potenz des Landes wird auch weithin bewundert. Aber mit dem von Erdoğan geprägten Begriff der "Neuen Türkei" verbinden viele nun Internetsperren und eine Missachtung geltenden Rechts (auch dem neuen Präsidentenpalast fehlt eine Baugenehmigung). Die "Neue Türkei" zahlt zudem den Preis für alten Leichtsinn. Der IS fand seine Rekruten auch in Istanbuls Armenvierteln, die sich an den schillernden neuen Reichtum schmiegen. Die Regierung hat darüber hinweggesehen. Verwundete IS-Kämpfer wurden in türkischen Krankenhäusern wieder zusammengeflickt.
Ende des Syrien-Dramas nicht in Sicht
Erst jüngst hat Erdoğan den lange fälligen Strich unter dieses Treiben gezogen, und der Truppen-Freibrief soll dies dokumentieren. In einer Botschaft zum Islamischen Opferfest drohte Erdoğan dem IS nun mit "Vergeltung", sollten die Dschihadisten das in Syrien befindliche Grabmal von Süleyman Şah angreifen, dem Großvater des ersten osmanischen Sultans. Das Monument liegt fast 40 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, es wird vom IS bedroht und - nach einem historischen Vertrag - von türkischen Soldaten bewacht. Politische Vernunft hätte es längst geboten, die kleine türkische Truppe dort abzuziehen, um keine neue Geiselnahme zu provozieren. Eine solche nationale Schmach aber glaubt Ankara sich nicht leisten zu können.
Offenbar nehmen es die Türken eher hin, dass der IS in Kobanê sein Ziel erreicht: die Kontrolle eines langen Grenzstreifens zur Türkei. Die bedrängten Kurden hat Erdoğan in seiner Beistandsadresse zum Fest gar nicht erwähnt. Ein Ende des Syrien-Dramas ist nicht in Sicht.