Eine wissenschaftliche Untersuchung, die nach den Kriterien des sogenannten Istanbul-Protokolls durchgeführt wurde, kommt zu dem Schluss, dass 45 untersuchte Fälle von Folter glaubwürdig sind. Erarbeitet wurde der Bericht von Ärzten, Psychologen und Psychiatern, die 45 Fälle von Folter im Baskenland analysierten. Anders als spanische Richter, Gerichte und Politiker kamen sie zu dem Schluss, dass alle untersuchten Aussagen von Betroffenen von einem hohen Grad von Glaubwürdigkeit geprägt sind.
Dies ist gleichzeitig die wichtigste Feststellung des Berichts, der unter dem Titel “Kontaktsperre und Folter“, kürzlich in Madrid vorgestellt wurde. Die bei der Untersuchung angewendete Methode überprüft die Glaubhaftigkeit von Aussagen von Folteropfern, von der UNO ist sie wissenschaftlich anerkannt (zu ihrer Entstehung mehr am Artikelende).
Bei Wikipedia wird das Istanbul-Protokoll (kompletter Titel: Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe) folgendermaßen definiert: “… ist der Standard der Vereinten Nationen für die Ausbildung in der Begutachtung von Personen, die den Vorwurf erheben, gefoltert oder misshandelt worden zu sein, für die Untersuchung von Fällen mutmaßlicher Folter und für die Meldung solcher Erkenntnisse an die Justiz und andere Ermittlungsbehörden“.
Alle 45 analysierten Fälle betreffen baskische Personen. Die Experten stellen fest, dass 53% der Aussagen “hochgradig glaubwürdig“ sind, 31,1% der Aussagen sind “sehr glaubwürdig“ und 15,6% “ausreichend glaubwürdig“. Die Untersuchung wurde mit Unterstützung von Juan E. Méndez veranlasst, dem UN-Sonderberichterstatter für Folter, sowie von Ben Emmerson, dem UN-Sonderberichterstatter über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung Terrorismus. Beide haben eine Presseerklärung abgegeben, in der sie den Bericht als "Schritt in Richtung Transparenz und Verantwortlichkeit" definieren. Gleichzeitig drängen sie die spanische Regierung, die Schlussfolgerungen des Berichts und seine Empfehlungen "zu berücksichtigen".
In erster Linie sind staatliche Behörden aufgefordert, die Misshandlungs-Tatsachen an und für sich anzuerkennen. Denn bisher hatten diese auf Foltervorwürfe regelmäßig mit totaler Negierung reagiert. Mit dem Vorwurf, es handle sich um propagandistische Lügen waren sie stattdessen in die Gegenoffensive gegangen. Angesichts des vorliegenden Berichts hat Pau Perez, Psychiater im Krankenhaus La Paz in Madrid festgestellt, die Dokumentation müsse als rechtsgültig angesehen werden und zugunsten der Opfer angewandt werden, falls diese versuchen, eine in der Vergangenheit vom Gericht eingestellte Folterklage wieder aufzurollen. Das Istanbul-Protokoll wurde in Prozessen im spanischen Staat zwar nicht häufig angewandt, dennoch gibt es Präzedenzfälle. Zum Beispiel den Prozess gegen 40 junge Bask/innen, die schließlich freigesprochen wurden, mit der Besonderheit, dass die offizielle Urteilsbegründung die Möglichkeit von Misshandlungen anerkannte. In diesem Fall war das Istanbul-Protokoll von den Gutachtern angewendet worden.
Gleichzeitig fordern die Experten weitere Maßnahmen, darunter eine entschlossene Haltung der Behörden bei der Bekämpfung von Folter, psychosoziale Betreuung, Maßnahmen zur Rehabilitation und Hilfe, Garantien der Nichtwiederholung, Umsetzung der gesetzlichen Verwaltungsverfahren, um Folter künftig zu verhindern, sowie die Schaffung von sozialen Räumen, in denen über die Vorgänge im Baskenland kommuniziert werden kann.
Bei ihrer Arbeit haben die Experten die Art des erlittenen Missbrauchs untersucht, sowie die körperlichen und psychischen Folgen. Das Istanbul-Protokoll wurde bei 45 Personen zur Anwendung gebracht, die zwischen Januar 1982 und Dezember 2010 festgenommen worden waren. Ein Drittel von ihnen wurde von der spanischen Polizei (Policia Nacional) festgenommen, das zweite Drittel von der Guardia Civil, das letzte Drittel von der baskischen Polizei Ertzaintza. In der Vergangenheit waren auch gegen diese baskische Einheit entsprechende Vorwürfe laut geworden. Tatsache ist, dass die von der Ertzaintza wegen “Terrorismus“ Festgenommenen umgehend an spanische Behörden übergeben werden. Laut Andrés Krakenberger, Ex-Präsident von Amnesty International Spanien und Euskadi, kann das Ergebnis der Untersuchung nicht als Stichprobe gewertet und “hochgerechnet“ werden, es zeige lediglich die Richtigkeit der Folter-Behauptungen, was wiederum unter Beweis stelle, dass es in Kommissariaten des spanischen Staates zu Misshandlungen komme. “Das sind keine empirischen Zufalls-Stichproben“, sagt auch Pau Perez. Nach seiner Interpretation dient der Bericht dabei, die Existenz von Folter und körperlicher Gewalt anzuklagen, weil diese Fälle nunmehr dokumentierbar seien.
Neben den physischen und psychischen Folgen widmet sich die Studie auch der Wiedergutmachung für die Opfer. Dieser Bereich ist noch völlig unbearbeitet. "Das sind weder Einzelfälle noch Fälle aus der Vergangenheit", betonte die Psychologin Olatz Barrentexea. Sie erinnerte daran, dass die fünftägige Kontaktsperre, die nach wie vor gilt, die Grundlage dafür ist, dass in spanischen Kommissariaten "Straflosigkeit" herrscht und misshandelt werden kann.
Mehr zur Entstehung des Istanbul-Protokolls: Die zu den Mitgliedsorganisationen des International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) zählende Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TIHV) ergriff im März 1996 die Initiative zu einer einheitlichen Richtlinie nach einem internationalen Symposium “Medizin und Menschenrechte“, das die türkische Ärztekammer in Adana veranstaltet hatte. An dem Protokoll arbeiteten 75 Ärzte, Psychotherapeuten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler, die zusammen vierzig Organisationen aus fünfzehn verschiedenen Ländern repräsentierten. Im August 1999 übergaben sie der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, das fertig ausgearbeitete Protokoll. Zu den zahlreichen Autoren zählen u.a. Amnesty International, Human Rights Watch, das Internationale Rote Kreuz, Physicians for Human Rights, das Lawyers Committee for Human Rights, das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin sowie weitere Therapiezentren in Südafrika, Chile und den USA, verschiedene universitäre Institute, die türkische, dänische, britische, indische und deutsche Ärztekammer sowie der Weltärztebund, und nicht zuletzt das IRCT.
Zum Thema Folter ein Dokumentarfilm in spanisch und baskischer Sprache:
Quelle:
http://baskinfo.blogspot.com.es/2014/10/systematische-folter.html