In der Zone

Erstveröffentlicht: 
12.01.2014

Ständig kommt es in Hamburg zu Angriffen auf die Polizei. Die wiederum hat Teile der Innenstadt zu Gefahrengebieten erklärt. Unser Autor war mittendrin

Da kommen sie! Etwa 40 bis 50 Polizisten laufen in Zweierreihen auf die Menschengruppe in der Brigittenstraße zu, teilen sich auf, bilden eine Kette und riegeln die Straße ab. Ihre Kollegen rücken von der anderen Richtung auf die wohl 60 schwarz gekleideten jungen Männer und Frauen vor; eine Polizistin in voller Schutzmontur schubst eine junge Frau vor sich her, als verrücke sie lustlos ein altes Möbelstück. Die schreit auf, könnte das Geschubse aber vermeiden, wenn sie Platz machen würde.

 

Dann ist der Kessel dicht. Nur innerhalb eines kleinen Rechtecks können sich die Eingeschlossenen jetzt noch bewegen. "Haut ab, haut ab", skandieren die Demonstranten mitten im Wohnviertel auf St. Pauli. Oder auch "BRD, Bullen-Staat, wir haben dich zum Kotzen satt!" Aber eigentlich bleibt alles friedlich, es fliegen keine Böller, keine Steine, keine Flaschen, es wird auf der anderen Seite nicht geprügelt oder getreten. Hier macht am Mittwochabend jeder seinen Dienst: die Hamburger Polizei und die Nachwuchs-Revolutionäre, die sich wichtig fühlen dürfen, weil der Staat sie jagen lässt, einfach um seinen Anspruch auf Versammlungsverbote durchzusetzen.

 

Willkommen im Hamburger Gefahrengebiet an Tag fünf. Die US-Botschaft warnt gerade Amerikaner vor der Reise in die Hansestadt, und der Gaststättenverband mault über ihren derzeit schlechten Ruf.

 

Was ist bloß los im beschaulichen "Hamburch", wie Alt-Kanzler Helmut Schmidt immer so schön sagt? Versinkt die Stadt in Chaos und Anarchie, dass die Polizei so auf der Zinne ist? Meint Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), dass die Einrichtung eines Gefahrengebiets das Sicherheitsgefühl stärkt? In diesen Bereichen (siehe Karte) sind verdachtsunabhängige Kontrollen möglich, und die Polizei hat das Recht, jeden Bürger ohne Begründung aus dem Gebiet "auszuweisen". Ist die "danger zone" tatsächlich ein "Erfolg", wie die Polizei am Freitag bekannt gibt?

 

Nach und nach entlässt der Zugführer die Demonstranten aus dem Kessel; etwa 20 Minuten standen sie dort.

 

Es hat in den vergangenen Wochen ganz schön geknallt in Deutschlands zweitgrößter Stadt: Am 21. Dezember gerieten der schwarze Block und die Polizei bei einer Demonstration aneinander und lieferten sich eine Schlacht, wie es sie an der Elbe lange nicht gegeben hat. Minutenlang prasselten Steine, Gehwegplatten und Böller in der Straße Schulterblatt im Stadtteil Sternschanze auf die Beamten ein. Eigentlich sollte es um das weitere Schicksal der Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg  gehen, um Gentrifizierungskritik und das autonome Stadtteil-Zentrum namens Rote Flora, das die Politik erhalten, der Besitzer aber zu Geld machen will. Über diese Themen redet heute kaum noch jemand.

 

Die Polizei löste die Demonstration auf, bevor sie begann. Fast 170 Beamte wurden verletzt, Scheiben gingen zu Bruch, Streifenwagen wurden demoliert. Und dann gab es in der Nacht zum 29. Dezember einen Angriff auf Beamte in der Nähe der Davidwache auf St.Pauli, bei dem ein Polizist von einem Stein getroffen wurde und einen Kieferbruch erlitt. Die Täter sind in solchen Fällen kaum zu ermitteln, aber die Polizei wollte etwas unternehmen.

 

Und so richtete die Behörde am 4.Januar ein großes Gefahrengebiet ein, das sich quadratkilometergroß über mehrere Stadtteile erstreckt. Am Donnerstag dampfte die Polizei die Zone dann auf drei Inseln rund um die gefährdeten Polizeiwachen ein. Trotzig behauptet die Pressestelle der Ordnungshüter, dass "potenzielle Störer erkannt" und "dadurch die Ausübung schwerer Straftaten weitgehend unterbunden werden" konnten. Aber die Diskussion bleibt: Muss die Polizei mehr Rechte bekommen, um Sicherheit zu produzieren?

 

Nein, sagt zum Beispiel Hamburgs früherer Justizsenator Till Steffen (Grüne), der solche Kontrollzonen für "rechtsstaatlich höchst bedenklich" hält und dem Senat "Aktionismus und Hilflosigkeit" vorwirft. "Das soll Sicherheit suggerieren, aber die lässt sich nicht verordnen." Auch die FDP und die Linke halten das Vorgehen der Polizei für übertrieben.

 

Während Bürgermeister Scholz und sein Innensenator Michael Neumann (SPD) Härte zeigen wollen, tanzen die jugendlichen Protestierer mit den schwarzen Kapuzen-Pullovern um die Mannschaftswagen der Polizei. "Feuer und Flamme für diesen Staat", schreien sie. Die Beamten in den Vollschutzanzügen setzen den Sicherheitsanspruch von Scholz gegen Hunderte Spaßvögel durch, die nichts anderes machen, als durch die Straßen zu ziehen, Polizisten zu alarmieren und sich kontrollieren zu lassen.

 

Denn das bringt Punkte: Längst hat sich eine Spaßguerilla etabliert, die "Bonuskarten" ins Internet stellt und für Identitätskontrollen (5 Punkte), Aufenthaltsverbot (10 Punkte) oder Ingewahrsamnahmen (20 Punkte) vergibt – für Steinwürfe gibt es aber "50 Punkte Abzug", heißt es auf einer Seite. Als Symbol des Protests hat sich inzwischen eine Klobürste etabliert, die viele dabei haben, weil im ARD-"Nachtmagazin" ein Polizist bei einer Kontrolle gefilmt wurde, der ein solches Utensil aus dem Hosenbund eines Mannes fischte. Eine Klobürste macht bundesweit Karriere als Wahrzeichen des Protestes gegen ein umstrittenes Gefahrengebiet.

 

Bürgermeister Olaf Scholz, der bei Amtsantritt vor drei Jahren eine "glanzvolle Regierung" ankündigte, dürfte das mächtig ärgern. Keiner interessiert sich mehr für seine erfolgreiche Wohnungsbaupolitik und die guten Umfragewerte, alle fragen nur noch, was in Hamburg los ist. Fast können einem die müde dreinblickenden Polizisten leidtun, dass sie keine echten Kriminellen jagen können.

 

Gegen 22.30 Uhr wird es aber noch einmal spannend in der Zone. Am Spielbudenplatz haben sich etwa 50 Demonstranten versammelt. Über den Kurznachrichtendienst Twitter lässt sich herausfinden, wo sich gerade etwas anbahnt. Reporter und Fotograf laufen mit den dunklen Gestalten durch die Straßen St. Paulis. Vor dem Operettenhaus sitzt ein Dutzend Protestierer im Polizeikessel fest und muss sich ausweisen. Wer keine verbotenen Gegenstände wie Pyrotechnik oder Wurfgeschosse bei sich trägt, wird nicht weiter behelligt. Niemand hat solche Gegenstände dabei. Umherstehende feixen und provozieren die Polizisten: "Eure Kinder werden so wie wir!", singen sie auf der Melodie von "Einer geht noch rein".

 

Der Kessel wird aufgelöst, alle scheinen sich zu entspannen. Doch plötzlich umringen die Beamten ein weiteres Dutzend Leute, die abseits standen – unter anderem den Autor dieser Zeilen. Der Presseausweis bleibt drin, mal sehen, was passiert.

 

Die Polizisten merken sofort, dass etwas nicht stimmt. "Wie kommen Sie denn hier rein?", fragt einer. "Sind Sie eine Art beobachtender Bürger?", fragt ein zweiter, der davon ausgehen muss, dass ein Journalist sich sofort zu erkennen gegeben hätte. Aber beobachtender Bürger – das klingt doch gut.

 

Mit ausgesuchter Höflichkeit werden wir belehrt, um was für eine "Maßnahme" es sich hier handelt. Man wünscht, den Ausweis zu sehen. "Habe ich nicht dabei". – "Dann müssen wir auf die Wache gehen." Ja, bloß auf welche? Nebenan, zur Davidwache? Oder fahren sie einen an die Stadtgrenze, um auch einmal ihren Spaß zu haben? "Gut, ich habe ihn doch dabei."

 

Eine Frau notiert alle Daten vom Personalausweis, blickt den Delinquenten an, schreibt etwas in ein Notizbuch, schaut wieder auf, schreibt weiter. "Ich fertige eine Personenbeschreibung", sagt sie auf die Frage, was sie da tut.

 

Dann überprüft ein weiterer Beamter die Daten im Polizeicomputer – es liegt nichts gegen den Reporter vor. Allerdings wird eine "Anhaltemeldung" geschrieben: Danach wird im Polizeicomputer vermerkt, dass ein gewisser Per Hinrichs, wohnhaft dort, geboren dann, am 8. Januar 2013 um 22.45 Uhr im Gefahrengebiet angehalten wurde. Dieser Vermerk wird für mindestens fünf Jahre gespeichert, sagt ein Polizist. So sammeln die Beamten Daten über die linke Szene. Sie wissen nun genauer, wer ihr angehört, sie sehen, wie oft sie jemanden anhalten, und sie können bei künftigen schweren Straftaten auf einen Fundus potenzieller Täter zurückgreifen – eine Art Vorratsdatenspeicherung als Ermittlungshilfe für morgen.

 

Unklar bleibt bei diesem Vorgehen, wie viele Menschen im Computer landen, die nichts mit der Szene zu tun haben. Immerhin wohnen über zehntausend Menschen in den jetzt drei Gefahrengebieten. Die Kritik der Anwohner wächst. So ist im Internet bereits eine Online-Petition zu finden, die die völlige Aufhebung der Gefahrengebiete fordert. Die Betroffenen stünden "auf Schritt und Tritt unter polizeilicher Beobachtung"; schon mehr als 5000 Zonen-Bewohner haben unterschrieben. Das Gefahrengebiet sei für sie "ein untragbarer Zustand".

 

Und auch nicht jeder Polizist freut sich über seinen nächtlichen Einsatz. Auf der Brigittenstraße sagt einer angesäuert zu einer Demonstrantin: "Ich hab auch keinen Bock."