Können die Fotos mutmaßlicher Folteropfer einen diplomatischen Durchbruch bei den Verhandlungen in Genf bewirken?
Abgesehen vom nackten Überleben in einem Bürgerkrieg, der bereits 130.000 Menschen das Leben gekostet und Millionen vertrieben hat – besteht die Herausforderung für die Syrer darin, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu erregen. Denn das Töten geht Monat um Monat weiter und der Rest der Welt scheint wegzusehen, gelähmt von dem Gefühl, ohnehin nichts tun tu können.
Es muss schon etwas äußerst Schwerwiegendes und Schockierendes geschehen, um diese Starre zu lösen. Im August vergangenen Jahres war dies der Einsatz von Chemiewaffen im Damaszener Vorort Ghouta, bei dem schätzungsweise 1.400 Menschen (darunter 400 Kinder) ums Leben kamen. Jetzt ist es der Bericht von drei ehemaligen Chefanklägern in Kriegsverbrecherprozessen. Sie erklären, überzeugende Beweise für die systematische Ermordung von elftausend Gefangenen gesehen zu haben. Die Toten seien verhungert, durch Schläge und Folter zu Tode gekommen, man habe ihnen die Augen ausgestochen oder sie mit elektrischen Schlägen ermordet. Da sich dies alles nur in einem begrenzten Teil Syriens zugetragen haben soll, liegt die Vermutung nicht fern, dass die Gesamtzahl der Foltertoten im Land noch weitaus höher liegt.
Eine seriöse Quelle
Die Quelle, von der die Beweisstücke stammen, scheint über jeden Zweifel erhaben: Es handelt sich um einen ehemaligen, mittlerweile übergelaufenen Fotografen der syrischen Regierung. Die Verfasser des Berichts, die den Urheber der Bilder drei Tage lang befragt haben, haben mit keiner der beteiligten Kriegsparteien irgendwelche Rechnungen offen und sind in hohem Maße glaubwürdig: Sie haben als Chefankläger bei den Kriegsverbrechertribunalen für Sierra Leone, Ex-Jugoslawien und Liberia gearbeitet. Ihre Integrität dürfte die Bedenken zerstreuen, die angesichts der Auftraggeber des Berichts aufkommen können: In Auftrag gegeben und finanziert wurde er von der Regierung Katars, die im Syrien-Konflikt die Aufständischen unterstützt. Die Beweise sind einfach zu überwältigend und die Reputation derjenigen, die sie bewertet haben, zu stark, um den Bericht als Propaganda Katars abqualifizieren zu können (auch wenn einige dies versuchen).
Die Art der Beweise dürfte den stärksten Einfluss auf die Meinung der Weltöffentlichkeit haben. Einer der Autoren des Berichts, Sir Desmond de Silva, sagte in einem Radiointerview, die Bilder erinnerten an die ersten Aufnahmen der 1945 befreiten Konzentrationslager. Die Aufnahmen extrem abgemagerter Leichname bekräftigen diesen Eindruck. Die Vorstellung, dass Kinder vergast wurden, hatte eine ähnlich starke emotionale Wirkung, als das Massaker von Ghouta im vergangenen Jahr publik wurde. Scheinbar haben wir bei der Beurteilung von Gräueltaten einen unausgesprochenen inneren Maßstab: Alles, was Erinnerungen an den Holocaust wachruft, wird von uns als besonders schwerwiegend eingeschätzt.
Konsequenzen sind nötig. Aber welche?
Aus diesem Grund haben die elftausend Bilder, ähnlich wie Ghouta, das Potenzial, die Lethargie und Untätigkeit zu durchbrechen, welche die Diskussion über Syrien über weite Strecken erstickt hat. Ghouta brachte Präsident Obama zu der Aussage, eine rote Linie sei überschritten worden. Er drohte mit einer Militäraktion, die eine Zeitlang kurz bevorzustehen schien. Wird auch die jüngste Enthüllung Konsequenzen haben? Und wenn ja, welche?
Die Lust auf eine militärische Intervention ist nach wie vor gering. David Cameron hat sie nach seiner Abstimmungsniederlage im britischen Unterhaus ausgeschlossen und Barack Obama sagte in einem Interview in der aktuellen Ausgabe des New Yorker über ein mögliches Eingreifen, er könne sich „nur sehr schwer ein Szenario vorstellen, in dem ein Engagement unsererseits in Syrien die Dinge zum besseren hätte wenden können, solange wir nicht zu einer Anstrengung bereit gewesen wären, die in Größe und Ausmaß an das herangereicht hätte, was wir im Irak getan haben“. Es gibt keinen Grund dafür, warum er an dieser Haltung etwas geändert haben sollte.
Stattdessen liegen alle Hoffnungen auf einem diplomatischen Durchbruch. Die Erwartungen gegenüber den Genf II-Gesprächen – die zweifellos den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Folterbilder erklären – könnten kaum geringer sein, vor allem, da der Iran vor vor Beginn doch wieder ausgeladen wurde. Dennoch kann einen die Bewegung, die in die festgefahrene Lage nach der Enthüllung über die Gasangriffe entstanden ist, hoffnungsvoll stimmen. Die drohende Intervention der Amerikaner führte vergangenen September zu einer gemeinsamen russisch-amerikanischen Initiative, die das Assad-Regime dazu bewegte, seine Chemiewaffen abzubauen.
Es gibt keinen Grund, weshalb eine vergleichbare internationale Entschlossenheit keine substanziellen Fortschritte zeitigen sollte. Heute wie damals ist die Haltung Russlands entscheidend. Wenn Wladimir Putin zu dem Schluss kommt, dass die uneingeschränkte Nachsicht mit Baschar al-Assad nicht mehr länger in seinem Interesse liegt, wird er sich bewegen und die Blockade der diplomatischen Kanäle wird aufgehoben. Es ist schon einmal geschehen. Es kann wieder geschehen. Doch zuerst Russland muss die internationale Empörung spüren. Die Folter-Bilder und die schreckliche Geschichte, die sie erzählen, haben das Potenzial, sie zu erzeugen.