"Wir haben die Zukunft gesehen... und sie kommt in Flammen."

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Ein Aufruf zum 1.Mai und darüber hinaus

Die Revolten in den arabischen Ländern thronen wie Leuchtfeuer am Horizont einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint. Ungläubig reiben sich die Freunde von Ordnung und Stabilität die Augen und blicken fragend in die Runde ausgesuchter Experten. Längst ist die alte Mär vom Ende der Geschichte als Gutenachtmärchen einer bürgerlichen Gesellschaft enttarnt, die sich heute nur noch mit prakmatischen Durchhalteparolen, Zynismus und Verdrängung über ihren eigenen Verfall hinwegzutäuschen versucht.


Der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschehnisse kann seine offenkundige Scheinheiligkeit nicht länger verbergen - dort, wo sich die westlichen Nationen zum Vorbild einer demokratischen Bewegung gegen ihre tyrannischen Machthaber verklären wollen. Machthaber freilich, die sich der ideellen wie materiellen Unterstützung ihrer westlichen Verbündeten solange gewiss sein konnten, wie ihr permanenter Terror gegen die eigene Bevölkerung nicht wiederum die geostrategischen Interessen des Westens zu bedrohen begann.


Es gilt hier, Verwand- und Feindschaften nicht miteinander zu verwechseln. Wenn es eine Verbrüderung respektive Verschwesterung gibt, dann ist es gewiss nicht die der arabischen Aufständischen und einer bürgerlich- kapitalistischen Gesellschaft, die das Bekenntnis zu ihren "demokratischen Grundwerten" wie einen schlecht sitzenden Anzug zur Schau stellt. Der Selbstinszenierung der westlichen Demokratien als Bewahrer der Freiheit ist der Kampf derer entgegenzuhalten, die nicht in der orientalischen Ferne, sondern im Schoß der westlichen Zivilisation selbst für ihre Freiheit und ihre Visionen auf die Straße gehen. Eine Freiheit, die nicht darin besteht seinen Herrn selbst wählen zu dürfen, sondern selbst zum Herrn über die Mittel seiner Existenz zu werden.


Dass die Kämpfe in den Ländern des Westens hinsichtlich der medialen Aufmerksamkeit hinter die Revolten der arabischen Welt zurücktreten, ist keineswegs nur ihrer Tragweite und Bedeutsamkeit geschuldet. Denn wenn ein Aufstand in den lange hofierten Diktaturen des Orients wie ein Befreiungschlag nach westlich-demokratischem Vorbild erscheinen soll, ist er in der eigenen Machtsphäre nur ein Störfaktor, der im schlimmsten Fall das Selbstverständnis der Freien Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern droht.


Umso absehbarer ist die Reaktion der Herrschenden. Dort, wo nicht länger totgeschwiegen, verdrängt oder in die Randnotizen zwischen Prominews und Wetterbericht verschoben werden kann, gilt es so schnell wie möglich den Diskurs über den Störfaktor zu dominieren und somit wiederum die Deutungshoheit über die Geschehnisse zu erlangen. Nach dem alten Prinzip des divide et impera werden die Grenzen abgesteckt, innerhalb derer das Aufbegehren bestimmter Teile der Bevölkerungsmasse wahlweise als tolerierbare "demokratische Artikulation", "legitimer Wunsch nach Reformen", oder gar als "Chance eines neuen Dialoges zwischen Volksvertreter und mündigem Bürger" erscheinen darf.

 

Getrennt ist dieses objektivierte und kanalisierte Protestpotential durch eine unüberwindbare Kluft von den Parias der Revolte, den "Extremisten", "Sektierern" und "Chaoten", für die lediglich der Polizeiknüppel die adäquate Antwort zu sein scheint. Es ist hier wichtig, die Empörung der Öffentlichkeit über den eventuellen "Gewaltexzess" des Souveräns nicht überzubewerten. Was beispielsweise am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schloßgarten empörte, war weniger die Gewalt selbst, als vielmehr ihr Ziel, das eine unakzeptable Verschiebung der genannten Kluft im öffentlichen Bewusstsein bedeutete.


Bei aller Freude über eine neugeborene Protestkultur auf Deutschlands Straßen darf daher nicht das Augenmaß für die angemessene Bewertung der Vorgänge verloren werden - die Einschätzung der Rolle, die eine radikale Linke für eine bestimmte Bewegung spielen kann und muss, hängt davon ab. Wenn sich Protestierende in vorauseilendem Gehorsam von jeglichen "politisch Extremen" distanzieren oder als gleichwertiger Diskussionspartner im Dialog über die Verwaltung ihrer Existenzbedingungen wahrgenommen werden wollen, kommt das trotz aller symbolischen Grenzüberschreitungen in der Wahl der Mittel einer Kapitulationserklärung gleich. Sich der Hoheit des herrschenden Diskurses zu unterwerfen, ist die Einwilligung in einen Kampf, der langfristig nicht gewonnen werden kann: Der kapitalistischen Verwertungslogik mit ihrer eigenen Argumentationsweise begegnen zu wollen.

 

Dieses Phänomen war insbesondere während der Studentenproteste zu beobachten, als sich in eifrig produzierten Broschüren darüber ausgelassen wurde, wie ökonomisch sinnlos, kontraproduktiv und jedem humanistischen Bildungsideal zuwider die erhobenen Studiengebühren angeblich seien. Die schon verzweifelt wirkende Zurschaustellung von Diskussionsbereitschaft bei gleichzeitiger Verdammung jeglicher "radikaler" Positionierungen, die das eigene demokratisch legitime Anliegen in den Augen der Öffentlichkeit zu deligitimieren drohten, hat die Revolte trotz medienwirksamer Besetzerromantik in vielen Städten bereits zum Scheitern verurteilt, bevor sie überhaupt die Chance hatte zu beginnen.


Bei aller notwendigen Bereitschaft, aus dem Szenesumpf linker Milieus und der Elfenbeinturmdebatte studentischer Lesezirkel auszubrechen und teilzunehmen, darf die kritische Betrachtung der Proteste nicht ins Hintertreffen geraten. Dass Kritik hier nicht überhebliche Distanznahme durch den Zirkel der wenigen Aufgeklärten bedeutet, darf vorausgesetzt werden. Ebenso wäre es töricht, die Legitimität von Forderungen unterhalb der Weltrevolution ebenso wie die zunächst rein emotionale Empörung über erlebtes Unrecht als verkürzt oder gar regressiv zu brandmarken.


Die Revolte ist der Aufschrei derjenigen, für die das Hierher-und- nicht-weiter mehr eine Haltung als einen durchdachten Katalog von Forderungen oder ein politisches Programm verkörpert. Wer revoltiert, zieht eine Trennlinie zwischen sich und einer Herrschaftssphäre, durch die jene Würde wiedererlangt werden soll, derer man sich durch die Arroganz der Macht beraubt sieht.


Die Todesschüsse auf Alexis, die Selbstverbrennung Mohammed Buazizis, sie sind der äußerste Ausdruck eines permanenten Konflikts zwischen der Macht und dem nackten Leben. Dass sie zum Auslöser für die Revolte wurden, verdeutlicht dass es um mehr geht als um die Frage von Reform oder (links)intellektueller Reflexion. Wer die Menschen auf seine Seite ziehen und zu Mitstreitern in der Revolte machen will, darf die Ernsthaftigkeit dieses existentiellen Konfliktes nicht geringschätzen, sondern muss die offene Kluft zwischen der Herrschaft und dem Einzelnen zutage fördern, unübersehbar machen und zur Parteinahme zwingen. Durch den Zorn der Revolte den Geist der Revolution zu gebären, den reflektierten Kampf gegen jede Form von Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung, wäre der Kunstgriff einer radikalen Bewegung, die den Namen verdient.


Wo die staatlichen bzw. staatstragenden Dispositive sich um die Eindämmung, Befriedung und Neutralisierung der Revolten bemühen, gilt es, ihr antagonistisches Potential gegen jede Vereinnahmung durch die Apologeten des Bestehenden zu bewahren und weiter zu verbreiten. Seine Unversöhnlichkeit stellt der Revoltierende dort unter Beweis, wo es an die Grundfesten der Herrschaft selbst geht: Wo das staatliche Gewaltmonopol unmittelbar zum Ziel des Angriffs wird. Natürlich bemisst sich Radikalität nicht an der Anzahl brennender Barrikaden oder verletzter Polizisten. Abseits einer unreflektierten Verherrlichung von Gewalt sind Ziel und Inhalt der rechtswidrigen Handlung das Entscheidende. Ob es um den organisierten Boykott staatlicher Erlasse (zB Studiengebühren), die Aneignung und militante Verteidigung besetzter Räume oder die Verhinderung faschistischer Aufmärsche geht - durch den bewussten und organisierten Rechtsbruch vermag jeder dieser Kämpfe zur symbolischen Absage an die Herrschaft selbst zu werden. Umso zwingender wird diese symbolische Bedeutung, desto unübersehbarer die Kluft zwischen individuellem Glücksanspruch und staatlicher Zurichtungsapparatur ins Bewusstsein tritt.


Die Frage, wie nun der 1.Mai im Kontext seiner historischen Tradition aus linksradikaler Perspektive zu begehen ist, ist vor dem Hintergrund der faschistischen Vereinnahmungsversuche immer mehr zum Streitthema geworden. Dass Antifaschismus ein Kampf ist, der nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts um keinen Preis verloren werden darf, ist ebenso wahr, wie dass er untrennbar mit dem Kampf gegen die Verhältnisse verbunden ist, die das Erstarken der Faschisten erst ermöglichen.


Doch besteht tatsächlich ein Grund, sich in der Zwickmühle zu sehen, entweder die Artikulation eigener Inhalte preiszugeben oder aber faschistische Umtriebe zu ignorieren? Wenn ungeachtet einer Reservierung des 1.Mai für die Nazi-Jagd linksradikale Bündnisse bereits in der Vergangenheit nach dem Motto "Jeder Tag ist ein erster Mai" auf das Konzept einer Vorabenddemo setzten, gerade um auch mit dem Ritual einer alljährlichen Inszenierung proletarischer Folklore zu brechen, dann verwiesen sie damit auf die zu verteidigende Bedeutung des Datums: Die symbolische Absage an die bestehende Ordnung, anstatt letztlich befriedeter Traditionspflege unter den Konterfeis verblasster Idole.


Die Symbolwirkung, die von den Ereignissen in Dresden 2010 und 2011 ausging, muss zudem keineswegs nur als temporär gewonnener Abwehrkampf begriffen werden. Wenn ein Chefideologe des Verfassungschutzes die Verhinderung eines Nazi-Marsches als "Niederlage des Rechtsstaates" interpretiert, ist das im besten Sinne des Wortes wahr. Dass nicht nur den Faschisten die Straße genommen wurde, sondern auch die hochgerüsteten Schlägertrupps des staatlichen Souveräns vorgeführt und ausmanövriert werden konnten, war vielleicht sogar der größere Sieg des Tages. Die unmittelbare Konfrontation mit der Macht und ihren Erfüllungsgehilfen besitzt eine höhere Strahlkraft als jedes ritualisierte Schaulaufen in eingehüllten Demonstrationszügen. Das Schmieden von Komplizenschaften, der gemeinsame Kampf, der für manche Bündnispartner erleuchtende Blick hinter die Maske der "Bürger in Uniform" und die Erfahrung, dass ein Sieg gegen die staatlichen Organe möglich ist, trägt mehr vom Geist der Revolte in sich als jede öffentlich vorgeführte verbalradikale Phrase, mit der sich so manche selbsternannten Arbeitervertreter oder Berufsrevolutionäre über ihre tatsächliche Konformität hinwegzutäuschen versuchen.


Eine Revolte wird geboren, wenn sich die Evidenz des gesellschaftlichen Konflikts nicht länger verbergen lässt, wenn sich das verdrängte und befriedete Unbehagen in materieller Gewalt Bahn bricht. Sie ist somit im besten Falle die kurz- bis mittelfristige Unterbrechung der staatlich sanktionierten Abhängigkeiten, die unseren Alltag ansonsten bestimmen. Was aus ihr werden kann, wenn sie auf eine Struktur trifft, die sie unterfüttert und verstärkt, ist nicht auszudenken. Eine unbestimmte Furcht vor der Revolte in gewissen Teilen der Linken ist vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen zwar nachzuvollziehen, aber nicht zu verzeihen. Aus der Waffe der Kritik ein Mittel zur eigenen Entwaffnung zu machen, ist Teil der linken Misere, die es zu überwinden gilt. Was es heißt, Teil des Problems anstatt Teil der Lösung zu sein, demonstrieren uns bereits linke Parteien, Gewerkschaften und andere Initiativen in steter Regelmäßigkeit.


Wo uns auch der Weg am 1.Mai hinführen mag, ob wir ihn uns in roter, schwarzer oder schwarz-roter Farbe ausmalen wollen - lasst uns versuchen, einen Funken des Geistes neu zu entfachen, aus dem er einst entsprang.

 

 

Autonome Antifaschistische Linke [ostalb]

Autonome Antifa Heidenheim

Autonome Antifa Schwäbisch Hall

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auch wenn ich das nicht alles teile ("1. Mai-Folklore", es ist und bleibt unser Tag, es gibt keinen anderen Tag im Jahr, der  fernab des linken Sumpfs solche Anschlusspunkte für linke Inhalte bietet), schön dass sich eine linke Vielfalt bildet und äußert