Bosnien: "Wir sind einfach eine Person mit tausenden Körpern"

Interview mit einer bosnischen Anarchistin

Wir dokumentieren ein Interview mit der Anarchistin “Lo” über die sozialen Proteste in Bosnien-Herzegowina. Geführt wurde das Interview von der Revolutionären Aktion Belarus. Eine Erstveröffentlichung erfolgte auf russisch.


Kannst du dich kurz vorstellen und deine Überzeugungen beschreiben?


Ich bin Lo, Anarchistin aus Sarajewo. Wichtig ist, dass ich kein Mitglied irgendeiner Organisation bin, weil wir so was in Bosnien nicht haben. Als Anarchistin stehe ich durch meine Ideen mit anderen Menschen, die dieselben oder ähnliche Ideen haben, in Verbindung. Also bilden wir eine Gemeinschaft – Slobodari (die durch die Gründung eines unabhängigen Nachrichtennetzwerks bekannt wurde).

 

Welche Proteste finden in Bosnien gerade statt?


In Bosnien finden momentan Proteste gegen die Regierung statt. Um die Situation zu begreifen, müsst ihr verstehen, wie unsere Regierung während der letzten 20 Jahre nach dem Krieg operiert hat (Anm. d. Ü.: Gemeint ist der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995). Seitdem der Krieg vorbei ist und die Menschen ihre Jobs, Familien und ihre Nächsten verloren haben, stagniert Bosnien in der Situation von 1995. Das war natürlich ein guter Nährboden für den Kapitalismus. Es bestand keine Gefahr, dass Menschen wütend werden, da Bosnier*innen von Tod und Zerstörung müde waren. Um uns für die nächsten 20 Jahre zu unterdrücken, nutzten sie geschickt nationalistische Propaganda, weil in Bosnien drei große Nationalitäten gemeinsam leben. Bosnien war schon immer ein multikulturelles Land und den Menschen würde es nicht ein mal im Traum einfallen, das für kriminelle Interessen auszunutzen. So geschah es aber. Am 5. Februar 2014 stellten sich unterdrückte und enttäuschte Arbeiter*innen aus Tuzla vor das Regierungsgebäude und verlangten nach ihren Grundrechten.

 

Wichtig zu wissen ist, dass sie monatelang protestiert haben. Diese Arbeiter*innen bekamen ihren Lohn seit Jahren nicht mehr ausgezahlt und die Betriebe, in denen sie beschäftigt waren, wurden privatisiert. Also gingen sie zur Regierung und baten sich ihren Problemen anzunehmen – die Regierung weigerte sich jedoch. Sie erniedrigte die Menschen buchstäblich, nicht nur indem sie sich mit ihren Problemen nicht auseinandersetzte, die die Probleme ihnen ja bereitet hatte, sondern dass sie mit den Menschen nicht einmal reden wollte! An jenem Tag bekamen sie Unterstützung von jungen Leuten, die wussten, dass sie keine Zukunft in diesem Land haben. Zusätzlich wurden sie von den Arbeitslosen in Tuzla unterstützt. Die Situation wurde spannend als sie in das Regierungsgebäude eingebrochen sind. Danach fingen die Straßenschlachten mit der örtlichen Polizei an. Die Bullen verhielten sich sehr aggressiv und prügelten auf 15-Jährige Kids, auf Alte, auf Kriegsveteranen, usw. ein. Die Cops verletzten einen Protestierenden schwer, anschließend verhafteten sie ihn und ließen ihn nicht ärztlich behandeln. Er wurde letzte Nacht freigelassen.

 

Die Proteste in 21 anderen Städten begannen aus Solidarität mit den 22 Verhafteten in Tuzla. Tuzla beeindruckte uns alle. Die Bosnier wussten, sie müssen rebellieren, wussten aber nicht wie und waren enttäuscht von den gewaltfreien Protesten, die durch Politik und NGOs im vergangenen Sommer organisiert wurden. Sie wissen, dass all diese NGOs von USAID (Anm. d. Ü.: Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung) und NED (Anm. d. Ü.: National Endowment for Democracy) bezahlt werden, also würden sie sich nicht den von ihnen organisierten Protesten anschließen. Nachdem sie gesehen hatten, dass diese Proteste von den Armen akzeptiert wurden und nicht von bezahlten „Berufs-Aktivist*innen“ organisiert sind, gingen die Leute auf die Straße. Am Rande sei erwähnt, dass heute Protestierende Regierungsgebäude in Brand steckten: in Tuzla, Sarajewo, Mostar, Zenica…

 

In Bihać nahmen die Protestierenden den Bürgermeister fest. Wie auch immer, die Situation ist immer noch heikel und unberechenbar – wir wurden vom Platz, auf dem die Proteste stattfanden, vertrieben. Eine Menge Menschen wurden verhaftet, verletzt und es gibt viele Demonstranten mit gesundheitlichen Problemen, weil die Cops auf uns unglaubliche Mengen an Tränengas verschossen. Ich sah Menschen, die beinahe erstickten und versuchten frische Luft zu kriegen, die es in der Gegend gerade nicht gab. Die Bullen verseuchten buchstäblich einen 1 Kilometer langen Straßenabschnitt. Jetzt versuchen wir die Informationen über die Verhafteten zu bekommen, Rechtsanwälte zu organisieren und Essen als auch Kleidung den Geiseln in Staatshänden zu schicken.

 

Was war der Auslöser der Proteste und welche Ursache gab es? Wie kam es zu dieser Gewalteskalation?


Wie ich schon berichtete – die Regierung weigerte sich, mit den Protestierenden zu reden und die Interessen der Arbeiter*innen umzusetzen. So eine Arroganz musste zur Wut bei den Menschen führen. Die bosnische Regierung vergaß, wer sie wählte und für wessen Interessen sie arbeiten sollte – die der Kapitalisten oder die der Arbeiter*innen? Die Entscheidung der Regierung war klar. Unsere war’s auch. :-)

 

Wie beteiligen sich Anarchist*innen an den Protesten? Gibt es irgendwelche libertären Organisationen?


Die hiesigen Anarchist*innen kämpfen zusammen mit den Menschen auf der Straße. Es gibt keine richtige Strategie, weil – wie ihr seht – wir von einer Straße in die andere rennen müssen. Wir als Anarchisten, stellen unsere Positionen den Protestierenden zur Diskussion – wie beispielsweise die Unterstützungsverweigerung jeder politischen Partei und Organisation. Enthusiastisch entgegneten uns die Menschen. Ich weiß, diese Menschen, tief in ihrem Inneren, soweit sie nicht ideologisiert sind, sind echte Anarchist*innen. Und sie zeigten das gestern und heute. Wichtig ist, dass die Protestierenden in ganz Bosnien sich weigerten politische Parteien und NGOs zu unterstützen. Nur in Banja Luka, wo der Protest von der NGO Oštra Nula organisiert wurde, war es anders. Das war ein gewöhnlicher NGO-Protest, mit wenigen Transparenten und man stand ein oder zwei Stunden rum. Aber: Ein Typ wurde für ein Transparent mit der Aufschrift „Dodik is gay and half“ verhaftet (Dodik ist der Präsident der Republik Serbiens. Die Republik Serbien ist Teil Bosniens und nicht des Staates Serbien).


Es gab noch mehr Sachen, die wir den Menschen vorstellten und die sie akzeptierten. Sie sollen auf Autos oder Häuser von gewöhnlichen Menschen achten und sie nicht beschädigen oder gar anzünden, Festgenommene sollen befreit werden, die Unterstützung von Leuten aus anderen Städten soll nicht angenommen werden, sondern man soll die Auswärtigen lieber dabei unterstützen Aufstände in ihren Städten zu organisieren. Wir machten auch klar, dass wir Facebookseiten und -likes nicht brauchen. Wir sind auf den Straßen präsent und die einzige Solidarität, die wir akzeptieren, ist die, hinter der selben Barrikade zu stehen – egal in welcher Stadt. Jegliche NGO-Politik, die beispielsweise Konzerte zur Befriedung veranstaltet, sind zurück zuweisen (Es ist zur Tragikomödie verkommen wie die Repräsentanten der NGOs während der Proteste Konzerte organisieren, um uns vom Kampf abzuhalten). Es gibt keine Blumen für die Polizei, keine Kerzen vor Gebäuden oder ähnliche pathetische Scheiße. Und das Wichtigste: KEIN FRIEDEN MIT DER REGIERUNG! Die Medien fingen an von „Anarchie in Bosnien“ und „Chaos“ zu reden, sie versuchten diese Proteste zu kriminalisieren… Heute habe ich die Leute sagen hören: WER HAT IMMER NOCH ANGST VOR DER ANARCHIE?

 

Aus Gesprächen mit Menschen aus anderen Städten habe ich mitbekommen, dass sie eine andere Regierung nicht wollen und dass diese Proteste, bis die Menschen einen Plan haben, andauern werden. Forderungen stellen die Protestierenden stündlich in Eigeninitiative auf den Straßen. Ein Beispiel: Die Regierung hat 10 Minuten Zeit um alle Gefangenen freizulassen, wenn sie der Forderung nicht nachkommen, wirft man Steine durch die Fenster. Heute bekamen sie ein Geschenk: Es brannte und ein paar Cops mussten ins Krankenhaus! Und all das wird weiter gehen, bis unsere Leute entscheiden, dass es genug ist.

 

Gibt es Unterstützung von Genoss*innen aus anderen Ländern?


Wir erfahren Unterstützung von gewöhnlichen Menschen und Genossen aus der ganzen Welt. Es gibt viel Solidarität, und ich denke, das ist im diesem Moment sehr wichtig. Aus Serbien, Kroatien, Slowenien, Mazedonien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland – von all unseren Nachbarn – kommen solidarische Grüße und wir sind ihnen dafür sehr dankbar. Und nicht nur Solidarität – sie sagten, sie seien von uns inspiriert und jetzt versuchen die Menschen Proteste in Kroatien zu organisieren. Das ist ein wundervolles Gefühl! Und natürlich will ich mich bei den Genoss*innen von Anarchistična Pobuda aus Ljubljana, MASA aus Rijeka (Kroatien) und all den anderen Genoss*innen bedanken, die uns Worte der Solidarität geschickt haben, und vielen von ihnen möchte ich dafür danken, dass sie nach Sarajewo kamen. P.S.: Die Genoss*innen von Anarchistična Pobuda organisieren am Montag Proteste vor der bosnischen Botschaft.

 

Was meinst du, warum berichten die Massenmedien lieber über die Geschehnisse in Kiew und ignorieren die Proteste in Bosnien?


In Kiew werden die Proteste von der Opposition angeführt. In Bosnien gibt es so etwas wie eine Opposition nicht, weil wir jeden verjagt haben, der versuchte, wie ein Anführer zu gebärden. Natürlich versuchten die lokalen Medien „herauszufinden“ wer diese Proteste organisiert hat. Ihr wisst, sie benehmen sich wie Idioten und wollen die „Strippenzieher“ in Erfahrung bringen. Diese dummen Köpfe können nicht verstehen, dass die Proteste von den Menschen organisiert und angeführt werden. Wir sind einfach eine Person mit tausenden von Körpern. Die lokalen Medien versuchten auch die Proteste zu kriminalisieren und uns als Rowdys und Kriminelle abzustempeln. Indem sie Falschmeldungen wie z.B. „sie plündern Geschäfte“ verbreiten. Das ist nicht wahr! „Sie zündeten das Bosnische Archiv an“ – das ist wahr! Wir steckten die Gebäude in Brand, danach aber gingen die Angreifer hinein und riskierten ihre Leben um das Archiv zu retten.


Wie auch immer: bis heute Abend erwähnte der BBC und CNN die Proteste in Bosnien nicht mal ansatzweise. Das sagt eine Menge – das spricht zweifelsfrei für uns. Für einen authentischen Aufstand und gegen den sie alles mögliche auffahren werden, auch in den Medien, sei es durch Ignoranz oder Angriff.

 

Die Menschen verstanden endlich, dass hinter jenem balkanischen Nationalismus nur Geld, Macht und Politik steht. Sie verbrachten 20 Jahre damit, uns mit nationalistisch-chauvinistischen Mythen zu terrorisieren, damit sie uns beherrschen können, um die Reichtümer zu plündern, die verfeindete Nationen in den dunklen Zeiten geschaffen haben. Die Geschehnisse in Bosnien gaben meinem Herzen die Hoffnung, dass die Menschen das endlich eingesehen haben! Ich hoffe, dass der Schwindel des Jahrhunderts, der lautet: „DER NATIONALISMUS IST NUR EIN ANDERER NAME FÜR DEN RAUB AN ARBEITENDEN MENSCHEN!“, verstanden wurde.

 

Wie ist es um die Zukunft des Protests bestellt und in welcher Rolle sehen sich die Anarchisten?


Die Anarchist*innen planen selbstverständlich Seite an Seite mit den Menschen zu bleiben. Besonders jetzt, wenn der Staat mit der Repression reagiert (es wurden bereits über 100 verhaftet). Der Einsatz der Anti-Terror-Einheit ermittelt in der Sache und die amerikanische Botschaft verkündete, dass sie uns nicht unterstützt. Das sagt uns, das wir das schon gut machen. Wir planen natürlich nicht, den Menschen unsere Ideen aufzuzwingen – wir werden aus aller Kraft versuchen, ein lebendiges Beispiel zu sein, wie Menschen miteinander ohne Anführer auskommen können und was ein menschlicher Umgang in der Gesellschaft bedeutet.

 

Als nächstes wollen wir einige Personen daran hindern und ihnen erklären, warum es falsch ist, Zeitungsstände auszuplündern, denn sie sind oft die einzige Einkommensquelle für arme Menschen. Es gibt jede Menge anderer staatlicher und international agierende Unternehmen, die man – ohne den Menschen unsere Klasse Schaden zuzufügen – plündern könnte. Wir diskutierten das heute und wir hoffen, dass diese Situation sich in Richtung Griechenland und der Türkei entwickeln wird, und nicht, wie in Syrien und der Ukraine. Es gibt zwei Gründe, warum wir hoffen und wollen, dass die Situation sich in diese Richtung entwickelt: Erstens – die Menschen in Bosnien sind, soweit wir wissen, nicht miteinander vernetzt und Barrikaden sind der beste Ort um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und mit ihnen zu arbeiten. In meiner Stadt gibt es viele Menschen, die ich nie in meinem Leben getroffen habe (zur Erinnerung: in Sarajewo leben etwa 350 000 Menschen). Das Problem der Trennung zwischen den Menschen kann hier behoben werden. Wir hatten nie eine Chance uns zu begegnen, wir wissen nicht, was Menschen, mit denen wir uns eine Stadt teilen, mögen, was sie glauben, wie sie diese Situation empfinden und am Wichtigsten: wie sie ihre Wut und Empörung ausdrücken wollen und wie sie unsere Zukunft sehen. Zweitens – die Menschen in Bosnien haben nicht vor, in noch einen Krieg für Imperialisten zu ziehen, einen Krieg für nichts und wieder nichts. Sie wollen keine Menschen umbringen, weil diese einen anderen Namen haben, an einen anderen Gott glauben oder in einem anderen Teil des zerstückelten Landes leben.

 

Vielen Dank. Möchtest du abschließend noch ein paar Schlussworte loswerden?


Weil viel Scheiß in den Massenmedien über „Rowdys“ und „Vandalen“ in Bosnien geschrieben wurde, will ich zuletzt klarstellen: Leute, die diese Kids „Rowdys“, „Vandalen“ und „Punks“ nennen, egal ob Presse oder Politiker*innen – diese Leute wissen nicht, wie es sich anfühlt, jeden Tag 8 Stunden in der Schule ohne Geld zu verbringen. Sie kamen nie nach Hause und hörten ihre Mütter sagen: „Wir haben heute nichts zum Essen“.


Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt tage-, oder gar monatelang z.B. keine Schokolade zu essen. Sie trugen nie zerfledderte Klamotten. Sie sitzen in ihren warmen Häusern, essen und trinken was sie wollen, geben Geld in „urbanen“ Clubs aus, fahren Autos mit 18 Jahren. Und natürlich halten sie Moralpredigten vor den Protestierenden und erklären wie falsch das alles ist. JEDER Junge, den sie „Rowdy“ nennen, ist einer, der in Armut aufgewachsen ist. Es ist logisch, dass es für die Kids Zeit zu sagen ist: „ES REICHT!“ Diese Jungs und Mädchen sind wunderbare junge Menschen, die nicht viel verlangen. Sie brauchen so wenig um glücklich zu sein und die Regierung will ihnen nicht ein mal das geben. Also sind sie gekommen, um sich zu holen, was ihnen gehört. Freiheit und rudimentäre Menschenrechte!

 

http://dasgrossethier.wordpress.com/2014/02/20/wir-sind-einfach-eine-person-mit-tausenden-korpern/