Sachbeweise gab es nicht, der Staatsanwalt polemisierte statt zu argumentieren - trotzdem wurde Josef S. schuldig gesprochen. Der Wiener Prozess gegen den deutschen Studenten zeigt, welche Vorurteile in Österreichs Justiz herrschen.
Müde sehen sie aus und abgekämpft. Mehr als die Hälfte ihrer 30 Urlaubstage haben Sabine und Bernd S., IT-Fachleute aus Jena, schon genommen, auch die meisten Überstunden abgebummelt. Erholt haben sie sich nicht. So oft es ging, sind sie in den vergangenen sechs Monaten die 600 Kilometer nach Wien gefahren, um ihren jüngsten Sohn Josef zu besuchen.
Josef S., 23, Student der Materialwissenschaften, saß ein halbes Jahr in Österreich in Untersuchungshaft, nun kommt er frei. Seine Mutter ist trotzdem schockiert: "Mir war selten so schlecht", sagt sie. Denn ihr Sohn ist nicht freigesprochen, sondern für schuldig befunden worden; verurteilt zu zwölf Monaten Gefängnis im Januar den Schwarzen Block als Rädelsführer angestachelt, Polizisten angegriffen und Scheiben eingeschmissen hat. Er kommt am Dienstagabend nur aus dem Gefängnis, weil acht Monate Haft für "bedingt" erklärt werden, was so viel heißt wie "zur Bewährung ausgesetzt". Die vier übrigen, "unbedingten" Monate gelten durch die Untersuchungshaft als abgesessen.
Prozess und Urteil zeigen dreierlei: Wie unzuverlässig der Zeugenbeweis ist. Wie wenig in Österreich reichen kann, um für Monate weggesperrt und wegen schwerer Straftaten verurteilt zu werden. Und wie groß die Vorurteile in Teilen der österreichischen Polizei und Justiz gegenüber Aktivisten sind, die sich links der Mitte verorten.
Widersprüche findet der Richter erklärbar
Die Anklage stützte sich einzig auf die Angaben eines Polizisten, der bei den Demonstrationen als "ziviler Aufklärer" im Einsatz war. Seine Aussage wiegt schwer, schwerer jedenfalls als alles, was die beiden Verteidiger von Josef S. vorbringen.
Der Beamte verwickelt sich in Widersprüche? Erklärbare Irrtümer, sagt der Richter. Die Aussagen des Beamten decken sich nicht mit denen seiner Kollegen? Besser, als wenn sie sich abgesprochen hätten, sagt der Richter. Der Angeklagte ist auf keinem der zahlreichen Fotos und Videos bei Straftaten zu sehen? Gut, dass wir nicht in einem Überwachungsstaat leben, in dem alles aufgezeichnet wird, sagt der Richter. Eine Gutachterin findet Schmauchspuren von einem Bengalo oder Böller auf dem rechten Handschuh von Josef S., er selbst ist aber Linkshänder? Hat nichts zu bedeuten, sagt der Richter, die Spuren auf dem anderen Handschuh könnten abgewaschen worden sein.
Schon die Anklage las sich, als wäre sie mit Schaum vor dem Mund verfasst worden, von "Demonstrationssöldnern" war da die Rede. Im Schlussplädoyer rüstet der Staatsanwalt, von Amts wegen eigentlich zu Sachlichkeit verpflichtet, dann noch einmal verbal auf. Dass Josef S. sein Recht in Anspruch nimmt, sich zu den Vorwürfen nicht zu äußern, nennt der Staatsanwalt "feige". Er zeichnete vom Angeklagten das Bild eines linksextremen Krawalltouristen, der nicht nach Wien gereist sei, um gegen Rechtsextreme und Burschenschafter zu demonstrieren, sondern um mit "einer kleinen Schar Chaoten" die Stadt zu verwüsten. Politische Ziele mit Gewalt durchsetzen zu wollen, dafür gebe es einen Namen: "Terrorismus".
Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, kritisiert die Polemik des Staatsanwalts später als "hochproblematisch". In einem Rechtsstaat sei es "überflüssig mit solchen Metaphern zu arbeiten".
Im Zweifel gegen den Angeklagten
In der Urteilsbegründung bemüht sich der Richter, wie er selbst sagt, "weniger polemisch zu formulieren", inhaltlich schließt er sich dem Staatsanwalt jedoch an. Josef S. habe nicht friedlich demonstrieren wollen, er sei in die Krawalle nicht nur hineingeraten. "Einer, der damit nichts zu tun haben will, dreht sich um und geht", sagt der Richter.
Niemand bestreitet, dass Josef S. in der Nähe der Randalierer unterwegs war. Kaum jemand glaubt, dass er beim Aufräumen helfen wollte, als er eine Mülltonne aufrichtet, wie es ein Video dokumentiert. Vielleicht hat er tatsächlich einen Bengalo geworfen und vielleicht sieht er Gewalt sogar als legitimes Mittel, um gegen einen vermeintlich repressiven Staat zu kämpfen. Vielleicht ist er aber auch der besonnene, politisch engagierte junge Mann, als den ihn seine Freunde und seine Familie beschreiben und der von seiner Heimatstadt gerade für Zivilcourage ausgezeichnet wurde. Über all das lässt sich nur mutmaßen, belegen lässt es sich nicht.
Ein juristischer Grundsatz lautet: im Zweifel für den Angeklagten. Deshalb kommt es immer wieder zu Freisprüchen aus Mangel an Beweisen, oft "Freisprüche zweiter Klasse" genannt. Im Fall Josef S. lässt sich von einem Schuldspruch aus Mangel an Beweisen sprechen.
Josef S. und seine Verteidiger wollen in den kommenden Tagen entscheiden, ob sie Rechtsmittel einlegen. Seine Mutter würde am liebsten sofort mit ihm zurück nach Jena fahren: "Ich habe kein Interesse, ihn noch eine Minute länger in diesem Land zu lassen." Sie sehnt sich nach Ruhe und Erholung.