"Wildes Gerangel" oder "rechter Terror"? Urteile im Prozess um Neonazi-Überfall in Ballstädt erwartet

Erstveröffentlicht: 
24.05.2017

In einem der größten Neonazi-Prozesse in Thüringen werden am Mittwoch die Urteile erwartet: 14 Männer und eine Frau stehen vor dem Landgericht Erfurt. Sie sollen im Februar 2014 die Feier einer Kirmesgesellschaft in Ballstädt im Landkreis Gotha überfallen haben.

 

Von Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia

 

Für den Hauptangeklagten war es allenfalls "eine wilde Rangelei" damals. "Damals", das war die Nacht vom 8. zum 9. Februar 2014, als mindestens 15 mutmaßliche Neonazis in die Räume des Gemeindesaals von Ballstädt eindrangen. Dort feierte eine feucht-fröhliche Runde von Kirmesfreunden. Was dann passierte, so die Rekonstruktion der Polizei, ist an Brutalität kaum zu überbieten. Die Angreifer gingen ohne Vorwarnung auf ihre Opfer los. In Sekunden schlugen sie alles kurz und klein. Besonders dramatisch: In diesem Saal saß die Feierrunde in einer Falle. Denn der zweite Ausgang war verschlossen, es gab keine Chance auf Entkommen. Die Tatortfotos der Spurensicherung zeigen Blutlachen, Scherben und zertrümmerte Möbel. 

 

Rechtsextreme wollten sich angeblich "Respekt verschaffen"


Der Hauptangeklagten des Verfahrens wollte sich, nach Aussage vor dem Landgericht Erfurt, "Respekt verschaffen". Warum? Das beantwortete der bekannte Neonazi auch gleich. Er habe damals gefragt: "Wer von euch Wichsern hat unsere Scheibe eingeschmissen?" Um diese Frage zu stellen und eine Antwort zu erhalten, hatte er sich auch gleich eine Kapuze, eine Maske und Motorradhandschuhe für seinen "Besuch" bei der Kirmesgesellschaft angezogen. Hinter seiner Aussage steht offenbar die Strategie der Verteidiger, zu behaupten, ihr Mandant habe aus Wut gehandelt. Er habe eine Art Kurzschlussreaktion gehabt, weil an dem Abend zuvor irgendjemand einen Stein durch die Scheibe seines Hauses geworfen hatte.

 

Doch dieses "Haus" ist nicht irgendeine Immobilie in Ballstädt. Die "Alte Bäckerei" ist seit über vier Jahren Treffpunkt von Rechtsextremisten aus dem ganzen Bundesgebiet. Das diese Bewohner keine "netten Nachbarn" sind, wussten auch der Thüringer Verfassungsschutz und das Landeskriminalamt. Bereits 2013 traten schwerbewaffnete Spezialeinheiten die Türen der alten Bäckerei ein - zeitgleich auch in einer inzwischen aufgelösten Nazi-Immobilie im 30 Kilometer entfernten Crawinkel, ebenfalls im Landkreis Gotha. Es ging um den Handel mit automatischen Sturmgewehren und die Verbindung zu einer österreichischen Neonazi-Terrorgruppe mit dem Namen "Objekt 21". Was die Bewohner von Ballstädt wohl lange nicht wussten: Die neuen "Nachbarn" sind tief die europäische Neonaziszene verstrickt. 

 

Verfassungsschutz hörte mit


Das alles kam ans Licht, als nach dem brutalen Überfall im Februar 2014 sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit für das kleine Thüringer Örtchen interessierte. Doch noch etwas anderes wurde durch eine Recherche von MDR THÜRINGEN öffentlich. Der Thüringer Verfassungsschutz hatte die Verabredung zu dem Überfall auf die Kirmesgesellschaft mitgehört. Denn die Agenten hatten den Hauptangeklagten wegen seiner ganzen Verbindungen zu anderen Neonazi-Organisationen im Visier. Doch das nützte den Opfern von Ballstädt nichts. Denn die Telefonüberwachung lief automatisiert - und in der fraglichen Nacht im Februar 2014 saß niemand vom Thüringer Geheimdienst an der Bandmaschine. Erst am folgenden Montag entdeckte der Verfassungsschutz in den Mitschnitten die brisanten Informationen und leitete sie an Polizei und Staatsanwaltschaft weiter. Da war es für die Opfer zu spät.

 

Genau an diesem Mitschnitt fädelt die Verteidigung nun ihre "Freispruch-Strategie" auf. Denn nach langen juristischen Gerangel durften die Informationen des Thüringer Verfassungsschutzes in das Verfahren vor dem Landgericht Erfurt eingebracht werden. Sie sind ein wichtiger Beweis: Die Verabredung zur Tat. Doch die Verteidiger der Angeklagten argumentieren, dass nachrichtendienstliche Informationen nicht in einem Strafverfahren verwendet werden dürften. Andernfalls würde das Gericht die "Büchse der Pandora" öffnen. Doch ohne die Erkenntnisse des Nachrichtendienstes bleibe von den vielen Tatvorwürfen nichts Strafbares übrig, so die Anwälte. Das sieht die Staatsanwaltschaft Erfurt anders. Sie hat Haft- und Bewährungsstrafen von bis zu vier Jahre gegen elf Angeklagte beantragt - für drei einen Freispruch.

 

Seelische Wunde im Ort

 

Doch was bleibt nach dem Ende des Verfahrens? Unabhängig von möglichen Berufungen oder Revisionen vor dem Bundesgerichtshof von allen Seiten, müssen die Bewohner in Ballstädt weiter mit ihren rechtsextremistischen "Nachbarn" leben. Nie wurden die Kluft und die seelischen Wunden in dem Ort deutlicher, als bei einem Ortstermin des Landgerichts im Juni vergangenen Jahres. Der Vorsitzende Richter, Holger Pröbstel, wollte sich ein Bild von dem Umständen am Tatort machen. Da standen sie: in der einen Ecke 15 Neonazis mit ihrem ganzen Anhang, trotzig und zeitweise belustigt über den Medienrummel um diesen Fall. Und in der anderen Ecke Angehörige und Freunde der Opfer jener Nacht. Bei einem Blick in den Saal, angesichts des damals verschlossenen zweiten Ausgangs, wird die Falle, in der die Opfer saßen, deutlich.

 

Es darf bezweifelt werden, ob es um "ein sich Respekt verschaffen" oder um ein brutales Exempel ging. Ein Exempel an den Rest der Menschen von Ballstädt, das ausdrücken könnte: Wir sind hier und hier bekommt ihr uns auch nicht weg.