[HH] Das unterirdische Russland: Neu bei bahoe books

stepniak das unterirdische russland

Die „Narodnaja Volja“ (Volkswille) war eine russische Geheimorganisation, die im August 1879, im Ergebnis der Spaltung der Volkstümlerorganisation „Semlja i Volja“ (Land und Freiheit), entstanden war. Sie waren wie die früheren Volkstümler utopische SozialistInnen und kämpften mit Mitteln des individuellen Terrors gegen die Alleinherrschaft. Ihr selbstloser Kampf gegen den Zarismus, ihre konspirative Technik und ihr hoher Organisationsgrad waren für alle nachfolgenden revolutionären Gruppen in Russland beispielgebend.

 

Das unterirdische Russland. Porträts
und Skizzen aus der Wirklichkeit
von Sergius Stepniak

 

Die Originalausgabe erschien 1882 in London unter dem
Titel Underground Russia. Die 1884 bei Rudolf Jenni’s
Buchandlung in Bern veröffentlichte Übersetzung
von Max Trautner wurde in einer Überarbeitung
nun neu aufgelegt.

 

217 S., bahoe books, Wien 2014

bahoebooks.tumblr.com

 

 

Präsentation im Rahmen der Radical Book Fair Hamburg von 3.-5. Okt.14:

 

Samstag, 4. Oktober 14, von 13.05 bis 14.30 in der Roten Flora, Achidi-John-Platz 1, Hamburg.

Raum 1

 

Weitere Infos zur Buchmesse auf: radicalbookfairhamburg.wordpress.com

Der Eintritt ist frei.

 

Aus dem Vorwort:

 

Historische Ausgangspunkte festzumachen, insbesondere für revolutionäre Bewegungen, ist ein schwieriges Unterfangen. Für Russland kann gesagt werden, dass vermutlich die französische Revolution einen nicht unwesentlichen Einfluss hatte, deren revolutionäre Ideen zu Beginn des 19. Jahrhunderts langsam Verbreitung fanden. So gründete sich etwa in den 1840er Jahren unter dem Einfluss der frühsozialistischen Theorien Charles Fouriers der revolutionäre Petraschewski-Zirkel, dem auch der berühmte Schriftsteller Dostojewski angehört hatte. Sie wurden jedoch bereits 1849 verhaftet, zum Tod verurteilt und schliesslich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit «begnadigt». Erst nachdem der scheinbar liberale Alexander II. 1855 Kaiser wurde, kam es zu einer weiteren Verbreitung der sozialistischen Ideen, wobei in Russland selbst vor allem der berühmte Literat Tschernyschewski und der Kritiker Dobroljubov, sowie in England die Dichter Alexander Herzen und Nikolai Ogarjow eine wichtige Rolle spielten. Die beiden Letzteren gaben seit 1857 in London in ihrer eigenen Druckerei das erste freie russische Blatt «Kolokol» (Die Glocke) heraus, das auf die öffentliche Meinung in Russland einen bedeutenden Einfluss ausübte.
Die zentrale Forderung aller fortschrittlichen Elemente war die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft, was 1861 schliesslich erreicht wurde, als Alexander II. im Zuge seiner «grossen Reformen» aus Angst vor einem allgemeinen Bauernaufstand endlich einwilligte. Aber mit der scheinbaren «Freiheit» war es nicht weit her: Für die Zuweisung von Ackerland wurden so hohe Auflagen angesetzt, dass die Bauern in ein noch viel grösseres Elend gestürzt wurden. Unter diesen Umständen verloren die Sozialisten das Vertrauen in die Reformbereitschaft des Zaren und richteten nun einen energischen Kampf gegen ihn. 1863 wurde der Bund «Land und Freiheit» gegründet, der sich jedoch aus vielen Ursachen nicht rasch genug entwickeln konnte. Es folgten erneute politische Verfolgungen und schliesslich trat in der sozialistischen Bewegung Stillstand ein, der mit geringen Unterbrechungen bis 1872 dauerte.
Anfang der 1860er Jahre machte sich in der Jugend eine neue Strömung breit: der philosophische Nihilismus, dessen Hauptvertreter die Schriftsteller Pissarew und Saizew waren, die ihre Anschauungen in dem Blatt «Russkoje Slovo» («Das russische Wort») darlegten. Der Nihilismus – das Wort wurde von Turgeniew in seinem berühmten Roman «Väter und Söhne» geprägt – erstrebte die Beseitigung des Überholten auf allen Gebieten (religiösen, philosophischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen). 1866 kam es für die revolutionäre Bewegung zu einem folgenschweren Ereignis. Der junge Student Karakosow, Mitglied eines Geheimbundes namens «Hölle», feuerte einige Schüsse auf den Zaren ab. Das Attentat misslang, Karakosov wurde nach grausamer Folter hingerichtet und die Polizei begann die Nihilisten zu verfolgen. Das Resultat davon war, dass die Studenten, die sich bis dahin von der Politik fernhielten, in die Arme des Sozialismus zum Kampf gegen die Regierung getrieben wurden.
Den grössten Einfluss hatte dabei der unermüdliche Verkünder des Anarchismus Michael Bakunin, der das berühmte Wort: «Идти в народ» («Ins Volk gehen») als Losung ausgegeben hatte. Er konnte die Studenten davon überzeugen, dass der einzige Weg um Propaganda für den Sozialismus zu machen darin bestehe, das Studieren aufzugeben und sich ganz dem Volk zu widmen, mit ihm zusammen auf dem Feld, in den Werkstätten und Fabriken zu arbeiten, es aufzuklären und zum finalen Kampf vorzubereiten. Diese Welle der Propaganda begann 1872 und verlief auf zwei Ebenen. Die einen zogen von Dorf zu Dorf – freilich als Bauern verkleidet – um das Volk kennenzulernen, Reden zu halten und Schriften zu verbreiten; so reiste etwa auch Stepniak als Holzsäger durch das Land. Die anderen wiederum liessen sich an bestimmten Orten nieder, gründeten in den Dörfern und Städten Geschäfte und Werkstätten, die gewissermassen Arsenale für die Agitation bildeten. Es wurden dort Bücher, Flugschriften, Schlüssel für chiffrierte Briefe usw. aufbewahrt. Neben der Bauernagitation wurden auch die städtischen Arbeiter nicht vergessen.
Nach drei Jahren, 1875, neigte sich die Propaganda ihrem Ende zu. Die Ursachen des geringen Erfolgs sind in verschiedenen Umständen zu suchen. Die Sozialisten waren jung und ungestüm, überschätzten ihre Kräfte und idealisierten die Bauern; die wenigsten waren mit den Lebensbedingungen und Einstellungen des Volkes vertraut. Infolge ihrer Unachtsamkeiten wurden nicht selten ganze Vereine verhaftet, es kam sogar vor, dass die Bauern selbst die Agitatoren fesselten und der Gendarmerie übergaben, da die Regierung durch die Geistlichen das Gerücht hatte verbreiten lassen, die Studenten strebten die Wiedereinführung der Leibeigenschaft an. Ein grosses Problem für die schriftliche Agitation lag darin, dass die Mehrheit der Bauern überhaupt nicht Lesen konnte.
Im Verlauf dieser drei Jahre waren über 3.000 Männer und Frauen ins Volk gegangen. Die Mehrheit wurde jedoch nach und nach von der Polizei verhaftet, die Organisation wurde zertrümmert.
Aufgrund dieser Umstände kamen die Sozialisten zur Überzeugung, dass es unmöglich sei, den Kampf in dieser Form weiterzuführen. Sie schritten nun zu einer vollständigen Neuausrichtung ihrer Taktik. Anstatt des kosmopolitischen Sozialismus stellten sie als Programm die Erfüllung der vom Volk selbst gehegten Ideale auf (narodnitschestwo – Volkstümelei). Die fliegende Propaganda wurde gänzlich für die ausschliesslich ständige Ansiedlung im Volk aufgegeben; man begnügte sich nicht mehr mit der blossen Aufheizung der Stimmung, sondern organisierte Kampfscharen und veranstaltete Putsche (siehe Kapitel über Stephanowitsch). Das Endziel dieser Partei, welche Narodniki-Buntary (Volkstümler- Putschmacher) genannt wurde, blieb dasselbe wie das ihrer Vorgänger: der anarchistische Sozialismus. Das Organ der Partei war die in der Petersburger Geheimdruckerei herausgegebene Zeitschrift «Земля и воля» («Land und Freiheit»), nach der später die Partei selbst benannt wurde.
Die Organisation der Narodniki zerfiel im Zuge der Repression in zwei Gruppen; die eine war am Land und die andere in den Städten tätig. Die Verschiedenheit der Verhältnisse, in denen die beiden Gruppen kämpften, führte nach und nach zu einer immer grösseren Differenz zunächst in taktischen und schliesslich in prinzipiellen Fragen, die bald eine vollständige Spaltung der Partei zur Folge hatte.
Die städtische Gruppe, die sich in einem ständigen Kampf mit der Regierung und ihren Handlangern befand, hatte unter massiver Verfolgung, Brutalität und Grausamkeiten zu leiden. Sie sah sich in einer Art Notwehr gezwungen, den weissen Schrecken von oben, mit dem roten Schrecken von unten zu beantworten. Waren die ersten Taten dieser Revolutionäre somit eher Racheakte, machte sich nach und nach die Überzeugungbreit, den systematischen Terror als Kampfmittel gegen die Regierung zu benützen.
Die Terroristen gründeten ein eigenes Organ «Narodnaja Volja» («Volkswille») und nahmen von nun an den Namen Narodovolzy an. Neben der Propaganda im Heer und unter den Studenten standen die Jahre 1878 – 1884 vor allem im Zeichen des Terrorismus.
In ganz Europa stellte die Propaganda der Tat Ende des 19. Jhdt. eine bedeutende Spielart des Anarchismus dar, wurde aber vor allem von Einzeltätern oder maximal kleineren Gruppen getragen. Die Narodnaja Volja hingegen hatte hunderte Mitglieder, ging arbeitsteilig vor und wurde von einem Exekutivkomitee mit 28 Mitgliedern geleitet. Damit diente sie als Beispiel und Richtschnur für die folgenden politischen Generationen. Lenin etwa, dessen älterer Bruder Alexander Uljanow als Mitglied der Narodnaja Volja 1887 in Petersburg gehängt wurde, erwähnt seine hohe Meinung über die konspirative Technik der Gruppe in seinem Buch Was tun? und lobt darin «jene ausgezeichnete Organisation, die die Revolutionäre in den siebziger Jahren hatten, [...] die uns allen als Vorbild dienen sollte...». Neben diesen Bezügen der Bolschewisten auf ihre Vorgänger sah sich vor allem die Partei der Sozialrevolutionäre, die nach dem endgültigen Sturz der Monarchie 1917 zur Regierungspartei avancierte, als direkte Erbin und Nachfolgerin der Narodnaja Volnja. In den Jahren rund um die Revolution 1905 betrieb sie eine schlagkräftige Kampforganisation, die zahlreiche Attentate gegen Adelige und Beamte durchführte.
In den vorliegenden detailreichen Porträts einiger der wichtigsten Narodowolzen beschreibt Stepniak deren unterschiedliche Begabungen, Stärken und Schwächen und ihre daraus resultierenden Aufgaben innerhalb des Gesamtgefüges der Organisation auf eine literarisch faszinierende Weise. Dabei entsteht ein Bild der gesamten Struktur dieser Gruppierung, eine Variante der politischen Arbeit im Untergrund und deren Risiken und Probleme, die angesichts der zaghaften bürgerlichen Freiheiten, die uns der österreichische Staat bis auf weiteres, also genau bis zu einem etwaigen Erfolg unserer propagandistischen und agitatorischen Tätigkeiten, zugesteht, vielleicht nur wenige Parallelen zur Gegenwart aufweist. Im Gegensatz zur Narodnaja Volja sind kontemporäre politische Gruppen häufig von der Zuständigkeit aller für alles, und von manchmal undurchschaubaren Entscheidungsfindungsprozessen im Namen von Konsens und Basisdemokratie geprägt.
Die heutige, abgeklärte bürgerliche Subjektkonstitution, auch in ihrer «linken» oder «kritischen» Variante, lehnt Leidenschaften oder Überzeugungen, die einem seine Aussichten, seine Karriere, sein gesamtes Eigentum, gar sein Leben kosten könnten aus Prinzip ab. Politische Gruppen bilden sich heute anhand ähnlicher sozialer Herkunft, gleicher Interessen und einem ähnlichen Geburtsjahr ihrer Mitglieder. In langen, selbstreflexiven Sitzungen und Diskussionsveranstaltungen werden einheitliche Standpunkte erarbeitet, oft auf Kosten von Isolation und einer mangelnden Aussenwirkung. Eine Suche nach einem Zugang zu proletarischen oder bäuerlichen Milieus, wie es den Volkstümlern eigen war, ist für heutige politisierte AkademikerInnen schlichtwegs vollkommen undenkbar, nahezu jenseitig.
Nicht allzu selten geht es eher darum, einem gemeinsamen Hobby Raum zu geben, oder ein soziales Netzwerk zu schaffen, dass nach Studienabschluss, oder nach dem Ende der «Sturm und Drang»-Phase des politischen Aktivismus praktischerweise auch als Karriereleiter dienen kann.
Die in diesem Buch vorgestellten Revolutionäre und Revolutionärinnen kamen, wie so viele der Politaktivisten heute, aus privilegierten Elternhäusern, waren Adelige, StudentInnen oder fertige AkademikerInnen. Ihre revolutionäre Leidenschaft brachte ihnen fast allen den Tod durch den Strang, Verbannung, Kerker oder politisches Exil. Letzteres war zwar ein Leben, doch geprägt von ökonomischen Zwängen, von Versammlungen in verrauchten Wirtshäusern, Fraktionskämpfen, Vereinzelung und Streitereien, der permanenten Paranoia und Angst vor den Nachstellungen der russischen Geheimpolizei Ochrana, dem gegenseitigen Spitzelverdacht und nicht zuletzt dem ständigen Hader über das schlechte Essen und das schlechte Wetter in England (wo es ja nicht nur Stepniak hinverschlug, sondern hunderte Revolutionäre und AnarchistInnen aus Russland und ganz Europa, darunter seine persönlichen Freunde Kropotkin, Malatesta, Malato und Luise Michel).
Die revolutionäre Leidenschaft der in diesem Buche vorgestellten Narodnowolzen legte allerdings auch den Grundstein für das selbst erkämpfte Ende der Tyrannei der Zarenfamilie Romanov und für das grösste sozialrevolutionäre Experiment der Menschheitsgeschichte, die russische Revolution.