Wenn das Assad-Regime wirklich wieder C-Waffen eingesetzt hat, kann die internationale Gemeinschaft das nicht ignorieren. Ist es ein Abschreckungsversuch gegen die neueste Offensive der Rebellen?
Von Alfred Hackensberger, Aleppo
Es ist ein schreckliches Déjà-vu: Menschen liegen am Boden, kreidebleich und mit weißem Schaum vor dem Mund. Kleinkinder husten fürchterlich und haben Atemnot. Es sind Videoaufnahmen von Aktivisten der syrischen Rebellen, und sie zeigen ähnliche Symptome wie die Opfer des Giftgasangriffs im August letzten Jahres bei Damaskus. Damals waren Hunderte von Menschen in al-Ghuta, einem Vorort der syrischen Hauptstadt, ums Leben gekommen. Der neue chemische Angriff soll in Kafr Sita stattgefunden haben. Die Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern liegt unweit der seit Wochen umkämpften Autobahn, die Hama mit dem 200 Kilometer südlich gelegenen Damaskus verbindet.
Dass es sich um einen C-Waffen-Angriff des Regimes handelt, behauptet die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, eine oppositionelle Organisation, die sich aber in den letzten Monaten einige Glaubwürdigkeit erworben hat. Dennoch können die Berichte kaum von unabhängiger Seite überprüft werden. "Die Bomben fielen ohne Unterbrechung. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens", berichtet ein Medienaktivist der Rebellen aus Kafr Sita. Hubschrauber des Regimes hätten die berüchtigten Fassbomben abgeworfen, die dicken Rauch und einen unangenehmen Geruch verbreiteten. Bei den Sprengsätzen handelt es sich um runde Ölbehälter, die mit Explosivstoffen, Benzin und zusätzlich mit Metallteilen gefüllt werden, um eine tödlichere Wirkung zu erzielen.
"Diese Bomben aus den Helikoptern führten zu akuten Atemproblemen und Vergiftungen", sagte Rami Abdel Rahman von der oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London. Dutzende von Menschen sollen verletzt worden sein. Wenn die Berichte der Rebellen aus Kafr Sita sich bestätigen sollten, wäre es der erste Einsatz chemischer Waffen seit dem Gasangriff bei Damaskus am 21. August letzten Jahres.
Damals drohten die USA mit einem Militärschlag gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad und sahen erst davon ab, nachdem sich Assad verpflichtet hatte, alle chemischen Kampfstoffe unter internationaler Kontrolle abzugeben. Bisher sind allerdings nur rund 50 Prozent der tödlichen Chemiewaffen außer Landes gebracht worden.
Die Staatsmedien beschuldigen al-Qaida
Ein weiterer Schlag mit toxischen Stoffen könnte das Assad-Regime erneut unter Druck setzen. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, die aufseiten der syrischen Armee kämpft, hatte letzte Woche verkündigt, die Regierung in Damaskus sei so stabil wie nie seit Beginn des über drei Jahre andauernden Bürgerkriegs. Die schiitische Miliz aus dem Nachbarland hatte den Regimetruppen zu entscheidenden militärischen Siegen verholfen. Aber die Ereignisse in Kafr Sita könnten die Situation ändern.
US-Präsident Barak Obama hatte den Einsatz von chemischen Waffen als rote Linie bezeichnet, deren Überschreitung nicht toleriert werde. Doch die Einigung mit Assad hatten viele internationale Beobachter als glückliche Fügung für den US-Präsidenten gewertet, der nicht wirklich habe eingreifen wollen. Ein neuerlicher C-Waffen-Angriff würde den Kompromiss aufs Spiel setzen und erneut die Frage stellen, wie ernst Obama seine Drohungen meint. Allerdings hatte der amerikanische Enthüllungsjournalist Seymour Hersh jüngst behauptet, die Türkei habe den Giftgasangriff auf Ghuta inszeniert, um die USA zu einer Intervention zu zwingen. Dies sei der wahre Grund für Obamas Zurückhaltung gewesen.
Das syrische Staatsfernsehen gab einer Al-Qaida-Gruppe die Schuld für den aktuellen Angriff in Kafr Sita. "Es gibt Informationen, wonach die Terroristen von Dschabhat al-Nusra giftiges Chlor freisetzten und sogar weitere Anschläge in der Region planen", hieß es dort. Chlor ist einer der am weitesten verbreiteten chemischen Stoffe und wird in der Regel zur Wasseraufbereitung benutzt. Als Gas kann es jedoch tödlich sein.
Deutsche Truppen hatten Chlorgas im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Seit dem Genfer Protokoll von 1925, das auch Syrien unterschrieben hat, ist sein militärischer Einsatz verboten. Auch Russland, neben dem Iran der wichtigste Verbündete des syrischen Regimes, haben die Rebellen schon mehrmals beschuldigt, tödliches Chlorgas eingesetzt zu haben. Bisher haben sie dafür jedoch keine Beweise vorgelegt.
In Aleppo soll alles Leben ausgelöscht werden
Die Ereignisse in Kafr Sita könnten im syrischen Bürgerkrieg zu einer weiteren Eskalation führen. Das Regime begann im Dezember mit bisher unbekannter Härte eine landesweite Offensive. In ihrem Verlauf wurden sämtliche Rebellenstädte der Kalamun-Region entlang der libanesischen Grenze erobert. Aleppo, die einstige Industriemetropole des Landes, steht kurz vor der Umzingelung. Es fehlen nur noch 19 Kilometer, bis die Hochburg der Opposition im Norden völlig eingekreist und damit von der türkischen Grenze abgeschnitten ist, über die immer wieder neue Kämpfer einreisen, mit denen die Rebellen ihre Reihen verstärken.
Wie im Rest des Landes setzt das Regime auch in Aleppo auf seine Lufthoheit. Ständig kreisen Kampfflugzeuge über der Stadt. Ihr Dröhnen ist immerhin deutlich zu hören. Aber die Hubschrauber, die Fassbomben abwerfen, fliegen in so großer Höhe, dass man sie kaum ausmachen kann. Sie verbreiten ein beklemmendes Gefühl in der Großstadt, denn jeden Augenblick kann an jedem Ort eine dieser Bomben niedergehen. Vielfach passiert man Gebäude, die vor wenigen Minuten zerstört worden sind. Verzweifelt suchen Menschen mit bloßen Händen nach Überlebenden und brauchbaren Dingen. Sobald wieder ein Rauschen über den Himmel dröhnt, richten sich die Augen nach oben. Wenn das Geräusch näher kommt, suchen sie panisch Schutz.
Die meisten Straßen Aleppos sind menschenleer. "Es können an einem Tag bis zu 50 Fassbomben fallen", erklärt Osman al-Hadsch Osman in einem Krankenhaus der Stadt. "Das Regime hat das Leben von Zivilisten unmöglich gemacht. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die Stadt verlassen. Nur die Ärmsten der Armen bleiben." Laut der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sind seit dem ersten November 2013 insgesamt 2401 Menschen den Bombardements in Aleppo zum Opfer gefallen. Selbst Krankenhäuser werden beschossen und bombardiert.
"Sie haben alle medizinischen Einrichtungen angegriffen", erzählt Osman. Sein Krankenhaus wurde zuletzt am 7. Februar von Raketen getroffen. Zwei Patienten starben und vier Schwestern wurden zum Teil schwer verletzt. Seitdem arbeitet man hier nur noch im Erdgeschoss und im Keller. "Die Vertreibung der Zivilisten gehört zur Militärstrategie des Regimes", erklärt Osman schulterzuckend. "Man kann dagegen nichts tun, nur weiter arbeiten. Das Regime will eine leere Stadt für die bevorstehende Großoffensive." Draußen auf der Straße ist eine MiG am Himmel zu sehen. Alle Passanten blicken nach oben. Wartende Taxifahrer vor dem Krankenhaus verlassen schon vorsorglich ihren Wagen und suchen Deckung. Dann dreht das Kampfflugzeug wieder ab.
Zweifrontenkrieg zwischen Assad und Islamisten
Monatelang hatten die Rebellen in Aleppo stillgehalten. Sie waren mit der Vertreibung der Al-Qaida-Gruppe Isil beschäftigt, des Islamischen Staats im Irak und der Levante. Diese ultrakonservative islamistische Gruppierung, die ebenfalls gegen das Assad-Regime kämpft, folterte und ermordete systematisch alle Kritiker und diejenigen, die sie dafür hielt.
Die erste Rebellenbrigade, die im Januar den Kampf mit Isil begann, war Dschaisch al-Mudschaheddin. "Nun ist Isil aus Aleppo vertrieben", erklärt Abu Kutaiba, der Führer des Bündnisses, das sich extra für den Kampf gegen Isil gründete. "Jetzt können wir uns ganz auf das Regime konzentrieren." Vor zwei Tagen begann die Armee der Mudschaheddin eine gewaltige Offensive. Es könnte der größte Vormarsch der Rebellen seit 2012 sein.
Bisher ist die Operation erfolgreich. Man hat den Nachschubweg des Regimes zwischen dem internationalen Flughafen von Aleppo zu einer Militärbasis im Osten abgeschnitten, in der sich eine Waffenfabrik befindet. "Wir sehen doch nicht zu, wie uns das Regime einkreist", sagt Abu Kutaiba. "Wir haben ihnen eine Überraschung bereitet", fügt er schmunzelnd hinzu. "So ist eben der Krieg. Das sollten sie mittlerweile wissen."