Sind Hamburgs Richter überhart gegen die G-20-Häftlinge?

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Erstveröffentlicht: 
09.08.2017

Ein 18-jähriger Italiener sitzt seit den G-20-Krawallen in Untersuchungshaft und soll dort bleiben. Ein Richter sieht „tief sitzende Gewaltbereitschaft“ und „Erziehungsmängel“. Nun soll Karlsruhe entscheiden.

 

Über die letzten Häftlinge der G-20-Gipfeldemos ist ein juristischer Streit ausgebrochen. Anwälte werfen der Hamburger Justiz vor, überhart und ohne ausreichende Beweise gegen ihre Mandanten vorzugehen und sie ungerechtfertigt in Haft zu lassen. Nun hat die Hamburger Strafverteidigerin Gabriele Heinecke eine Verfassungsbeschwerde für ihren Mandanten Fabio V. eingelegt und die sofortige Aufhebung der Untersuchungshaft beantragt.

 

Für die Staatsanwaltschaft ist klar, dass sich der 18-jährige Fabrikarbeiter bei einem Zusammenstoß zwischen etwa 200 Demonstranten eines schwarzen Blocks und der Polizei am frühen Freitagmorgen des 7. Juli „tätlicher Angriffe gegen Polizeibeamte“ schuldig gemacht hat.

 

Das sei darüber hinaus Landfriedensbruch. Gegen 6.30 Uhr flogen Böller, Bengalos und eine Handvoll Steine gegen die Polizisten, die die Versammlung auf einer Straße dann von zwei Seiten einkesselten. Das zeigt ein Polizeivideo, das die WELT einsehen konnte. Darin ist V. erst nach der Demonstration zu sehen.

 

Höchst interessant liest sich allerdings der Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem die Fortdauer der U-Haft gegen V. angeordnet wird. Die Entschiedenheit der drei Richter aus dem 1. Strafsenat, den Marc Tully leitet, ist aus jeder Zeile herauszulesen. Die zu erwartende Freiheitsstrafe werde „nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können“, schreiben Tully und Kollegen. „Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Eigentum“ seien für den Häftling „erkennbar ohne jede Bedeutung“. 

 

„Erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel“


Tatsächlich wird dem 18-Jährigen gar nicht vorgeworfen, Supermärkte geplündert, Autos angezündet oder Scheiben eingeworfen zu haben. Dabei sind es diese Taten samt der Bildern der Rauchsäulen über der Stadt, die diemeisten Hamburger wohl mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen verbinden. Bei diesen Taten schritt die Polizei allerdings nicht ein.

 

Der OLG-Senat geht noch weiter. Der „erkennbar rücksichtslosen und auf eine tief sitzende Gewaltbereitschaft“ schließen lassende Tatausführung komme „besondere Bedeutung“ zu. V. habe sich an „schwersten Ausschreitungen“ beteiligt, dies verdeutliche eine „charakterliche Haltung, welche die Annahme der Schuld rechtfertigt“. Weiter schreibt Tully von „schädlichen Neigungen“ und stellt „erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel fest, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen“.

 

Erstaunlich ist, auf welche faktische Grundlage die Richter ihren Beschluss stellen. Denn der Inhaftierte hat sich bislang überhaupt nicht geäußert. Wie der Senat angeblich „Anlagefehler“ beim nicht vorbestraften Italiener ermitteln konnte, bleibt völlig offen. Überhaupt ist die mehrfach vorgenommene Behauptung, hier prägten „Neigungen“ oder „Anlagen“ den Charakter, höchst fragwürdig. Trotzdem weiß der OLG-Senat schon, was am Ende des Verfahrens herauskommen wird: „Eine absehbar empfindliche Freiheitsstrafe“, heißt es im Beschluss – als ob eine Hauptverhandlung nun verzichtbar wäre. 

 

LKA-Auswertung eines Videos


Dabei spielt das Video, das die Polizei sogar Journalisten vorführte, bei der Entscheidungsfindung der Gerichte bislang überhaupt keine Rolle. Vielmehr verließen sich die Richter auf einen Vermerk eines LKA-Beamten, der den Film ausgewertet hatte. Dessen Wertungen („massiver Beschuss“) übernahmen die Richter, ohne sich ein eigenes Bild zu machen.

 

„Der Beschluss macht meinen Mandanten für alles verantwortlich, was in Hamburg zum Gipfel passiert ist“, sagt Gabriele Heinecke, die Anwältin von V. Sie hat Verfassungsbeschwerde eingereicht und die Aufhebung der Untersuchungshaft beim Bundesverfassungsgericht beantragt: „Bei den Ausführungen des Senats handelt es sich um Vorurteile gespeist mit Vermutungen.“

 

Fabio V. wartet im Jugendgefängnis Hahnöfersand bei Hamburg auf die Entscheidung aus Karlsruhe. Einem Prozess will er sich stellen, ließ er mitteilen. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer beim Verfassungsgericht liegt bei Haftsachen zwischen zwei und drei Wochen. In spätestens 14 Tagen sollte der Italiener wissen, ob der deutsche Staat ihn weiter für einen gefährlichen Gewaltkriminellen hält und bis zum Prozess einsperren will.