Das Thema sexuelle Vielfalt im Unterricht erhitzt am Samstag die Gemüter Hunderter Demonstranten in Stuttgart. Die einen finden die „Regenbogenideologie widerlich und ungesund“. Andere wünschen sich gemeinsames Leben und Lernen.
Stuttgart. „Wenn Toleranz, dann bitte für alle“, findet Claudia Bamberger. Gemeinsam mit rund 700 anderen Demonstranten protestiert sie am Samstag gegen die Pläne der grün-roten Landesregierung, sexuelle Vielfalt verstärkt im Unterricht zu thematisieren. Sexualität sei doch viel zu fragil, zu zart für die Schule, meint sie. „Das gehört ins Elternhaus.“
Das Kultusministerium erarbeitet gerade neue Bildungspläne, in denen das Thema sexuelle Vielfalt im Unterricht aufgewertet wird. Dies halten fast ebenso viele Menschen für wichtig und gehen dafür in der Landeshauptstadt auf die Straße.
Zu ihnen gehört Jürgen Effing. Er findet es notwendig, die unterschiedlichen Lebensformen abzubilden. „Das klassische Familienbild gibt es doch schon lange nicht mehr“, sagt der Stuttgarter. Er denkt an Patchworkfamilien, geschiedene Eltern, aber eben auch an Familien mit zwei Mamas oder Papas. All das solle seinen Platz an Schulen finden, allerdings kindgerecht vermittelt.
Emotional geht es an diesem Nachmittag zu. Die Befürworter des Bildungsplans rufen den Anhängern auf das klassische Familienbild begrenzter Sexualerziehung entgegen: „Eure Kinder werden so wie wir“ Auf einem Schild ist zu lesen „Vor Gott sind alle gleich.“ Die Vertreter der Gegenseite kritisieren auf ihren Transparenten die „Regenbogenideologie“ von Grün-Rot und mahnen: „Aufklärung ab vier - wie krank seid ihr?“ Diese Plakate verleiten einige Störenfriede zu so heftigen Protesten, dass die Polizei sie festhält.
"Anderssein können ohne Angst"
Bamberger und Effing eint aber der Wunsch, mit einander ins Gespräch zu kommen. Der 50-jährige Stuttgarter denkt an einen gemeinsamen Weg mit Gesprächen, der alle an einen Tisch bringt, Eltern, Lehrer und die Kinder, um Vorurteile abzubauen. Auch die 53-Jährige dreifache Mutter und vierfache Oma möchte ein Ende des Streits. Ein Problem mit Homosexualität habe sie nicht im geringsten. „Ich habe homosexuelle Freunde, das ist doch gar nicht der Grund“, stellt die Pforzheimerin klar. Momentan fühlt sie sich diskriminiert: Ihre Meinung würde als „krank“ bezeichnet werden, das sei nicht schön.
Andere sind da radikaler. Eine junge Demonstrantin aus Trossingen setzt sich nicht nur gegen die „Frühsexualisierung der Kinder ein“, sondern auch gegen Homosexualität. „Das ist falsch, das ist Sünde, da kann man den Kindern ja auch zeigen, was Mord ist“, sagt die kleine rothaarige Frau entschieden, die ihren Namen nicht nennen möchte. Beides könne sie als Christin nicht gutheißen.
Wie rund 192.000 andere hat sie eine Online-Petition gegen das Vorhaben der Landesregierung unterzeichnet. Die beiden Gegen-Petitionen kommen auf 136.300 beziehungsweise 87.800 Unterschriften.
Auch Anne Huschens ist für eine offene Diskussion. Sie ist aktive Lehrerin im Arbeitskreis Lesbenpolitik der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Es dürfe auch gerne kontrovers sein, bekräftigt die 55-Jährige, die selbst am Bildungsplan mitgearbeitet hat. „Anderssein können ohne Angst“, das wünscht sie sich für die jungen Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender am meisten. Dass das nicht selbstverständlich zu sein scheint, schockiert viele. Mit Blick auf ein neues homosexuellenfeindliches Gesetz in Russland sagt eine Rednerin: „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast denken wir sind in Sotschi und nicht in Baden-Württemberg.“