Selbstbestimmung als Phrase

Erstveröffentlicht: 
03.01.2014

Olaf Kistenmacher erinnert an die antinationale Marxistin Rosa Luxemburg.

 

Als Ikone der Revolution über die politischen Lager hinweg berühmt, übte Rosa Luxemburg als marxistische Theoretikerin nur einen begrenzten Einfluss auf die kommunistische Bewegung aus. Ihre hellsichtige Kritik »Zur russischen Revolution«, 1918 im Gefängnis skizziert und heut­zutage mannigfach zitiert, wurde erst drei Jahre nach Luxemburgs Ermordung von Paul Levi herausgegeben. Levi war 1920 Vorsitzender der KPD gewesen, doch als er Luxemburgs Text veröffentlichte, war er schon wieder Mitglied der SPD. Die KPD hatte ihren ehemaligen Vorsitzenden 1921 als »Verräter« ausgeschlossen. Dass ausgerechnet Levi Luxemburgs Schrift »Zur russischen Revolution« herausgab, machte sie für die parteikommunistische Linke nicht attraktiver. Luxemburgs umfangreichste Studie, »Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus«, die sie vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht hatte, wurde von den Auffassungen über den Imperialismus verdrängt, die Wladimir I. Lenin 1916 in »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« entwickelte. An Lenins Position knüpfte in den zwanziger Jahren der marxistisch-leninistische Antiimperialismus an, der auf eine Symbiose von nationaler und sozialer Befreiung setzte. Luxemburgs Werk »Nationalitätenfrage und Autonomie«, das 1908/09 als Artikelserie in der polnischen Zeitschrift Przeglad Socjaldemokratyczny erschien, liegt überhaupt erst seit 2012 vollständig auf Deutsch vor. Bislang galt das nur für das erste Kapitel. (1) Auch das polnische Original fand sich, so der Übersetzer und Herausgeber Holger Politt, ehemaliger Leiter des Warschauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, lange Zeit nur in den Archiven und war einer breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglich.

 

Durch die erste vollständige Übersetzung von »Nationalitätenfrage und Autonomie« wird erkennbar, dass Luxemburg im Nationalismus von Anfang an eine Gefahr für die sozialistische oder kommunistische Linke sah. 1918 schrieb sie in einem Fragment zu »Krieg, nationale Frage und Revolution«: Der »Gedanke des Klassenkampfes kapituliert« derzeit »vor dem nationalen Gedanken. (…) Der Nationalismus ist augenblicklich Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an.« (2) Im gleichen Jahr kritisierte Luxemburg in »Zur russischen Revolution«, dass »die Phrase von der Selbstbestimmung und die ganze nationale Bewegung (…) gegenwärtig die größte Gefahr für den internationalen Sozialismus bildet«. Durch »die dröhnende nationalistische Phraseologie« hätten die Bolschewiki das Proletariat »verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert«. (3) Luxemburgs Kritik ergab sich nicht erst in Reaktion auf die Nationalitätenpolitik der russischen kommunistischen Partei. Schon 1908 hatte sie zu Beginn von »Nationalitätenfrage und Autonomie« grundsätzlich festgestellt: »Die Sozialdemokratie ist also nicht zur Verwirklichung eines Selbstbestimmungsrechts der Nationen berufen, sondern des Selbstbestimmungsrechts der arbeitenden Klasse, der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse – des Proletariats.« (4) Luxemburg führte aus, dass diese Formel »nichts« enthalte, was »spezifisch mit Sozialismus oder Arbeiterpolitik verbunden« sei. Im Gegenteil: »Das ›Selbstbestimmungsrecht der Nationen‹ ist bereits auf den ersten Blick eine Umschreibung der alten Losung im bürgerlichen Nationalismus aller Länder und aller Zeiten.« (5)

 

Antinationale Linke und nationaler Kommunismus in Deutschland


Auf den antinationalen Zug weisen die meisten Luxemburg-Biographien hin. Dietmar Dath schreibt, dass die »antiimperialistisch gesinnten Metropolenlinken«, die »voller Begeisterung für Basken, Palästinenser oder gar katholische Nordiren« seien, von Luxemburg hätten lernen können. (6) Peter Nettl widmet in seiner klassischen Darstellung von Luxemburgs Werk ihrem »Antinationalismus« einen Anhang. (7) Dass sich eine radikale Linke selbst als antinational bezeichnet, scheint erst seit 1989 der Fall zu sein. In seiner jüngsten Studie »Against the Nation. Anti-National Politics in Germany« zitiert Robert Ogman aus einer Rede von Maria Baader und Gotlinde Magiriba Lwanga, die 1990 auf dem Kongress der Radikalen Linken in Köln forderten, »anzuerkennen, dass Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus nicht nur ein Werkzeug der Herrschenden sind, sondern auch eine eigene Dynamik und Funk­tion haben, mit der wir es zu tun haben«, und auch »linken Antisemitismus ernst zu nehmen und zu bearbeiten«. Nur so könne die Basis »für eine deutsche antinationale Bewegung« geschaffen werden. (8) Obwohl einer ihrer bekanntesten Slogans »Nie wieder Deutschland« lautete, bezeichnete sich diese Linke in den frühen neunziger Jahren meist nicht als antideutsch, sondern als antinational. Wie Ogman zeigt, war Baaders und Lwangas Rede von einer »Bewegung« nicht ganz aus der Luft gegriffen. Immerhin demonstrierten 1990 zwischen 20 000 und 30 000 Linke in Frankfurt am Main gegen die Vereinigung Deutschlands. 1 500 Personen nahmen an dem Kongress in Köln teil.

 

Der Begriff »antinational« ist allerdings älter. Während des Ersten Weltkriegs hatte eine kleine Gruppe um den Rätekommunisten Franz Pfemfert die Antinationale Sozialisten Partei gegründet, die 1918, nach Aufhebung der Zensur, ihr Gründungsmanifest veröffentlichte. (9) Die antinationale Position war nicht nur eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg. Bereits 1913 hatte Pfemfert in seiner Zeitschrift Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst unter der Überschrift »Die nationale Sozialdemokratie« proklamiert, es gehe nicht darum, »international zu sein, sondern antinational. In Wahrheit ist der ›Internationalismus‹ Humbug, Schwindel, Phrase. Und es sind nur feige Ausflüchte, wenn man zwischen Nationalismus und Chauvinismus einen Unterschied feststellen möchte.« (10) 1918/19 war Pfemfert als Delegierter auf dem Gründungsparteitag der KPD. Er verließ die Partei aber 1920 wieder und gehörte seitdem zu den schärfsten Kritikern des Bolschewismus und Stalinismus (siehe Birgit Schmidt in Jungle World 22/2004).

 

Ansonsten galten die Begriffe »antinational« und »antideutsch« innerhalb der Kommunistischen Internationale eher als Beleidigung. Aus der berühmten Formulierung von Karl Marx und Friedrich Engels, dass das Proletariat »kein Vaterland« habe, folgerten Nikolaj I. Bucharin und Jewgenij A. Preobraschenskij 1920, dass es »sein Vaterland« erst erobern müsse. In ihrem »ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)« heißt es weiter: »Dann erst ist das Proletariat verpflichtet, sein Vaterland zu verteidigen: Denn dann wird es seine eigene Macht und seine eigene Sache vertei­digen, nicht aber die Macht seiner Feinde und die räuberische Politik seiner Unterdrücker.« (11) Drei Jahre später suchte die KPD ganz offen im rechtsextremen und völkischen Milieu nach neuen Mitgliedern, um eine Massenbasis für eine baldige Revolution in Deutschland zu gewinnen. Im Zentralorgan der KPD, der Tageszeitung Die Rote Fahne, diskutierten führende Vertreter der KPD mit Nationalsozialisten wie Ernst Graf von Reventlow. Ausgerechnet der spätere Rosa-Luxemburg-Biograph Paul Frölich verwahrte sich in der Roten Fahne gegen Reventlows Vorwurf, die KPD sei »vehement anti­deutsch, antinational«. Frölich schrieb 1923: »Wir waren Kriegsgegner, nicht weil wir ›anti­deutsch‹ gewesen wären, sondern weil der Krieg nur kapitalistischen Interessen diente, ein deutscher Sieg die Arbeiterklasse schlimmer noch gestellt hätte als vorher. Wir leugneten, dass es sich um nationale Interessen handelte, aber wir leugneten nicht die Notwendigkeit nationaler Verteidigung dort, wo sie auf der Tagesordnung steht.« (12)

 

Als die NSDAP bei den Wahlen ungeheuren Zulauf bekam, präsentierte sich die KPD als die eigentliche nationale Partei. 1930 verabschiedete sie ihre »Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes«. Rosa Luxemburgs Einwände gegen einen Nationalismus von links waren zu dieser Zeit entweder vergessen oder wurden ignoriert. Offene Kritik an der ersten KPD-Vorsitzenden formulierte die Rote Fahne wenige Monate vor dem Ende der Weimarer Republik. Unter der Überschrift »Lenin gegen Rosa Fehler« führte das Zentralorgan der KPD 1932 aus: »Zu denen, die gegen die bolschewistische Auffassung in der nationalen Frage kämpften, gehörte auch Rosa Luxemburg. Sie war der Auffassung, dass die polnische Sozialdemokratie nicht für das Selbstbestimmungsrecht Polens eintreten dürfe, weil sie dadurch in eine Einheitsfront mit der polnischen Bourgeoisie käme. (…) Durch diese mechanische und abstrakte Auffassung in der nationalen Frage stellte Rosa Luxemburg sich praktisch an die Seite der großrussischen Imperialisten, die das kleine Polen national unterdrückten.« (13) In dieser Tradition stand nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Sozialistische Einheitspartei (SED). Obwohl Luxemburg in der folgenden Passage in der »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« nicht namentlich erwähnt wurde, ist deutlich, gegen wen sich die Warnung richtete, es habe in der KPD während der Weimarer Republik »Tendenzen eines nationalen Nihilismus« gegeben, »Auffassungen, die die Einheit von proletarischem Internationalismus und Patriotismus negierten und stattdessen einen Gegensatz zwischen diesen beiden Komponenten der proletarischen Haltung zur Nation konstruierten«. (14)

 

»Australien den Australiern«?


Als Rosa Luxemburg 1908/09 »Nationalitätenfrage und Autonomie« niederschrieb, gab es für sie mehrere Gründe, sich mit dem Thema zu befassen. Als marxistische Theoretikerin musste Luxemburg Antworten finden auf Fragen, die durch die Arbeiterbewegung geisterten. Seit 1896 gehörte das »Selbstbestimmungsrecht der Nationen« zum Credo der sozialistischen Internationale. Außerdem gab es neben der Sozialdemokratie des Königreichs Polens und Litauens, der SDKPiL, die Luxemburg 1893 mit Leo Jogiches und anderen gegründet hatte, noch die Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und Schlesiens, die PPS, die die »Wiederherstellung« Polens forderte und dies zur Bedingung erklärte, um den Sozialismus aufzubauen. Diesen Standpunkt bezeichnete Luxemburg als »sozialpatriotisch«. Schließlich betraf sie, als polnische Jüdin, im russischen Zarenreich geboren, ein weiterer Aspekt der »nationalen Frage« persönlich. Es geht in »Nationalitätenfrage und Autonomie«, wie der Titel schon ankündigt, um die Möglichkeiten einer individuellen Selbstbestimmung. Luxemburg präsentierte sich klar als Gegnerin aller separatistischen Tendenzen. (15) Aber sie plädierte für »das Recht, die eigene Sprache auf Versammlungen und gleichberechtigt neben der Staatssprache auch in allen staatlichen und öffentlichen Behörden benutzen zu dürfen«. (16) Wie auch zehn Jahre später in der Kritik der Russischen Revolution beharrte sie darauf, dass alle Menschen zu allen Bildungs­gütern Zugang erhielten. Das sei die Voraussetzung für den »Bewusstwerdungsprozess und den Klassenkampf des Proletariats«. Darin, die kulturellen Verschiedenheiten zu respektieren, sah sie 1908 keine große Gefahr. Mit der Zeit wachse die Welt ohnehin weiter zusammen und in einer zukünftigen Gesellschaftsform würden die besonderen Nationalitäten als »Übergangserscheinung der historischen Entwicklung verschwinden«. (17)

 

Zu der Zeit, als Luxemburg »Nationalitätenfrage und Autonomie« verfasste, ging die marxistische Linke davon aus, dass eine grundsätzliche Veränderung nur im Weltmaßstab, als Weltrevolution, möglich sei. Eines der ersten Argumente, die Luxemburg gegen das »Selbstbestimmungsrecht der Nationen« vorbrachte, war daher ganz pragmatisch: Dass im kapitalistischen Zeitalter die Welt zusammenwachse, sei für eine zukünftige sozialistische Weltordnung hilfreich, während eine weitere Aufspaltung in zahllose kleine Nationalstaaten einer globalen gesellschaftlichen Veränderung im Weg stehe. Wenn in dieser Situation die sozialistischen Parteien »allen ›Nationen‹ die Möglichkeit der Selbstbestimmung« gäben, gliche das »einer Umkehr von der großkapitalistischen Entwicklung hin zu den mittelalterlichen Kleinstaaten und das weit hinter das 15. und 16. Jahrhundert zurück«. (18) Als hätte sie 1908/09 bereits den »Aufbau des Sozialismus in einem Lande« unter Josef W. Stalin vorher­gesehen, stellt sie in »Nationalitätenfrage und Autonomie« klar: »Nicht ein an jedes gesondertes Fleckchen Erde angepasster ›Sozialismus‹, nicht die Diktatur im letzten Winkel ist die historische Mission des Proletariats, sondern die Weltrevolution, deren Ausgangspunkt aber die großstaatliche Entwicklung ist.« (19)

 

Die 1892 gegründete PPS – die sozialdemokratische Konkurrenz zu Luxemburgs SDKPiL – forderte hingegen zur gleichen Zeit, dass das vom russischen Zarenreich besetzte Polen zuerst als Nation autonom werden müsse. Erst dann könne der Sozialismus aufgebaut werden. Die »sozialpatriotische PPS« sei, so Luxemburg, »der einzige Fall in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung, bei dem die Losungen des Nationalstaats ins sozialistische Programm übernommen« worden seien. (20) Dieser Standpunkt sei nicht nur rückschrittlich, sondern antisozialistisch und gefährlich. Wenn die PPS darüber spekuliere, ob für das polnische Proletariat mehr erreicht werden könne, wenn es sich vom russischen Prole­tariat trennen würde, sei »das keine Klassenpolitik im Sinne der internationalen Sozialdemokratie, sondern lediglich Politik im Geiste des Zunftwesens«. (21) Es sei, so Luxemburg, nicht die Aufgabe des Proletariats, einen neuen Nationalstaat zu schaffen oder »wiederherzustellen«. Das habe historisch die Bourgeoisie geleistet; um den »Kapitalismus als Produktionsform zu sichern«, habe die Bourgeoisie »auf den Ruinen des Adelssystems den modernen Staat« geschaffen: »Der Entwicklung des Kapitalismus und der Herrschaft der Bourgeoisie entsprechend, sondert sich das Proletariat politisch ab – dies bereits im Schoße des bürger­lichen Klassenstaats.« Der Nationalstaat sei demnach die »historische Gebärmutter für das Proletariat«, nicht dessen Ziel. Die »geschicht­liche Aufgabe« des Proletariats sei vielmehr »die Abschaffung dieses Staats als politische Form des Kapitalismus«. (22)

 

In einer sozialistischen Gesellschaft wäre eine Abtrennung von Nationen ohnehin überflüssig, denn da die verschiedenen Formen der Unterdrückung verschwänden, bedürften die Nationen keines besonderen Schutzes mehr. Wie Peter Nettl in seiner Biographie schreibt, vertrat Luxemburg diese Position schon, bevor sie sie publik machte. Ende des 19. Jahrhunderts, als sie sich öffentlich noch für die »Autonomie Polens« aussprach, habe sie in einem Brief an Leo Jogiches bekannt, selbst das sei noch ein Zugeständnis. (23)

 

Luxemburg warnte jedoch nicht nur vor den Gefahren des Nationalismus in Europa. In »Nationalitätenfrage und Autonomie« weist sie auch auf den »zweischneidigen Charakter der ›nationalen‹ Befreiung« in den Kolonien hin. Denn die staatliche Unabhängigkeit, also die »nationale« Befreiung, habe in Brasilien nicht dazu geführt, dass die »Herrschaft der Weißen« gebrochen worden sei. Ein weiteres Beispiel waren die »Vereinigten Staaten von Australien«. Kaum hätten sie sich von England befreit, habe Australien mit einer eigenen Eroberungspolitik gegenüber den Neuen Hebriden und Neuguinea begonnen und die »sonderbare ›nationale‹ Doktrin« verkündet: »Austra­lien den Australiern«. (24) Luxemburg wiederholte diese Warnung in mehreren Variationen: Die »nationalen Interessen« seien nicht mit den politischen Interessen des Proletariats als Klasse identisch und mit ihnen auch nicht vereinbar. Mehr noch: Wenn das Proletariat von den »nationalen Interessen« spreche, verliere es seine eigenen Interessen aus den Augen. Die nationalistischen Bewegungen gewönnen, während die Arbeiterklasse verliere. Ihre eigene Partei, die SDKPiL, habe daher »niemals den Anspruch erhoben, im Namen der ›Nation‹ zu sprechen«. Im »Namen der Nation« sprachen zu allen Zeiten alle politischen Strömungen: »Im Jahre 1848 setzte der Wille der ›Nation‹ zuerst die Republik ein und die provisorische Regierung, danach die Nationalregierung und schließlich Louis Bonaparte (...). Während der Revolution (1905; O. K.) in Russland forderte der Liberalismus im Namen der Nation ein ›Kadetten‹-Ministerium, der Absolutismus veranstaltete im Namen derselben Nation die jüdischen Pogrome, und die revolutionären Bauern gaben ihrem nationalen Willen Ausdruck, indem sie die Adelshöfe in Rauch aufgehen ließen.« (25)

 

Dietmar Dath erwähnt noch ein weiteres listiges Argument Luxemburgs: Wenn das polnische Proletariat imstande sein sollte, die »Wiederherstellung Polens« gegen alle äußeren und inneren Widerstände zu realisieren, dann könne es »ja auch imstande sein, die sozialistische Umwälzung in Angriff zu nehmen«. (26) Es gehe demnach nicht um die Frage, was für das Proletariat rein theoretisch »am besten« wäre. Solche Betrachtungen hätten, so Luxemburg, »nicht nur keinen Wert«, weil sie unrealistisch seien. Denn selbst wenn man sich »einmal auf den Boden des abstrakten Nachdenkens« begäbe, käme man »unweigerlich« zu der Erkenntnis, dass »das sozialistische System ganz ohne Zweifel als die ›allerbeste‹ Medizin gegen nationale Unterdrückung und alle Gebrechen sozialer Natur« zu betrachten sei. (27)

 

Die Freiheit des Andersdenkenden


In seiner Einleitung zu »Nationalitätenfrage und Autonomie« nennt Holger Politt noch einen weiteren Aspekt, der mit der Nationalitätenfrage zusammenhängt und für den Rosa Luxemburg heutzutage bekannt ist. Politt schreibt, es sei Luxemburg immer um die »Verantwortung der Arbeiterbewegung« für die »modernen demokratischen Verhältnisse« gegangen. Das war der Kern ihrer Kritik an der bolschewistischen Regierung in Russland. Die »Herrschaft breiter Volksmassen« sei »ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben« unmöglich. Es drohe eine Herrschaft der Bürokratie. Noch begeistert von der Russischen Revolution, warnte Luxemburg bereits 1918 vor der Gefahr einer Parteiendiktatur: »Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen.« (28)

 

Das allgemeine Wahl- und Versammlungsrecht und das Recht auf eine freie Presse implizierten allerdings, dass alle Sprachen gleichberechtigt und alle Kulturgüter allen Menschen zugänglich sind. »Presse, Journalismus«, hatte Luxemburg zehn Jahre zuvor in »Nationalitätenfrage und Autonomie« betont, würden »zu überaus geeigneten und unbedingt nötigen Werkzeugen für den Bewusstwerdungsprozess und den Klassenkampf des Proletariats«. (29) Das »bewusste Proletariat«, schrieb Luxemburg 1908, benötige »für seine angemessene Entwicklung eine friedliche Existenz und die kulturelle Entwicklung seiner eigenen Nationalität, und es bedarf überhaupt nicht die Herrschaft der eigenen Nationalität über eine andere«. (30) Die völlige Gleichberechtigung sei aber eher durch eine Gesellschaftsform zu gewährleisten, die sich nicht über eine einzelne Nation, nicht über den Nationalstaat definiere.

 

Verglichen mit der antinationalen Kritik nach 1989, die auf die »Kraft der Negation« setzte und in Teilen sogar eine Antipolitik propagierte, klingt dieser Teil von »Nationalitätenfrage und Autonomie« sehr nach konstruktiver Politik. Holger Politt sagte im Februar 2013 bei einer Buchpräsentation, dass er Luxemburg nicht als Vordenkerin der antinationalen Linken sehe. Dass sich Luxemburg in »Nationalitätenfrage und Autonomie« nicht nur kritisch zur nationalen Frage äußerte, hing vielleicht auch damit zusammen, dass die späteren Bolschewiki zu dieser Zeit ganz ähnliche Positionen vertraten. Auch wenn niemand wusste, dass hinter dem Beitrag »Das Manifest der armenischen Sozialdemokratie« in der Zeitschrift Iskra kein Geringerer als Lenin steckte, so konnte man die folgende Aussage jedenfalls im Zentralorgan der russischen Sozialdemokratie lesen: »Es ist nicht Sache des Proletariats, Föderalismus und nationale Autonomie zu propagieren, es ist nicht Sache des Proletariats, Forderungen aufzustellen, die unweigerlich auf die Forderung hinauslaufen, einen autonomen Klassenstaat zu bilden.« (31) Luxemburg konnte also 1908 noch davon ausgehen, mit den späteren Bolschewiki einer Meinung zu sein.

 

Kritik des Imperialismus und des Antiimperialismus


Eine nicht-nationale Haltung prägte auch Luxemburgs Analyse des Imperialismus, die sie 1913 in »Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus« vornahm. Ihre Analyse wurde kurze Zeit später von der antiimperialistischen Politik der Komintern verdrängt. 1920 hielt Wladimir I. Lenin zur »nationalen und kolonialen Frage« fest, dass die Bolschewiki weltweit auf zwei Bündnispartner setzten: »einerseits die Rätebewegungen der fortgeschrittenen Arbeiter aller Länder, anderseits alle nationalen Befreiungsbewegungen der Kolonien und der unterdrückten Völker.« (32) Das sollte selbst dann gelten, wenn die Befreiungsbewegungen keine sozialistischen oder kommunistischen Forderungen erhöben. Zentral sei vielmehr die Rolle, die der Nationalismus in den verschiedenen Regionen der Welt spiele. Weil der Nationalismus der unterdrückten Völker sich stets gegen den Imperialismus richte, erweiterte die Komintern Mitte der zwanziger Jahre den berühmten Slogan aus dem »Kommunistischen Manifest« zu »Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker der Welt, vereinigt euch«.

 

Eine solche antiimperialistische Politik wäre mit Luxemburgs Theorie nicht zu machen gewesen. Luxemburg suchte in »Akkumulation des Kapitals« nicht nach einem weiteren revo­lutionären Subjekt neben dem Proletariat. Anders als Lenin beschrieb sie den Imperialismus auch nicht als Herrschaftsform der Metropolen über Kolonien und Entwicklungsländer der sogenannten Dritten Welt, sondern als »Konkurrenzkampf« der verschiedenen kapitalistischen Großmächte um »die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus«. (33) Nach ihrer Auffassung zählten dazu 1913 geographisch noch die größten Teile der Erde. Luxemburgs Erklärung des Imperialismus folgte aus ihrer Interpretation der »erweiterten Reproduktion« aus dem »Kapital« von Karl Marx. Ihre originelle Lektüre führte zu dem Schluss, dass der Kapitalismus nur so lange bestehen könne, solange es noch nicht-kapitalistische Gesellschaften gebe. Wenn keine anderen Wirtschaftsformen mehr beständen, würde der Kapitalismus an sich selbst zugrunde gehen. Ihr Buch »Akkumulation des Kapitals« schließt mit der Aussage: »Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein.« (34) Nach Luxemburg erfolgte die Kapitalakkumulation stets an zwei Fronten: in der Fabrik und in den Kolonien. Diese außenpoli­tische Seite der Akkumulation sei beherrscht von »Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden.« (35) In diesem Zitat zeigte sich Luxemburgs Anspruch an eine marxistische Deutung des Imperialismus: Es gehe darum, die »strengen Gesetze« ökonomischer Prozesse zu ermitteln, auch wenn sie nicht leicht zu erkennen sind. Das ist etwas anderes als die Suche nach Schuldigen für ökonomische Krisen. Anders als Lenin führte Luxemburg den Impe­rialismus nicht auf das »Finanzkapital« zurück, das allmählich die Welt beherrsche.

 

Nach Luxemburg war der internationale Machtkampf der führenden Nationen die Folge eines strukturellen Problems, dem sich keine kapitalistische Gesellschaft widersetzen könne. Die »Tendenz, zur Weltform zu werden«, ließ sich nach ihrer Analyse nicht dadurch bekämpfen, dass man einzelne imperialistische Staaten angreift. Übrigens warnte auch Lenin 1920 davor, im Kampf gegen »den Imperialismus« auf panislamische Strömungen zu setzen. Es sei notwendig, so Lenin, »den Panislamismus und ähnliche Strömungen zu bekämpfen, die die Befreiungsbewegung gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit einer Stärkung der Positionen der Khane, der Gutsbesitzer, der Mullahs usw. verknüpfen wollen«. (36) Zwar wurde Luxemburgs »Akkumu­lation des Kapitals« innerhalb der Komintern kaum rezipiert. Aber den Grundgedanken, dass sich der Imperialismus nicht nur in einer Handvoll mächtiger Staaten manifestiere, formulierte sie auch in bekannteren Schriften. In »Die Krise der Sozialdemokratie«, der sogenannten »Junius«-Broschüre, hielt sie 1916 unmissverständlich fest: »Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag.« (37)

 

»Etwas Besseres als die Nation«


Die Geschichte der antinationalen Linken in Deutschland nach 1989 interessiert Robert Ogman nicht nur aus historischen Gründen. In »Against the Nation« warnt er mit Blick auf gegenwärtige antikapitalistische Bewegungen, dass nationalistische Tendenzen keine Verirrungen, sondern »latent in der Bewegung« angelegt seien. So wie Arbeiterbewegungen die Arbeit gegen das Kapital verteidigten, affirmierten soziale Bewegungen oft »die ›Gesellschaft‹ gegen den Staat«. (38) Es scheint nach wie vor naheliegend, die Interessen der breiten Bevölkerung mit den sogenannten nationalen Interessen gleichzusetzen. In Leipzig zeigte sich das um 1989 an der kleinen Verschiebung des Slogans »Wir sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk«. Wie Ogman zeigt, ist der Nationalismus mehr als eine falsche Denkweise. Er hängt mit der Hoffnung zusammen, dass der Staat die Individuen vor dem globalen Markt beschützen könne. Aber der Staat ist, so Ogman, in der westlichen Welt der Nationalstaat. Wie jedoch die Geschichte der antinationalen Linken deutlich macht, ergab sich das Problem auch für Linke, die nicht auf den Staat vertrauten. 1990 scheiterten, schreibt Jan Gerber in seiner Studie »Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des ›realen Sozialismus‹«, die Kunstschaffenden und Antifas, die als »Allgemeine Wohlfahrtsausschüsse« 1993 in die neuen Bundesländer fuhren, an der Frage, ob sie die dortige Bevölkerung als »Gegner oder Ansprechpartner« sehen sollten. (39) Die Geschichte der anti­nationalen Linken war demnach alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur, dass sie dem herrschenden Rassismus und Antisemitismus wenig entgegensetzen konnte, nicht nur, dass ihre weitere Geschichte ein Prozess von Spaltungen in verschiedene antinationale, antideutsche und antiantideutsche Gruppen war – ihre Interventionen sind heutzutage selbst innerhalb der radikalen Linken nur noch als historisches Wissen präsent.

 

In »Against the Nation« wird Luxemburg nicht erwähnt. Auch in Jan Gerbers umfassender Darstellung kommt Luxemburg nur als theoretische Alternative zum Marxismus-Leninismus vor. Sicherlich lassen sich Luxemburgs Gedanken, die sie bis 1919 formulierte, nicht einfach auf die Gegenwart übertragen. Aber vor den »Verwüstungen, die durch den nationalis­tischen Standpunkt« angerichtet werden, warnte sie bereits 1908. (40) Es ist bekannt, dass Luxemburg, anders als die russischen Bolschewiki, auf eine Revolution durch die Massen, durch das Volk, nicht durch eine Partei setzte. Das bedeutete aber eben nicht, wie man in »Nationalitätenfrage und Autonomie« nachlesen kann, dass sie das Volk glorifizierte. Die »Junius«-Broschüre offenbarte 1916 Luxemburgs Erschrecken darüber, dass sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs »ganze Stadtbevölkerungen in Pöbel« verwandelt haben. Es habe eine »Ritualmordatmosphäre« geherrscht, »in der der Schutzmann an der Ecke der einzige Repräsentant der Menschenwürde war«. (41) Inwieweit eine antinationale oder auch antideutsche Kritik nach 1989 sich in diese Tradition stellen kann, lässt sich nun genauer diskutieren. Mit »Nationalitätenfrage und Autonomie« liegt ­einer der wichtigsten Beiträge zu diesem Thema vor.

 

 

Anmerkungen


(1) Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, in: Dies.: Internationalismus und Klassenkampf, Neuwied/Berlin 1971

(2) Rosa Luxemburg: Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution, zitiert nach: Annelies Laschitzka: Rosa Luxemburg, Berlin 2002, S. 577 f.

(3) Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution (1918), in: Jörn Schütrumpf (Hg.): Rosa Luxemburg oder Der Preis der Freiheit, Berlin 2006, S. 84 ff.

(4) Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie (1908), Berlin 2012, S. 73

(5) Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 45

(6) Dietmar Dath: Rosa Luxemburg, Berlin 2010, S. 69

(7) Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Köln/Berlin 1969, S. 557

(8) Robert Ogman: Against the Nation, Porsgrunn 2013, S. 71

(9) Antinationale Sozialisten Partei: Aufruf, 16. 11. 1918, in: Teo Panther (Hg.): Alle Macht den Räten!, Band 1, Münster 2007, S. 235 ff.

(10) Franz Pfemfert: Die nationale Sozialdemokratie, zitiert nach: »Die Aktion« 209, S. 37

(11) Nikolaj I. Bucharin/Jewgenij A. Preobraschenskij: Das ABC des Kommunismus, Zürich 1985, S. 136

(12) Paul Frölich: Nationale Frage und Revolution, in: »Die Rote Fahne« 177, 3. 8. 1923

(13) Leninismus und nationale Frage/Lenin gegen Rosa Fehler/Der Kampf für die soziale und nationale Befreiung, in: »Die Rote Fahne« 16, 21. Januar 1932. 15 Jahre Sowjetunion/Befreite Nationen/In der Sowjetunion gibt es keine nationale Unterdrückung und Tributsklaverei, in: »Die Rote Fahne« 211, 23. November 1932

(14) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 4. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin (Ost) 1966, S. 259

(15) Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 119

(16) Ebd. S. 45

(17) Ebd., S. 163 ff.

(18) Ebd., S. 65

(19) Ebd., S. 110 f.

(20) Ebd., S. 102

(21) Ebd., S. 220

(22) Ebd., S. 93

(23) Nettl: Rosa Luxemburg, S. 559

(24) Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 97 f.

(25) Ebd., S. 74 ff.

(26) Luxemburg, zitiert nach: Dath: Rosa Luxemburg, S. 70 f.

(27) Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 95

(28) Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Jörn Schütrumpf: Rosa Luxemburg, S. 97

(29) Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 162 f.

(30) Ebd., S. 94

(31) Wladimir I. Lenin: Das Manifest der armenischen ­Sozialdemokraten (1903)

(32) Wladimir I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920)

(33) Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, S. 423 f.

(34) Ebd., S. 445 f.

(35) Ebd., S. 430 f.

(36) Wladimir I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage

(37) Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Dies.: Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden, Frankfurt/M. 1971, S. 210

(38) Ogman: Against the Nation, S. 102

(39) Gerber: Nie wieder Deutschland?, Freiburg/Br., S. 190ff.

(40) Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 199

(41) Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie, S. 39