Mord an Studentin in Freiburg: Risse im Idyll

Mord an Studentin in Freiburg: Risse im Idyll
Erstveröffentlicht: 
04.12.2016

Der Mord an einer Studentin in Freiburg steht vor der Aufklärung. Dass der Verdächtige ein Flüchtling ist, gibt Rechten Auftrieb. Eindrücke aus einer verunsicherten Stadt.

 

Aus Freiburg berichtet Christoph Ruf

 

"Das ist eine sehr gute Nachricht." Als Gudrun Wippel erfährt, dass der mutmaßliche Mörder von Maria L. verhaftet wurde, ist die erste Reaktion pure Erleichterung.

Dann beginnt sie zu erzählen. Und sagt sehr schnell einen Satz, den man in Freiburg an diesem Wochenende häufig hört: "Es wird noch eine Weile dauern, bis die Angst weg ist." Zu viel sei in den letzten Monaten passiert, nach Einbruch der Dunkelheit fühlten sich Frauen in den Straßen nicht mehr sicher.

Wippel leitet ein kleines alternatives Reisebüro am Stadtrand von Freiburg. Privat setzt sie sich für das Frauen- und Kinderhaus in Wiwili ein, Freiburgs Partnerstadt in Nicaragua. Dann kommt sie auf die Demo zu sprechen, die vor ein paar Tagen in Freiburg stattfand. "Stopp Gewalt gegen Frauen" hieß die, organisiert von mehr als 40 feministischen Gruppen. Die Frauen trugen Plakate, auf denen "Das Problem heißt Sexismus" stand. Oder: "Wir holen uns die Nacht zurück."

Es waren kurdische Frauen dabei. Und deutsche Marxistinnen, die immer wieder einen Slogan anstimmten: "Hoch die internationale Solidarität." Mitten in der City, in der ersten Woche des Weihnachtsmarkts, sollte die Demo ein Hilferuf sein. Aber auch ein Signal, dass man mit den rechten Scharfmachern im Netz nichts gemein haben will.

 

Wer sich abseits der Demo umhörte, vernahm einiges Unbehagen. Als der Slogan von der "internationalen Solidarität" über die Glühweinstände schallte, sagte eine Mittvierzigerin: "Bloß nicht noch mehr!" In Freiburg sei es doch erst so gefährlich geworden, seit es dort so international zugehe. "Glauben Sie mir, alleine würde ich heute Abend auf gar keinen Fall nach Hause gehen."

 

Tatsächlich gab es in Freiburg in den vergangenen Wochen und Monaten eine Häufung an Gewalttaten.

 

Ende September wird ein 13-jähriges Mädchen von minderjährigen Jugendlichen missbraucht. Zwei der drei Verdächtigen haben einen Migrationshintergrund.

 

Mitte Oktober wird ein Mann aus dem Obdachlosenmilieu von zwei Nichtdeutschen so schwer geschlagen, dass er kurz darauf seinen Verletzungen erliegt.

 

Ende Oktober werden zwei Frauen unweit des Hauptbahnhofs sexuell belästigt und retten sich in eine Polizeiwache. Die Verdächtigen stammen aus Gambia.

 

Anfang November verletzt ein Afghane einen anderen schwer mit Messerstichen.

 

Mitte November tötet ein georgischer Mann seinen Neffen mit Messerstichen.

 

Und nur drei Wochen nach dem nun offenbar aufgeklärten Mord an Maria L. machte die Polizei den nächsten grausamen Fund. In Endingen, wenige Kilometer nördlich von Freiburg, wurde die Leiche einer Joggerin gefunden, sie wurde am helllichten Tag vergewaltigt und ermordet. Der Mord ist nach wie vor unaufgeklärt. Die Polizei prüft noch, ob der nun festgenommene 17-Jährige auch für diese Tat verantwortlich sein könnte, bisher sieht es offenbar nicht danach aus.

 

Die Angst in der Stadt dürfte also anhalten. Seit Wochen verkaufen die Waffengeschäfte der Stadt kistenweise Pfefferspray, Mädchen werden zur Schule gebracht, statt wie früher mit dem Bus zu fahren. Die Frauen, die überhaupt noch joggen gehen, tun das oft mit einer App, die einer Vertrauensperson in regelmäßigen Abständen signalisiert, dass alles in Ordnung ist.

 

Als Jan W. (Name geändert), knapp 30 Jahre alt, von der Festnahme im Fall Maria L. hörte, dachte er an zwei Freunde aus Nordafrika. "Die fanden es in den letzten Wochen schon ganz schön eklig hier, ständig wurden sie beschimpft und schief angeschaut." Jan macht sich keine Illusionen, das werde nach der Verhaftung des Flüchtlings "noch schlimmer" werden.

 

Dabei kommt ihm ein Aspekt viel zu kurz: "Es stimmt, dass die Frauen in unserer Gruppe auch lieber in Begleitung unterwegs waren und sind." Aber nicht speziell aus Angst vor Flüchtlingen oder Muslimen. "Sondern weil hier nachts um vier auch jede Menge Proleten aus dem Schwarzwald aus den Klubs raustorkeln, die denken, Frauen seien Freiwild."

 

Dass nun diejenigen recht bekommen haben, die schon Anfang Oktober gewusst haben wollten, dass der Mörder ein Flüchtling sein müsse, ist eine fast schon zynische Wendung. Maria L. war in der Freiburger Flüchtlingshilfe aktiv, auf ihrer Beerdigung ließ die Familie für ein Hilfsprojekt sammeln.

 

Allerdings wird in Freiburg auch an diesem Wochenende erfreulich häufig differenziert, Vereinfacher müssen mit Gegenargumenten rechnen. Dass es in Freiburg schon in den Neunzigern Vergewaltigungen und Morde an Frauen gab, begangen von Deutschen, ist zu hören. Und dass die Angst damals ebenso groß war wie heute. Dass am Stühlinger Kirchplatz, hinterm Hauptbahnhof, schon vor Jahrzehnten gedealt wurde - längst bevor die Dealer aus Gambia kamen. Dass die übergroße Mehrheit der Neu-Freiburger keinerlei Probleme verursacht. Dass Hunderte Afghanen, Syrer, Kameruner und Bosnier genauso entsetzt sind über den Mord an Maria L. wie die Deutschen. Dass es Dutzende Familien gibt, die glücklich darüber sind, dass sie einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufgenommen haben. Auch wenn eine Familie im Freiburger Osten seit Samstag davon ausgehen muss, dass sie einen Mörder beherbergt hat.

Sollte der Endinger Mörder ein Engländer sein, würde deswegen kein Herr Smith aus London schief angeschaut werden. "Das Problem heißt Rassismus", hieß es auch deshalb auf der Freiburger Demo. Das mag stimmen. Und doch greift der Satz viel zu kurz.

Caroline F. (Name geändert) ist vieles, nur keine Rassistin. Die Mittvierzigerin, die sich als links verortet, wurde jüngst unweit vom Siegesdenkmal von einem Afrikaner bedrängt und ist noch heute empört. "Diese Ohnmacht möchte ich nicht mehr erleben", sagt sie. "Mir ist auch völlig wurscht, ob der Typ jetzt eine schwere Kindheit hatte. Ohne solche Arschlöcher würde man sich hier sicherer fühlen."

 

Doch auch bei F. dauert es nur eine Sekunde, ehe sie weiterredet. Ginge es nach ihr, würde Deutschland noch weit mehr Flüchtlinge aufnehmen, sagt sie. Die Bilder aus Aleppo oder Mossul gehen ihr immer noch an die Nieren. Aber dass diejenigen, die die Menschenwürde anderer immer wieder mit Füßen treten, nicht härter bestraft oder abgeschoben werden, empört sie. Denn ja, im Vergleich zu früher werde man als Frau heute öfter belästigt. Die Angst ist realer geworden.

Das sieht auch die ehrenamtliche Flüchtlingshelferin so, die sich seit über einem Jahr für die zum Teil schwer traumatisierten Menschen engagiert und die dennoch ein Fazit zieht, bei dem man erst mal schlucken muss. "Gut ein Drittel der Geflüchteten aus manchen Ländern ist weder integrationswillig noch dazu fähig", sagt sie. Auf die Frage, woran sie das festmache, sagt sie: "An der Haltung zu Homosexualität - und am Frauenbild."

"Refugees welcome, assholes not", so hieß im Januar dieses Jahres die Betreffzeile der E-Mail, mit der der Musikklub "White Rabbit" bekanntmachte, dass er keine Flüchtlinge ohne Ausweis mehr hineinlassen werde. Nach vielen Fällen von sexueller Belästigung würden sich "viele unserer weiblichen Besucher nicht mehr wohlfühlen". Der linke Klub wurde damals von Rechten instrumentalisiert, mit denen man nun wirklich nichts zu tun haben wollte. Zugleich attackierte das autonome Zentrum "KTS" den "White Rabbit" und geißelte eine "rassistische Türpolitik".

In Freiburg findet man heute viele, die das Motto der E-Mail ziemlich gelungen finden. Flüchtlinge sind weiter willkommen. Arschlöcher nicht. Auch nicht die, die sich nach der Verhaftung des 17-Jährigen im Aufwind wähnen.

Freiburg will so bleiben, wie es ist. Eine über Jahrzehnte gewachsene liberale und tolerante Stadt mit einer wachen Zivilgesellschaft, das ist sie auf jeden Fall. Die Uni ist der größte Arbeitgeber, viele, die zum Studium hierhergekommen sind, wollen das "Sonneneck" (Eigenwerbung) nach dem Studium nicht mehr verlassen. Auch wegen des gesellschaftlichen Klimas.

 

In den Siebziger- und Achtzigerjahren war Freiburg zudem eines der Zentren der Anti-AKW-Bewegung, der Kampf gegen ein im Kaiserstuhlörtchen Wyhl geplantes Kernkraftwerk hat eine ganze Generation geprägt. Auch die Hausbesetzerszene und die Frauenbewegung sind in der Stadt tief verwurzelt. Seit 2002 stellen die Grünen hier den Oberbürgermeister. Im nach ökologischen Kriterien gebauten Eigenheim-Viertel Vauban haben die Grünen bei der Landtagswahl 61 Prozent erreicht, Freiburgweit waren es 43. Aber auch die Linke hat bei der letzten Landtagswahl mit 8,4 Prozent dreimal so gut abgeschnitten wie im Rest des Ländles. Freiburg ist zudem die einzige deutsche Großstadt ohne NPD-Ortsverband. 2002 demonstrierten 15.000 Freiburger gegen einen Neonaziaufmarsch mit 108 Teilnehmern.

Schneller als anderswo herrscht hier Empörung über Rechts. Aber schneller als anderswo vergessen viele Menschen hier, dass es auch ein Leben abseits der Montessori-Schulen, veganen Frühstücksbuffets und Yogazentren gibt.

Bei der Landtagswahl haben im Stadtteil Landwasser, im Westen der Stadt, über 22 Prozent die AfD gewählt. In Landwasser gibt es mehr Back- und Handyshops als vegane Frühstücks-Cafés und unter den Zugezogenen vor allem solche, die nicht als Dozenten an der Uni arbeiten. Es ist ein Milieu, das die Grünen genauso wenig interessiert wie ihre Stammwähler aus dem Freiburger Osten. In Landwasser wohnen viele Russlanddeutsche, Menschen, die finden, dass es "zu viele Ausländer" gibt. Aber auch viele Menschen, die dem allein deshalb schon widersprechen würden, weil die Generation ihrer Eltern in Landwasser in dem aufgewachsen ist, was man im Osten eine multikulturelle Gesellschaft nennen würde. Es sind Menschen, die jedem Flüchtling ein Dach überm Kopf gönnen, sich aber darüber ärgern, dass ihre Miete und der Preis für den Bus ständig steigen. Weil angeblich kein Geld da ist.

So sieht das alles zumindest der Anwalt Michael Moos, der - wiewohl parteilos - für die Linke Liste im Gemeinderat sitzt. Die Grünen hätten sich - wie ein großer Teil ihrer Klientel - eingerichtet in einer bürgerlichen Welt mit ökologisch hochwertig erzeugten Lebensmitteln, viel Sinn für Muße und Bildung - und wenig Interesse für die Menschen, denen es auch in der eigenen Stadt nicht ganz so gut geht.

 

"Mehr Sensibilität für soziale Fragen", wünsche er sich da. Moos zählt nun ein paar Dinge auf, die aus seiner Sicht seine These von der grünen Wohlstandspartei unterstützen. Jahrelang habe die grüne Fraktion die Einführung eines Sozialtickets für die Straßenbahn torpediert. Den sozialen Wohnungsbau habe man vernachlässigt, weswegen heute Zehntausende Wohnungen fehlten und die Mieten in astronomische Höhen stiegen. "Die Freiburger Grünen sind deutlich konservativer als viele Bundesgrüne. Man will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die soziale Realität nicht in den bürgerlichen Innenstadtteilen endet."

Moos möchte seine Worte nicht als Kritik verstanden wissen, die nur einer Partei gilt. Als jemand, der selbst in WGs sozialisiert wurde, in den Studentenrevolten und der Anti-AKW-Bewegung, ist er ja selbst ein recht typischer Vertreter des Freiburger Milieus.

Nur eben einer, der nicht versteht, warum Linke, die älter werden, so oft die Saturiertheit der Generation übernehmen, gegen die sie 30 Jahre zuvor aufbegehrt haben. "Es gibt hier diese weitverbreitete Stimmung, wir seien die Insel im rechtspopulistischen Meer", sagt er. Diese Haltung hat ihn schon nach den AfD-Erfolgen im Freiburger Westen gestört. Er fürchtet, dass nun, nach den Morden, die Intoleranz auf der einen Seite größer wird, während die Ignoranz im grün-bürgerlichen Milieu anhält. Moos hielte das für gefährlich: "Wir haben keinerlei Gewähr, dass Freiburg bleibt, wie es ist."