Das Verhältnis linksradikaler Antirassisten zu Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, ist oft instrumentell. Mit der Realität von Flucht und Migration hat es wenig zu tun. Ein Plädoyer gegen antirassistische Parteitagsreden. von Jan-Georg Gerber.
Parteitage der SED liefen nach dem immergleichen Muster ab. Am Anfang wurde der Rechenschaftsbericht verlesen. Darin sprachen die Genossen zunächst vom »Systemgegner«, der auf seinen Niedergang mit einer Steigerung von Ausbeutung, Unterdrückung und Terror reagiere. Diesem Verfall wurden die eigenen Erfolge beim Aufbau des Sozialismus gegenübergestellt. Im Zentrum des Parteitags stand jedoch das Referat des Genossen Generalsekretär. Hier wurde nicht nur der endgültige Sieg des Sozialismus herbeigeredet, es wurden zugleich die Aufgaben der kommenden Jahre umrissen. Abschließend verpflichteten sich die Anwesenden, sich beim Aufbau des Sozialismus in Zukunft noch mehr anzustrengen. Am Ende wurde zur allgemeinen Erbauung die Internationale gesungen: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!«
Felix Fiedlers Beitrag in der vorigen Ausgabe der Jungle World ist die verschriftlichte Variante eines solchen Parteitags. Auf die obligatorische Geißelung des Systems folgt zunächst das ebenso obligatorische Schulterklopfen: Da ist von »riesigen Mobilisierungserfolgen« antirassistischer Gruppen die Rede, vom »großen Einsatz«, dem es zu verdanken sei, dass eine Mahnwache über Wochen aufrechterhalten werden konnte, und von Bürgerprotesten, die sich »gegen den Staat selbst« richten würden. Wichtiger als das Gestern ist jedoch das Morgen: So wird im Stil des Generalsekretärs verkündet, dass in Hamburg ein Schülerstreik zur Unterstützung von Flüchtlingen vorbereitet werde. Mitte Dezember finde in Hannover zudem ein bundesweites Koordinierungstreffen statt, bei dem der »aussichtsreiche Versuch« fortgesetzt werde, die antirassistischen Kämpfe des vergangenen Jahres zusammenzuführen. Statt der Internationale folgt am Ende eine zeitgenössische Pathosformel: »Die radikale Linke hat die einmalige Chance, in diesem Kampf das Projekt universeller Befreiung neu aufzunehmen.« Die Weltrevolution, so scheint es, steht unmittelbar bevor.
Wie die Parteitage der SED haben auch diese Ausführungen wenig mit der Realität zu tun. Sie drehen sich vor allem um den eigenen Verein. So fällt auf, dass fast vollständig auf die Analyse der gegenwärtigen Situation in Deutschland verzichtet wird. Das entspricht durchaus dem antirassistischen Mainstream. So wurden in den Pamphleten, mit denen antirassistische Initiativen in letzter Zeit an die Öffentlichkeit traten, lediglich Schlagworte und Vergleiche mit den Jahren nach 1989 bemüht. Dabei sind an der gegenwärtigen Situation, wie Felix Schilk und Tim Zeidler bemerkt haben, doch eher die Unterschiede zu den Neunzigern bemerkenswert (Jungle World 48/2013). Denn auch wenn es in den vergangenen Monaten häufiger zu Protesten gegen die Unterbringung von Asylsuchenden gekommen ist, gibt es in Deutschland derzeit weder eine fremdenfeindliche Massenbewegung, noch erhalten die Bürgerinitiativen, die sich in Hellersdorf oder Schneeberg gegründet haben, Unterstützung von staatlicher Seite. Im Gegenteil. Sowohl die sächsische Staatsregierung als auch der Berliner Senat übten Kritik.
Wem nicht an Panikmache und Selbstvergewisserung gelegen ist, der müsste prüfen, unter welchen Bedingungen jene fremdenfeindliche Massenbewegung entstehen könnte, die von antirassistischer Seite herbeigeredet wird. Eine zentrale Voraussetzung hierfür dürfte ein radikaler Kurswechsel der etablierten Parteien sein. Ohne die entsprechenden Signale von oben ziehen die Leute hierzulande nur selten in großer Menge auf die Straße. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass sich der eine oder andere Unionspolitiker mit fremdenfeindlichen Äußerungen hervorwagt, haben es CDU und CSU nach ihrem überwältigenden Wahlerfolg jedoch nicht nötig, das Thema Asyl im großen Stil neu auf die Tagesordnung zu setzen. Die SPD wiederum ist mit sich selbst beschäftigt, während die FDP in der Versenkung verschwunden ist. Die Grünen würden bei einer großen ausländerfeindlichen Kampagne sicherlich mitmachen, weil sie überall mitmachen. In Sachen Eigeninitiative ist es um die Partei allerdings in den vergangenen Jahren schlecht bestellt gewesen. Es bleibt also die Linkspartei. Auch hier sind die Chancen derzeit nicht sehr groß. Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine haben zwar gezeigt, dass sie keine Skrupel haben, gegen Migranten zu hetzen: Lafontaine beschwerte sich schon vor Jahren über Ausländer, die Chemnitzer Familienvätern die Arbeitsplätze wegnähmen; Wagenknecht forderte erst im Sommer, dass Lehrstellen zuerst an Deutsche vergeben werden sollten. Der Widerspruch, dem sie sich innerhalb ihrer Partei ausgesetzt sahen, war allerdings groß. So muss man zwar nicht dem Rationalitätsfetisch Andrej Reisins verfallen (Jungle World 46/2013), der eine breite ausländerfeindliche Mobilisierung schon deshalb für ausgeschlossen zu halten scheint, weil sie der deutschen Standortlogik widerspreche: Wären Logik und Vernunft die Imperative, dann wären die Punischen Kriege, Napoleons Russland-Feldzug und das halbe 20. Jahrhundert ausgefallen. Angesichts der gegenwärtigen bundespolitischen Konstellation ist eine fremdenfeindliche Kehrtwende der etablierten Parteien derzeit trotzdem eher unwahrscheinlich.
Ebenso wie zur Realität haben linksradikale Antirassisten auch zu den Flüchtlingen vor allem ein instrumentelles Verhältnis. So interessieren sie sich weder für die jeweiligen Fluchtursachen noch für die Hoffnungen und Wünsche, mit denen das Subjekt ihrer Begierde in Deutschland ankommt. Die Flüchtlinge haben für die radikale Linke längst die Funktion übernommen, die einmal das Proletariat innehatte. Sie gelten qua Herkunft als Verbündete, mit deren Hilfe der eigene revolutionäre Karren aus dem Dreck gezogen werden soll; sie sind lediglich Statthalter der Wünsche und Sehnsüchte einer vollkommen orientierungslos geworden radikalen Linken. Ohne es zu merken, reproduzieren die linken Antirassisten jene projektive Vorstellung von den Flüchtlingen, die Fiedler den Befürwortern des europäischen Grenzregimes vorwirft. Sie besetzen das von ihm kritisierte Bild einer »geschichts- und gesichtslosen Masse Nichtweißer, die aus den Tiefen einer fremden bis feindseligen Welt auf Europa zumarschiert«, lediglich positiv.
Die Zeit, in der sich unter den Flüchtlingen viele Kommunisten, Sozialisten und andere Umstürzler befanden, ist jedoch lange vorbei. Wer nach Deutschland kommt, tut das in der Regel nicht, um eine andere Welt zu schaffen, sondern weil er berechtigterweise ein Stück vom Kuchen abhaben will. Die meisten Flüchtlinge werden von dem angezogen, was ihre linksradikalen Unterstützer abstoßend finden: der freien Marktwirtschaft, unbegrenzten Konsummöglichkeiten und der Chance auf Aufstieg. Die Fähigkeiten, die für einen solchen Aufstieg nötig sind, bringen viele von ihnen bereits mit. Denn tatsächlich sind diejenigen, die die deutschen Grenzen nach oft wochen- oder monatelanger Flucht erreichen, nicht nur die »armen Schweine«, als die sie gern bezeichnet werden. Auch arme Schweine verhalten sich nämlich bisweilen wie Schweine. Bei der Überquerung des Mittelmeers, der Flucht durch halb Europa, illegalen Grenzübertritten und der Auseinandersetzung mit Schlepperbanden und Grenzpolizisten mussten viele von ihnen eine Tatkraft, eine Improvisationsfähigkeit und eine Ellenbogenmentalität an den Tag legen, die jeden Personalchef eines Großunternehmens vor Neid erblassen lässt. In Deutschland kommen daher weniger die Ärmsten der Armen als die Leistungsstärksten und Durchsetzungsfähigsten an. Unter günstigeren Bedingungen würden sie in ihren Herkunftsländern zur politischen Klasse oder zur sogenannten Leistungselite gehören. Von ihnen kann die Linke weniger Solidarität und freundliches Miteinander lernen als jene Verhaltensmuster, die in Zukunft auch hierzulande wieder stärker gefragt sein werden.
Das alles macht selbstverständlich weder das europäische Grenzregime besser, noch ist es ein Argument dafür, die Unterstützung von Flüchtlingen zu beenden: Erstens gehören die deutschen Sondergesetze und das Grenzregime allein schon deshalb abgeschafft, weil sie ein Angriff auf den Gedanken der einen Menschheit sind. Zweitens ist die Sehnsucht nach ein bisschen Luxus und Konsum immer noch besser als die Verzichtsethik, die linksradikale Gruppen oft predigen. Sowohl der Blick auf die gegenwärtige Situation in Deutschland als auch auf die Hoffnungen der Flüchtlinge zeigt jedoch, dass die Realität manchmal etwas komplizierter als eine antirassistische Parteitagsrede ist.