Berlin Müllerstraße

walpurgisnacht wedding

Über den Wedding, die Bürgerinitiative Brüsseler Kiez und selbsterklärte Kiezmacher.

Aus Mitte kommend betritt man über die Müllerstraße Weddings Herz. Zur linken liegt nach dem S-Bahnhof Wedding zunächst der Sprengelkiez, der mit seiner reizenden Lage am Nordufer des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal zu einem guten Teil bereits den Cafes und Kneipen betuchter Deutscher gehört. Überquert man die Luxemburger Straße, findet man sich in einem kleinen quadratischen Wohnviertel, auch Brüsseler Kiez genannt, wieder. Hier ist außer Wohnhäusern mit dem ein oder anderen Casino im Parterre nur die Beuth-Hochschule charakteristisch.

 

Es ist äußerlich noch nicht viel zu sehen von der stadtweiten Gentrifizierung. Überhaupt scheint die Welt hier noch in Ordnung zu sein: Die Bewohner entspannen sich bei gutem Wetter täglich auf dem Platz vor dem Bezirksamt, keine subventionierten Galerien verschandeln das Flair, die Eckkneipen haben nach wie vor die Oberhand, Jugendliche hängen nachts auf der Straße herum und die Polizei traut sich meist nur mit mehreren Wagen zu den Einsätzen. Ein Kiez also, dem es wirklich an nichts fehlt.

 

Ganz anders jedoch sieht das die "Bürgerinitiative Brüsseler Kiez". Was deren Name nicht verrät: nicht die Anwohner und Anwohnerinnen haben hier die Initiative ergriffen, sondern ganz im Gegenteil die Politiker. Von einer nötigen "Re-Stabilisierung" des Quartiers ist auf der wichtigsten Propagandaplattform des regierenden Senats (https://www.berlin.de/ba-mitte/org/praeventionsrat/bruesseler_start.html) die Rede. Eine immer "problematischere Zusammensetzung des Ladengewerbes (eingetragene Vereine, Wettbüros etc.)" sowie "Klein(Drogen-) kriminalität" schreite voran und führe dazu, dass angeblich kiezstabiliserende Teile der Wohnbevölkerung wegzögen.

Die Senatsinitiative versucht daher durch verschieden Aktivitäten einen Prozess in Gang zu setzen, der unter dem Deckmantel der Bürgerbeteiligung den Kiez künstlich aufwertet, um ihn für Immobilieneigentümer und -händler besser verwertbar zu machen. Die Hoffnung ist offensichtlich, dass reichere Menschen die Häuser beziehen und dadurch einen Mietanstieg verursachen, der die angestammte Bevölkerung verdrängt. Somit wäre der Kreislauf in Gang gesetzt, der zahlreiche Kieze in Berlin schon zerstört hat und den wohlbekannten Namen Gentrifizierung besitzt. Mit dem Wegzug der migrantischen Kommunity wäre (in ferner Zukunft) der Luxusaufwertung Tür und Tor geöffnet.

 

Die Antworten auf die Frage "Warum das alles?" sind sicherlich schwierig und nicht vollständig zu geben.

Grundsätzlich liegt es im finanziellen Interesse regierender Politiker, befreundeten Immobiliengesellschaften neue Gebiete zur Spekulation zur Verfügung zu stellen sowie schwarze Zahlen durch Wirtschaftswachstum zu schreiben.

Etwas allgemeiner ist sicher das Interesse, das gesamte Stadtgebiet der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Sogenannte "Gebiete mit sozialen Konflikten" (übersetzt: viele Menschen mit migrantischem Hintergrund) sind immer ein Ort, an dem nicht die Polizei das sagen hat, sondern auch soziale Strukturen der Bewohner. Die bewusste "Durchmischung" der Bewohnerstruktur mit neuen Aktivbürgern hat immer auch die Wirkung, dass die Polizei an Akzeptanz und ideologischem Rückhalt in einem Gebiet gewinnt. Der Gentrifizierungs-Kreislauf setzt also zunächst einen Sicherheits-Kreislauf voraus.

Daher rührt auch die Lüge der Bürgerinitiative Brüsseler Kiez, dass "Kriminelle" das Leben hier unsicher machen und viele Wohngebäude sanierungsbedürftig seien: um ihrem (bereits gestellten) "Antrag auf Qualifizierung des Brüsseler Kiezes als Sanierungsgebiet" zu begründen und das angeblich bürgerschaftliche Engagement zu finanzieren.

 

Dass sich dieses Problem schnell ausweiten kann, belegt der junge "Förderverein Brüsseler Kiez". Institutionen wie die BI Brüsseler Kiez oder allgemein das Quartiersmanagement besitzen die starke Eigenschaft, von oben getroffene Entscheidungen in ihrer Herkunft effektiv zu verschleiern und sie als Basisaktivismus zu deklarieren. Auf der Seite http://www.kiezmacher.de/ muss man sich erst bis zum allerersten Eintrag durchklicken, um den glauben daran zu verlieren, dass sich hier Menschen auf eigene Initiative zusammengeschlossen haben, um ihr Lebensumfeld zu verbessern. Erscheint der Verein zunächst wie die Zusammenkunft einiger etwas spießiger Aktivbürger, wird er sodann als Finanzierungsinstrument der BI Brüsseler Kiez - also des Senats - zur künstlichen Aufwertung und Kommerzialisierung der Gegend enttarnt:

 

Die momentane Finanzlage Berlins und besonders die Haushaltssperre des Bezirks Mitte lässt eine weitere Förderung [der BI, anm. d. A.] bestenfalls unwahrscheinlich erscheinen.

Eine Lösungsmöglichkeit besteht in der Gründung eines Fördervereins. Die Hauptaufgabe des Fördervereins ist die Akquisition von Sach- und Geldspenden für Projekte im Kiezumfeld sowie die Gewinnung von beitragszahlenden Mitgliedern zur finanziellen, dauerhaften Unterstützung. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Entwicklung neuer Strategien und Ideen, damit ein bürgerschaftliches Engagement im Kiez langfristig gesichert ist.
Es ist zu vermuten, dass viele der Menschen, auf die das Wirken des Senats zielt, diese Verstrickung nicht erkennen und letztendlich zum eigenständig handelnden und sich vermehrenden Instrument des Staates werden. Eines Systems, das gerade im Begriff ist, arme Menschen an den Rand der Stadt zu drängen, um den wirtschaflichen Aufschwung und damit den Profit der Kapitalisten zu sichern.
Ganz in den Kontext der Aufwertung durch Aktivbürgerschaft und zur arroganz der Herrschenden passt daher der neueste Eintrag auf der Internetseite der "Kiezmacher". Unisono wird mit der stadtteilvertretung Müllerstraße in Bezug auf die antikapitalistische Walpurgisnacht im Wedding erklärt: "Alle Formen der Gewalt, zu denen es in den vergangenen Jahren immer wieder in den verschiedenen Bezirken kam gehören nicht in unsere Weddinger Kieze." 
Das hier der Senat die Weddinger Kieze für sein Eigentum erklärt, ist eine Unverschämtheit. Dennoch kann sich inhaltlich diesem Teil der Erklärung angeschlossen werden. Die staatliche Gewalt gegen die Rechte auf bezahlbaren, wenn nicht kostenlosen Wohnraum, zu der es in den vergangenen Jahren immer wieder in den verschiedenen Bezirken kam, gehört aus den Kiezen verbannt. Das Recht auf Notwehr dagegen bleibt bestehen.