Michoacan/Mexiko: Grenzübertritt im Territorium des Templer-Kartells - Ein Erfahrungsbericht

Foto: Juan José Estrada Serafín

Wir reisten aus einer Gemeinde in Michoacan ab, die in den Mainstream-Medien oft falsch als Teil der Region Tierra Caliente bezeichnet wird, aber sie gehört eigentlich zu Sierra. Wir hörten, dass eine Verhandlung zwischen der Landes- und Bundesregierung und den autonomen Selbstverteidigungsgruppen über deren Legalisierung stattfindet. Wir fahren also nach Tepacaltepec, wo das Treffen stattfinden soll. Die Szene ist surreal, gelinde gesagt, aber so ist alles in Michoacan in diesen Tagen, so ist es für uns keine Überraschung mehr. In einem Gebäude, das aussieht wie ein altes Bauernhaus, sind Stühle und Tische mit weißen Tischdecken in einem großen Rechteck angeordnet.


Die Mainstream-Medien treffen ein. Der Hof ist überdacht, überall kann man unbewaffnete Mitglieder der Selbstverteidigungsgruppen (comunitarios) aus dem gesamten Staat unter einem Mesquite-Baum sehen. Obwohl die Mainstream-Medien bei der offiziellen Behauptung bleiben, die Selbstverteidigungspatrouillen sind aus marodierenden Milizen, comunitarios, zusammengesetzt, ist das, was die Menschen in diesem Teil des Staates Selbstverteidigungsgruppen nennen, aus ihrer Beziehung zur Gemeinde entstanden. Sie sind aus der Community und werden daher comunitarios genannt.

Sie spannen zwei Hängematten auf. Sie wissen, dass dieses Treffen nicht beginnt, wenn sie es nicht wollen. Die starke Präsenz der Bundespolizei (federales) ist gut, aber es scheint wirklich nicht zu viel Spannung zwischen den federales und den comunitarios zu geben. Mehrere Bundespolizisten haben ihr Leben im Kampf gegen das Templer-Kartell verloren und es scheint eine gewisse Kameradschaft zwischen den einzelnen comunitarios und federales aufgrund der gemeinesamen Todesfälle zu geben, die weit über jede offizielle Strategie hinausgeht. Beide wissen, dass sie einander brauchen, um ihre Ziele zu erreichen.
Die comunitarios wollen ihre Gemeinden von der organisierten Kriminalität befreien und die federales wollen sich auf der richtigen Seite beweisen, in einem allzu verwirrenden Krieg gegen die Tempelritter, ein Kartell, das mehr wirkt wie ein religiöser Kult als die organisierte Kriminalität der Mafia. Einige comunitarios sind zuversichtlich, dass dies sie vor der weiteren Verfolgung durch die Regierung schützt. Wie auch immer, die meisten comunitarios, mit denen ich bis heute sprach, glauben, wenn die Templer besiegt sind, wird die Bundesregierung anfangen, die comunitarios zu kriminalisieren, zu verfolgen und einzusperren.

Als wir ankamen, bemerkten wir einen Tisch, wo voraussichtlich eine Vielzahl von Regierungsbeamten sitzen werden, denn es standen Platzkärtchen mit offiziellen Regierungssymbolen darauf. Auf bescheidene Weise gibt es ein Gefühl der Hoffnung unter den comunitarios, aber die Verachtung für die Behörden ist immer noch sehr offensichtlich, da sie blind vor der Realität der in diesem durch Krieg zerrissenen Gemeinden waren, und im schlimmsten Fall zu Komplizen der organisierten Kriminalität der Kartelle wurden. Lange vorher bemerken bemerken wir, wie ein Regierungsbeamter die Symbole vom Tisch entfernt. Ein comunitario sagt uns: "Gut, das es nicht ihr Treffen ist, es ist unseres. Wir haben sie mit Aktionen und Ergebnissen an den Verhandlungstisch gezwungen."

Mehrere weiße Limousinen fahren zusammen mit stark militarisierter Bundespolizei und Militärfahrzeugen auf das Gelände des alten Bauernhauses. Sie sind natürlich die Begleitung des Gouverneurs, ausserdem des regionalen Abgesandten der Bundespolizei und des Bundesbeauftragten für Entwicklung und Sicherheit in Michoacan. Dieser Militärschutz veranschaulicht auch die Angst, die sie haben, wenn sie durch dieses Kriegsgebiet reisen. Als der Gouverneur aus seinem Auto steigt, stürzen sich die Mainstream-Medien auf ihn, um die besten Aufnahmen vom Beginn der historischen Sitzung zu bekommen, die voraussichtlich in einem Waffenstillstand zwischen den federales und den comunitarios enden wird. Langsam hört man Buhrufe, Johlen und Brüllen von den comunitarios in Richtung Gouverneur. Eine junge Frau hält ein Schild hoch mit Fragen nach den Absichten der Regierungen, welche sehr gut die Meinung vieler über dieses Treffen wiedergeben. Sie wird von mehreren comunitarios geschützt.

Die Regierung ist gezwungen, die Ineffizienz eines Anti-Drogen-Krieges in der Region anzuerkennen, nebst ihrer Unfähigkeit, Kartellmitglieder in das soziale Gefüge des gesamten Staates zu integrieren. Darüber hinaus müssen sie zugeben, dass die comunitarios genau wissen, wer daran beteiligt ist, wo sie sich verstecken, und was das Kartell in den letzten Jahren mit ihren Familien getan hat. Die Regierungsvertreter geben zu, dass ohne die Hilfe der comunitarios es unmöglich sein würde, das Tempelritter-Kartell loszuwerden. Es ist klar, dass die comunitarios die Oberhand in dieser Situation haben.

Der Vorschlag ist, die comunitarios unter dem Gesetz zu legalisieren und zu formalisieren. Wir hören Flüstern und Gemurmel unter der Menge, als die behördlichen Gründe gegen die Legalisierung dargelegt werden, wonach die Selbstverteidgungsgruppen erfahrungsgemäss eindeutig korrupt und Komplizen der organisierten Kriminalität des Kartells sind. Jedes Mal, wenn der Gouverneur zu sprechen beginnt, hört man Leute Beleidigungen und Buhrufe schreien. Zu diesem Zeitpunkt kündigt ein Moderator Armeepräsenz für die allgemeine Militärzone in Apatzingan an, einer Stadt, die noch heute unter Kontrolle der Templer steht. Der Militärsprecher wird mit einer Flut von Beleidigungen, Buhrufen und Trillerpfeifen empfangen. Es könnte eine Liebe-Hass-Beziehung mit der Bundespolizei in der Region geben, aber die Beziehung mit der Armee ist Hass-Hass.

Jede einzelne Person, mit der wir sprechen, stellt klar, dass das Militär immer wieder bewiesen hat, das es selbst korrupt und ein Komplize des Kartells ist. Nicht zu vergessen, dass eine Woche zuvor bei einem Versuch, comunitarios in der kürzlich befreiten Gemeinschaft von Antunez, etwas außerhalb von Apatzingan, zu entwaffnen, das Militär auf unbewaffnete Zivilisten aus dieser Gemeinschaft feuerte, die in Massen kamen, um die comunitarios gegen diese offene Aggression zu verteidigen. Die Soldaten töteten vier unbewaffnete Menschen, darunter ein 11-jähriges Mädchen.

Das Abkommen zwischen Regierungsbeamten und den Vertretern mehrerer, aber nicht aller, comunitarios, umfasst die Legalisierung der comunitarios unter amtlicher Autorität durch die Registrierung ihrer Waffen und ihrer Namen beim Verteidigungsministerium. Das steht in krassem Widerspruch zu der militärischen Strategie eine Woche zuvor in Antunez, und macht einige der comunitarios unruhig. Auf der anderen Seite ist die Regierung gezwungen, sich öffentlich zu verpflichten, die Mitglieder des Kartells der organisierten Kriminalität zu verfolgen und sie einzusperren. Die Befürchtung ist, dass diese Namensliste der comunitarios später dazu verwendet wird, sie zu kriminalisieren und zu inhaftieren, nachdem die comunitarios den Staat von den Tempelrittern befreit haben.

Eine weitere, häufig geäußerte Befürchtung ist, dass die ganze Vereinbarung nur reines Theater ist, ein Akt der Bundesregierung, um Zeit zu gewinnen und die Situation unter Kontrolle zu bringen. Wieder hört man aus dem Publikum mehrere Buhrufe. Zwei ältere Frauen aus Apatzingan, die anonym bleiben wollen, sagen mir: "Warum sollen sie sich anmelden? Warum mit der Regierung zusammenarbeiten, wenn wir bewiesen haben, dass wir sie nicht brauchen, und wir uns selbst organisieren und verteidigen können? Warum auf dem "Weißen Kragen der Kriminellen" unterschreiben?" Ich rede mit einem comunitario über die gute Zusammenarbeit mit der Bundespolizei und der sehr schlechten Koordinierung mit dem Militär, die er immer und immer wieder gesehen hat. Er sagt mir: "Wir versuchen, alle möglichen legitimen Mittel auszuschöpfen, um uns selbst und unsere Gemeinden zu verteidigen. Es gibt sehr wenig Vertrauen in die Regierung, und wir glauben, dass sie ihr Versprechen nicht halten. Egal ob sie es tun oder nicht, wir werden auch weiterhin die Kontrolle über unsere eigene Sicherheit ausüben."

Während des Meetings hören wir, dass einige comunitarios in die Community von Periban vorrücken. Wir entscheiden uns, dahin zu fahren, um zu sehen, was los ist. Zehn Kilometer vor Periban stoßen wir auf einen kleinen Check-Point der Communitarios. Sie sind in höchster Alarmbereitschaft wegen dem sogenannten "Kakerlaken-Effekt", wie sie es nennen. Wenn die comunitarios ihr Gebeit um andere Gemeinden erweitern, verstreuen sich die Templarios wie Kakerlaken in die angrenzenden Gemeinden. Wir sprechen mit einem der comunitarios und fragen ihn nach dem Abkommen mit der Regierung zur Legalisierung, und er wiederholt das Gefühl der anderen im Meeting, "Sie (die Regierungsvertreter) benutzen uns nur, um gut dazustehen. Aber in Wirklichkeit wollen sie diese Namensliste, so dass sie uns, wenn die richtige Zeit gekommen ist, entwaffnen und verhaften können, nachdem wir ihre Arbeit gemacht haben."

Wir fahren nach Periban. Die ganze Zeit über, wo wir dort sind, ist der Marktplatz voll von Community-Mitgliedern, und es gibt nur eine (relativ) kleine Militär-und Bundespolizeipräsenz. Wir sehen nur sehr wenige comunitarios, meist mit Handfeuerwaffen, die über die Plaza spazieren. Das Gefühl war fast feierlich. Die Stadt schien, als würde sie nach sehr langer Zeit erstmals erleichtert aufatmen. Das Gerücht geht um, dass die comunitarios nun in die nächste Gemeinde, Los Reyes, 10 Kilometer entfernt, vorrücken werden.

Gegenüber dem Stadtrand sehen wir drei Pickups voller Männer mit Jagdgewehren, Schrotflinten und Sturmgewehren. Wir entscheiden uns, ihnen zu folgen. Sie treffen sich mit mehreren anderen Männern am Rand von Periban. Sie haben viele Fahrzeuge und Waffen. Hier treffen wir einen comunitario, der etwas Ruhm in den Mainstram-Medien erlangt hat, bekannt als Simón el Americano. Er sagt uns, dass erst am nächsten Tag vorgerrückt wird. Spätere Berichte vom Vorstoß nach Los Reyes besagen, dass die Übernahme friedlich und festlich war. Die comunitarios planen langsam weiter ihren Weg nach Uruapan, eine städtische Metropole und Hochburg der Templer.

Wir beschließen, einige Kollegen nach Uruapan zu fahren, die nach einer schwierigen und gleichzeitig inspirierenden Woche nach Hause wollen. Auf dem Weg von Uruapan zur Community zurück, wo wir leben, entscheiden wir uns, anstatt durch die militärische Zone zu fahren, eine öffentliche Strasse zu nehmen, die wir in der Vergangenheit gefahren sind, weil wir wegen dem "Kakerlaken-Effekt" Angst um unser Leben haben. Wir fahren in Richtung Apatzingan, das eigentlich immernoch unter der Kontrolle der Templar steht, obwohl es im Grunde genommen von den comunitarios eingekreist ist. Sie warten nur auf den günstigsten Moment, um die dortige Community zu befreien, was in erster Linie eine symbolische Geste sein wird.

Etwa eine Stunde von Uruapan entfernt, gleich hinter der 110-km-Markierung am Straßenrand, sehen wir eine Szene, die nur allzu üblich im Templar-Gebiet ist. Ein Sattelzug stoppte in unserer Spur, und ein Anderer hat in der Gegenrichtung in der anderen Spur geparkt. Es ist genug Platz zwischen ihnen, so dass die ersten Fahrzeuge durch diese Lücke fahren können, aber ich halte das Auto etwa 50 Meter entfernt an, und wir beobachten. Die Fahrzeuge stehen vor einer PEMEX-Tankstelle, und wir sehen einige Pickups auf dem Parkplatz, aber nicht um Benzin zu tanken, sondern schnell zusammen die Ausfahrt zu blockieren. Es gibt keine Signallichter oder orangenen Kegel auf der Straße, ein klassisches Zeichen eines offiziellen Militär-, Polizei- oder Comunitario-Check-Points. Wir denken, dass es sich um eine Drogen-Blockade oder Narco-Blockade handelt, eine Straßensperren-Taktik der Templer, um Privatpersonen und Geschäftsleute zu entführen, zu erpressen und auszurauben.

Ich legte den Rückwärtsgang ein, machte eine Kehrtwende rückwärts und wir fuhren ein paar Kilometer zu einem 24-Stunden-Truck-Stop. Wie wir auf den Truck-Stop zuhalten, versuchen zwei Traktoren so gut es geht, einen LKW zu stoppen. Wir nehmen an, das sie sie angehalten haben, um sie vor der Narco- Blockade auf der Straße zu warnen, bevor es zu spät ist. Wir wechselten kein Wort miteinander. Niemand weiß, wer Mitglied der Templer sein könnte. Wir bestellten Kaffee wie die Lkw-Fahrer. Meine Kollegen und ich hatten bereits vereinbart, eine halbe Stunde zu warten, um es erneut zu versuchen. Falls die Straße noch gesperrt war, würden wir wieder nach Uruapan in ein Hotel fahren. Als ich die Rechnung bezahlte, sagte die junge Frau von der Raststätte: "Gott segne Ihre Reise!" Ich bin mir ziemlich sicher, dass alle von uns wussten, dass die Straße ein enormes Sicherheitsrisiko für uns alle bedeutet. Ohne ein Wort gewechselt zu haben, verlassen die LKW-Fahrer und wir die Raststätte zur gleichen Zeit. Wir fahren sehr langsam hinter ihnen her und kommen an die Tankstelle, die Strasse ist leer und die 24-Stunden-Tankstelle hat geschlossen, alle Lichter sind ausgeschaltet, und es gibt keine Seele weit und breit.

Die Templer sind bekannt dafür, Unternehmen zu überfallen, Mitarbeiter und Personen auszurauben, und Zivilisten zu entführen. Wir gehen davon aus, dass es sich hier genau um das handelt, was bereits heute nacht passiert ist. Wir fahren weiter zur Community von Lombardia und bei Kilometer 115 gibt es einen Checkpoint, außer dass er diesmal offiziell aussieht. Signallichter sind zu sehen, sowie orangene Verkehrskegel. Ich bemerkte noch vorher, als wir näher kamen, dass die Geschwindigkeitsschilder auf der Straße sauber und frisch waren. Sie sind in der Regel aus Streifen alter Reifen hergestellt. Sehr wenige Fahrzeuge sind hier durchgefahren. Wir diskutieren die Situation, es gibt keine Bundespolizei oder militärische Präsenz. Es gibt keine offiziellen Zeichen. Der Checkpoint hat alle Eigenheiten eines Comunitario-Checkpoints, aber wir sind uns der Tatsache bewusst, dass die comunitarios noch nicht bis hierher vorgerrückt sind. Dies war ein Templer-Check-Point, und es war zu spät, umzukehren.

Wir sehen mehrere Männer versteckt hinter Barrikaden und Sandsäcken, einer blinkt uns mit einer Taschenlampe an und befiehlt uns, anzuhalten. Wir kurbeln das Fenster auf der Beifahrerseite runter, ich zeige meinen internationalen Presseausweis und wir werden durchgewinkt, ohne Fragen zu stellen. Wir fahren weiter und etwa einen Kilometer danach sehen wir mehrere Armeelastwagen mit Soldaten, die am Straßenrand parken. Sie haben uns oder andere nicht angehalten, sie sind nur da. Ihre Anwesenheit gibt uns kein Gefühl der Sicherheit. Wir setzen unseren Weg nach Apatzingan fort. In Apatzingan gibt es nur Taxis, mit denen die Templer in der Gegend patrouillieren. Wir halten Abstand zu den Taxis, indem wir sehr langsam fahren und an Ampeln nur anhalten, wenn es absolut notwendig ist. Unser Ziel ist ein Comunitario-Kontrollpunkt in Buenavista, der den Weg zu mehreren befreiten Gemeinden öffnet und zurück zu unserem Ausgangspunkt führt, knapp 3 Stunden entfernt.

Bald sehen wir die Signallichter und orangenen Kegel vor Buena Vista. Dieses Mal wissen wir, dass sind comunitarios. Diese Grenze zu überqueren war die grösste Erleichterung, die ich je in meinem Leben empfunden habe. Wir informieren die comunitarios über die aktuelle Situation, damit sie im Radio keine falschen Informationen für andere in der Region Lombardia verbreiten. Sie bestätigten, dass eine Narco-Blockade außerhalb Lombardias war, und wir waren sehr glücklich gewesen, alle alarmiert zu haben, um Schlimmeres zu verhindern. Das Comunitario-Radio warnte alle anderen comunitario-Checkpoints, die auf unserem Weg lagen. Wir erkannten erst jetzt, als wir in diesem befreiten Gebiet waren, dass trotz der öffentlichen Meinung über den gesamten Bundesstaat Michoacán, wir nun an einem der sichersten Orte des Landes, vielleicht der ganzen Welt sind, dem Territorium der Communitarios!

 

Übersetzung by @FibsFreitag

 

http://elenemigocomun.net/2014/01/crossing-borders-templar-territory/ (eng)

http://elenemigocomun.net/es/2014/01/cruzando-fronteras-territorio-templ... (esp)

 

Veröffentlicht am 30. Januar 2014 in Michoacán

von Simon Sedillo