Deutschlands Angst vor der Endlagerung

 

2. Juli 2009, Neue Zürcher Zeitung


Deutschlands Angst vor der Endlagerung
Ein Ausschuss untersucht die Pannenserie im niedersächsischen Bergwerk Asse

 

Die Aufregung um Fehler und Pannen im deutschen Atommülllager Asse in Niedersachsen bringt zu einem Zeitpunkt, da viele Staaten weltweit wieder auf Kernenergie setzen, die Atomwirtschaft in Deutschland erneut in Misskredit. Ob ein Untersuchungsausschuss in Hannover zur nötigen Aufklärung beitragen kann, ist fraglich. 


Ein Untersuchungsausschuss des niedersächsischen Landtags in Hannover befasst sich seit Mitte Juni mit dem Atommülllager Asse, einem früheren Kalibergwerk, das permanent vom Eindringen von Wasser und im Endeffekt vom Einsturz bedroht ist. Nicht nur, dass niemand genau sagen kann, wie sich diese Vorgänge auf die dort seit 1967 eingelagerten leicht- und mittelradioaktiven Abfälle auswirken können; Pannen, Fehler und Fahrlässigkeiten bringen überdies die Bemühungen um die Inbetriebnahme des nuklearen Endlagers im weiter nördlich gelegenen Gorleben und damit auch die Kernenergie insgesamt aufs Neue in Misskredit. Denn hier wie dort handelt es sich um Salzlagerstätten, die in Deutschland lange Zeit als ideale Möglichkeit zur Endlagerung auch starkradioaktiver Abfälle galten.

  
Langes Zögern der Parteien


Dem Einsetzen des Untersuchungsausschusses ging langwieriger Streit voraus. Dem Drängen der Grünen konnten sich die anderen Parteien im Landesparlament jedoch nicht länger widersetzen. Bei der SPD zögerte vor allem der Landtagsfraktions-Vorsitzende Wolfgang Jüttner. Denn er war lange Zeit Umweltminister in Hannover. Der heutige Berliner Umweltminister Sigmar Gabriel war Ministerpräsident in dem Bundesland, als wichtige Entscheidungen für die Zukunft der Lagerstätte Asse fielen. Die Grünen würden am liebsten Bundeskanzlerin Merkel als Zeugin vorladen, hatte sie sich damals doch als deutsche Umweltministerin ebenfalls mit der Materie befasst.

 

Die jetzige CDU-FDP-Regierung unter Ministerpräsident Wulff hat vor allem ein Interesse daran, dass aus den skandalösen Vorgängen im Bergwerk Asse keine falschen Rückschlüsse auf Gorleben gezogen werden. Denn die bürgerlichen Parteien in Hannover unterstützen nach wie vor die Pläne für ein zentrales deutsches Endlager im Bundesland. Auch aus wirtschaftlichen Gründen hätte die niedersächsische Exekutive nichts gegen eine Inbetriebnahme einzuwenden, wenn nur erst das seit 2000 unterbrochene Genehmigungsverfahren abgeschlossen wäre.

 

Die Fakten sind lückenhaft. Was die Grünen «den grössten umwelt- und atompolitischen Skandal der Nachkriegszeit» nennen, entpuppt sich als Serie von Irrtümern, Fehleinschätzungen und Sorglosigkeit. Unbestreitbar ist, dass in der Asse, einem Höhenzug nahe Wolfenbüttel, in über 700 Metern Tiefe 125 000 Atommüllfässer mit leichtradioaktivem Material und 1300 Fässer mit mittelradioaktivem Müll lagern, die überwiegend aus staatlichen Forschungseinrichtungen stammen und zwischen 1967 und 1978 in das Bergwerk verbracht wurden. 2002 jedoch ergab eine Untersuchung, dass die eingelagerten Fässer neben anderen Radionukliden auch 102 Tonnen Uran und 11,6 Kilogramm Plutonium enthalten.

 

Bei dieser Entdeckung blieb es nicht. Nach und nach wurden Spuren von Strontium, eine erhöhte Cäsium-Belastung und die Existenz von 497 Kilogramm Arsen festgestellt, die vermutlich aus Resten von Pflanzenschutzmitteln einer landwirtschaftlichen Genossenschaft stammen. Sogar einbetonierte Tierkadaver wurden gefunden. Niemand jedoch kann sagen, wie diese Stoffe und Gegenstände in das Versuchs-Endlager Asse gelangten. Die Inventare geben keine Auskunft. Klar war nur, dass die Anlage stillgelegt und geschlossen werden sollte. Mit Abraum aus einem Kalibergwerk die Hohlräume zu schliessen, erwies sich als dringend erforderlich, weil seit 1998 ständig wachsende Mengen von Wasser und Steinsalzlauge in das Bergwerk Asse eindrangen.

 

Fortwährend neue Erkenntnisse


Heute fällt den Kritikern die Behauptung leicht, Wassereinbruch und Instabilität seien von Anfang an voraussehbar gewesen. 1967 allerdings kam eine Studie in der gewundenen Sprache von Gutachtern zu dem Schluss, dass die Gefährdung durch Wasser- oder Laugeneinbrüche als minimal anzusehen, ja mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sogar auszuschliessen sei. Spätere Gutachten ergaben keine anderen Ergebnisse. 1971 war der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher davon überzeugt, mit dem Bergwerk Asse für die Zeit bis 2000 über ein Endlager für radioaktive Rückstände zu verfügen. Ab 1979 jedoch wurden nur noch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchgeführt. Nach dem Nachweis unkontrollierter Zuflüsse von Wasser unbekannter Herkunft wurde 1992 auch die Versuchstätigkeit eingestellt.

 

Heute ist unklar, wie zu verfahren ist, um im Falle eines plötzlichen «Absaufens» des Bergwerks eine Umweltkatastrophe zu verhindern. Für den Notfall erwägt Wolfram König, der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz in Salzgitter, das seit Jahresbeginn die Anlage nicht nur überwacht, sondern selbst betreibt, eine Flutung des Bergwerks mit einer Magnesiumchlorid-Lösung. Als Alternative kämen eine Umlagerung der gefährdeten Fässer in andere Teile des Bergwerks oder das Rückholen der eingelagerten atomaren Abfälle in Frage, um diese sicher zu verpacken und sodann in einem anderen Endlager unterzubringen.

 

Bergrecht oder Atomrecht?


Einer der grundlegenden Fehler war offenkundig, dass Prüfungen wiederholt nur nach dem weniger strengen Bergrecht statt nach Atomrecht durchgeführt wurden. Erst 2007 machte eine Strafanzeige den Missstand publik. Seither richtet sich die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit verstärkt auf das Bergwerk Asse und vergleichbare Probleme im ehemaligen DDR-Endlager Morsleben. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace mutmassten sofort eine «heimliche Allianz» zwischen Stromkonzernen und Aufsichtsbehörden. Stärker als alle Kritik verbreitet sich im norddeutschen Tiefland der Verdacht, nun komme auch das rund 100 Kilometer weiter nördlich gelegene Gorleben nicht mehr als Standort in Betracht. Denn auch in Gorleben bildet Sand das Gestein, das die Kokillen mit radioaktivem Material für Millionen Jahre nichtrückholbar einschliessen und entsorgen soll.

 

Von offizieller Seite wird bestritten, dass die Lager Asse und Morsleben mit Gorleben vergleichbar seien. Auch der Umweltminister, der Sozialdemokrat Gabriel, vertritt diese Ansicht. Die Argumente liegen auf der Hand: In der Asse wie in Morsleben hat man es mit ehemaligen Bergwerken zu tun, in Gorleben hingegen mit bis zum Beginn der Erkundungsarbeiten 1979 unberührten, 250 Millionen Jahre alten Salzstöcken ohne Oberflächenkontakt, durch den Wasser eindringen könnte. Seit 2000 aber, als die rot-grüne Regierung in Berlin den Ausstieg aus der Kernenergie beschloss und sich mit der Energiewirtschaft auf einen Kompromiss einigte, rührt sich unter Tage in Gorleben nichts mehr. Das damals beschlossene Moratorium läuft Ende dieses Jahres aus.

 

Während ringsum in Europa, in Finnland, Frankreich, Schweden und der Schweiz, die Endlagerprojekte allmählich konkrete Formen annehmen, ist in Deutschland die Suche nach Alternativen, auf der Gabriel und die Sozialdemokraten bestehen, nicht vorangekommen. Wolfram König will ausser in Salzstöcken auch die Lagerfähigkeit in Tonstein und Granit untersuchen. Ausser Niedersachsen und Sachsen-Anhalt kämen laut König dafür auch die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg als Standorte in Frage. Doch schon die Proteste gegen Überlegungen in der Schweiz, ein Endlager in der Nähe zur deutschen Grenze zu errichten, zeigen, wie gering die Unterstützung ist, mit der die Regierung in Berlin rechnen kann.

 

Der Ausschuss stösst an seine Grenzen


Ob der Untersuchungsausschuss in Hannover die Ursachen für die Misere in der Asse klären kann, steht dahin. Der niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich Sander, der als einer der Ersten als Zeuge geladen wurde, glaubt, dass der Ausschuss wegen der Verantwortlichkeit der Bundesregierung bald an seine Grenzen stossen werde. Vor der Bundestagswahl im September dürfte die Aussagebereitschaft der Berliner Behörden in der Tat gering ausfallen. Nach der Wahl zumindest würde die Versuchung entfallen, die Sündenfälle in der Asse für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen.