Wenige Monate vor Beginn der Fussball-WM droht Brasilien eine neue Protestwelle. Der Regierung scheint jedes Mittel recht zu sein, um eine Situation wie im letzten Jahr zu verhindern.
Tjerk Brühwiller, São Paulo
(ap) Eine gewaltsame Konfrontation zwischen Polizeikräften und Demonstranten in Rio de Janeiro hat am Donnerstag mindestens sieben Verletzte gefordert. Unter ihnen befindet sich auch ein Kameramann des Senders «Band», der von einem Knallkörper am Kopf getroffen und mit schweren Verletzungen ins Spital eingeliefert wurde. Unklar ist, ob es sich beim Geschoss um einen Feuerwerkskörper eines Demonstranten oder eine Tränengaspatrone der Polizei handelte. Der Protest der rund 400 Demonstranten richtete sich gegen eine angekündigte Erhöhung der Bustarife. Nach einem Marsch durch die Innenstadt zogen die Demonstranten zum Zentralbahnhof, wo sie die Passagiere aufforderten, ohne zu bezahlen, die Drehkreuze zu passieren. Als es zu Vandalenakten kam, griff die Polizei unter Einsatz von Tränengas ein.
Latente Unzufriedenheit
Ein gutes halbes Jahr ist es her, seitdem aus einem Protest gegen die Erhöhung der Fahrpreise in São Paulo, der von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen worden war, eine landesweite Protestwelle mit mehr als einer Million Teilnehmern in etlichen Städten Brasiliens entstand. Es waren die grössten Demonstrationen der letzten zwei Jahrzehnte in Brasilien. Die Proteste waren Ausdruck einer latenten Unzufriedenheit vieler vor allem junger Brasilianer mit den öffentlichen Diensten und einer gesteigerten Erwartungshaltung. Die spontan über soziale Netzwerke im Internet ausgerufenen Proteste richteten sich zudem gegen Korruption und die Verschwendung öffentlicher Gelder für die Fussball-WM. Die Regierung reagierte mit einigen Eingeständnissen und Gesetzesprojekten im Bereich des Gesundheits- und Bildungswesens. Viel getan hat sich bisher allerdings nicht. Zahlreiche Versprechen, so zum Beispiel die Einleitung einer politischen Reform, blieben auf der Strecke.
Die Protestwelle, die im vergangenen Juni während des Konföderationen-Cups, des WM-Vorbereitungsturniers, ihren Höhepunkt erreichte, flachte in der zweiten Jahreshälfte dennoch ab. Radikale anarchistische Gruppen hielten die Polizei jedoch weiterhin mit gewaltsamen Protesten, Vandalenakten und Plünderungen in Atem. Nun droht eine weitere Welle der Mobilisierung. In den vergangenen Wochen war es in mehreren Städten zu kleineren Demonstrationen gegen die Fussball-WM gekommen. Daneben werden auch Aktionen der Gewerkschaften und verschiedener Organisationen erwartet, die eine Reihe von offenen Forderungen an die Regierung haben. Der Gewerkschaftsbund hat für den 9. April zum Generalstreik ausgerufen.
Überwachung von E-Mails
Viele Brasilianer gehen davon aus, dass eine grössere Mobilisierung während der WM unwahrscheinlich ist, da der Mehrheit der Brasilianer viel am Fussballturnier liegt und Demonstrationen deswegen der Rückhalt fehlen würde. Das Szenario kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, zumal sich Brasiliens Wirtschaft derzeit deutlich abkühlt und im Oktober Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Das politische Klima ist aufgeheizt. Es verwundert daher nicht, dass die Regierung mit Blick auf die WM im kommenden Juni in Alarmstimmung ist. Um während der WM Zustände wie im vergangenen Juni zu verhindern, setzen die brasilianischen Sicherheitskräfte vermehrt auf den Einsatz von verdeckten Ermittlern und die Überwachung der sozialen Netzwerke im Internet. Laut der Nachrichtenagentur Reuters, die sich auf offizielle Quellen stützt, soll auch der E-Mail-Verkehr von Mitgliedern radikaler Gruppierungen und Drahtziehern der Proteste gefiltert werden. Dies ist insofern eine Ironie, als dass sich Brasilien als einer der Hüter der Privatsphäre im Internet sieht. Der Regierung in Brasilia scheint jedes Mittel recht zu sein, um eine reibungslose Fussball-WM – und Wiederwahl – sicherzustellen.