Obdachlos mitten in deutschen Städten

Erstveröffentlicht: 
28.12.2013

Der Umgang mit osteuropäischen Armutsmigranten zeigt, dass die europäische Freizügigkeit nicht für Alle gelten soll. Von Peter Nowak.

 

Die ehemalige Eisfabrik in der Köpenicker Straße galt lange Zeit als einer der letzten Freiräume mitten in Berlin. Seit Jahren setzt sich eine Bürgerinitiative für den Erhalt dieses architektonisch interessanten Gebäudes ein. Doch in den letzten Tagen bekam die Auseinandersetzung um die Eisfabrik eine besondere Note. Seit drei Jahren leben in der Ruine Menschen aus Osteuropa, darunter viele EU-Bürger, die in Berlin keine bezahlbare Wohnung gefunden hatten. Sie haben sich in der zugigen Ruine, in der es weder Wasser noch Strom gibt, Hütten gebaut, in denen sie überleben können.

 

Der private Besitzer des Geländes wollte die Menschen nicht räumen zu lassen, wenn sie anschließend obdachlos auf der Straße stehen. Die Politik wiederum verlangte vom Eigentümer die Räumung. Schließlich habe er die Eisfabrik nicht so unzugänglich gemacht, dass kein Mensch dort reinkommen kann. Nachdem das Berliner Verwaltungsgericht in einem Eilverfahren entschieden hat, dass der Eigentümer das Gebäude aus Haftungsgründen zu sichern und die Obdachlosen zum Verlassen des Gebäudes aufzufordern habe, schien die Räumung der Menschen unmittelbar bevor zu stehen. Hier wird auch wieder einmal das Paradoxon einer Gerichtsentscheidung deutlich, die den Menschen, die dort Zuflucht gesucht haben, ihre schlechte Behausung nehmen will, ohne ihnen eine Alternative zu bieten.

 

Wohnen statt Notunterkünfte


Die Bewohner seit Wochen betonen selber, dass sie die Eisfabrik für ein Provisorium halten, und fordern bezahlbare Wohnungen als Ersatz. Deshalb haben sie sich auch so vehement dagegen gewehrt, nun als Notfälle auf Obdachlosenunterkünfte verteilt zu werden.

 

Unterstützung bekamen sie dabei vom Bündnis "Zwangsumzüge gemeinsam verhindern", das auch mehrmals gemeinsam mit den Bewohnern vor und im Rathaus Mitte gegen die drohende Obdachlosigkeit der Bewohner protestierte. Die angedrohte Räumung fand am 27. Dezember zwar nicht statt. Doch auch Wohnungen haben die Bewohner nicht bekommen. Eine Gruppe hat eine vorübergehende Unterkunft in einer nahen Kirche erhalten.

 

Obwohl so die dringenden Überlebensmöglichkeiten der Menschen noch keineswegs gesichert sind, wurde von Politikern die Forderung erhoben, dass die Botschaften der Herkunftsländer der Betroffenen für die Kosten mit aufkommen sollen. Dabei wird die Verantwortung der deutschen Politik selten thematisiert, die mit ihrer Austeritätspolitik dafür sorgt, dass die Armut in vielen europäischen Ländern zunimmt, während Deutschland selbst gestärkt aus der Krise hervorgeht.

 

Eine Alternative zu Polizei und Caritas


Dass sie aber für die Menschen, die sich hier ein besseres Leben erhoffen, auch Wohnungen zur Verfügung stellt, wird nicht von den Medien, dafür aber vom Bündnis gegen Zwangsumzüge gefordert. Für solche an den Menschenrechten orientierten Forderungen müssen sich die Aktivisten von der Kommentatorin der Berliner Zeitung, Karin Schmidl, nachsagen lassen: "Denn die etwa 50 Menschen, die in der Eisfabrik hausen, haben (wie die Flüchtlinge in Kreuzberg auch) sehr kreative Unterstützer. Diese Aktivisten, unter ihnen eine ehemalige Baustadträtin von Mitte, wollen im 'Kampf gegen das Schweinesystem' vor allem eins: im Gespräch bleiben. Auch das haben alle drei Elendsorte in Kreuzberg und Mitte gemeinsam – das verantwortungslose Ausnutzen hilfloser Menschen für die eigenen Zwecke."

 

Mit den drei Elendsorten ist neben der Eisfabrik das Flüchtlingscamp am Kreuzberger Oranienplatz und eine von Geflüchteten und Obdachlosen besetzte Schule in Kreuzberg gemeint. Die Unterstützer, die mit den Bewohnern dieser Orte für ihre Rechte kämpfen, werden auch deshalb attackiert, weil sie deutlich machen, dass es eine Alternative zu Repression und Caritas im Umgang mit diesen Menschen geben kann.

 

Fast jede Stadt in Deutschland hat ihre Eisfabriken, doch oft sind die Zustände für die Menschen, die dort leben müssen, noch unerträglicher. In Frankfurt/Main bleibt für Obdachlose aus verschiedenen Ländern oft nur ein abtgetrennter Bereich am U-Bahn-Gelände. In anderen Gegenden sind es baufällige Gebäude.

 

Armutsflüchtlinge sollen draußen bleiben


Aus der Politik werden neue Forderungen nach Abschottungen auch innerhalb der EU laut. So erklärte der CSU-Politiker Markus Ferber in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass die europäische Freizügigkeit nicht für alle gelten soll:

 

"Das Problem ist sehr gravierend, weil es sich hier um Menschen handelt, die einen Rechtsanspruch für sich in Anspruch nehmen, den sie nicht haben, der ihnen aber leider auch zum Teil von deutschen Gerichten gewährt wird. Wir haben ja mittlerweile Urteile von Oberlandesgerichten, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, die solchen Menschen Zugang zu unserem Sozialsystem gewähren, obwohl das nach europäischem Recht nicht vorgeschrieben ist. Wir haben jetzt eine Vorlage vor dem Europäischen Gerichtshof durch das Bundessozialgericht gehabt und hier wird die Frage zu entscheiden sein. Das europäische Recht ist eigentlich eindeutig: Jeder Bürger der Europäischen Union hat das Recht, 90 Tage in einem anderen Land sich aufzuhalten, um einen Job zu suchen. Wenn er in diesen 90 Tagen keinen Job findet, muss er wieder zurückgehen. Er hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Wenn einer das sehr oft macht, dann kann sogar eine Sperrung dieser Freizügigkeit erwirkt werden."

 

Ferber und andere Konservative ziehen eine Konsequenz aus dem Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, nach dem auch rumänische Zuwanderer Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben, wenn sie länger als 90 Tage in Deutschland leben. Sie wollen diese Menschen schneller aus Deutschland abschieben. Ferber bedient mit seiner Aussage, dass es nicht europäisch sei, in deutsche Sozialsysteme einzuwandern, Ressentiments, die von Gruppierungen viel weiter rechts schon lange ventiliert werden.

 

Damit wiederholt sich ein Szenario, dass wir aus der Geschichte von Zuwanderungen nach Deutschland schon lange kennen. Vor mehr als 120 Jahren wurden gegen polnische Zuwanderer solche Kampagnen gefahren und in der Weimarer Republik galten einkommensschwache osteuropäische Jüdinnen und Juden nicht nur bei den Nazis als Feindbild. Bereits 1923, auf dem Höhepunkt der Inflationsperiode, wurde im Berliner Scheunenviertel von rechten Gruppen ein mehrtägiges Pogrom gegen diese Menschen inszeniert.

 

Für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft ohne Migrationskontrolle


Die Antwort zivilgesellschaftlicher Gruppierungen müsste darin bestehen, die osteuropäischen Migranten in bestehende Kämpfe um Wohnraum und ein menschenwürdiges Leben für Alle zu integrieren. Während des europäischen Aktionstages für das Recht auf Wohnen am 19. Oktober beteiligten sich auch Menschen aus mehreren osteuropäischen Ländern in Berlin an einer Hausbesetzung. In der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wird derzeit über eine Gewerkschaftsmitgliedschaft unabhängig vom Aufenthaltsstatus diskutiert. So könnte es den Menschen gelingen, dem Status der Geflüchteten und Geduldeten zu entfliehen. Auch dafür gibt es historische Erfahrungen. Die Ressentiments gegen polnische Arbeitsmigranten Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden größtenteils, als man in großen Streiks gemeinsam für höhere Löhne und ein besseres Leben stritt.