Aktionen der „Identitären Bewegung“ Verstecken? Die Zeiten sind vorbei

Erstveröffentlicht: 
04.10.2016

Aktivisten der „Identitären Bewegung“ wollen die Popstars der rechten Szene sein. Ihre radikalen Aktionen klauen sie von den Linken.

 

Und dann steht Robert Timm auf dem Brandenburger Tor. Ein leichter Wind zerrt an seinem weinroten Hemd, der Himmel ist wolkenlos blau. Timm blickt hinunter auf die ameisenkleinen Touristen, er sieht den Berliner Fernsehturm und die Baukräne über den Häuserdächern. Dann entrollt er mit den elf anderen ein weißes Banner. „Grenzen schützen, Leben retten“.

 

Die Menschen unten machen Fotos. Einige buhen, rufen „Nazis raus“. Robert Timm knipst Bilder mit seinem Handy. Er verschickt einen Tweet: „Stehe gerade auf dem Brandenburger Tor.“ Neben ihm entzündet ein Mitstreiter eine Leuchtfackel, ein anderer schwenkt eine schwarze Fahne, darauf ein Winkel mit der Spitze nach oben, der griechische Buchstabe Lambda in Gelb. Das Symbol der Identitären. Timms Identitäre.

 

Es ist die Polizei, die der Aktion ein Ende setzt. Mann für Mann holen sie vom Brandenburger Tor und sammeln die lange Sprossenleiter ein, auf der die Identitären nach oben geklettert sind. Als Timm und die anderen nach sechs Stunden wieder freigelassen werden, machen sie ein Gruppenfoto vor der Polizeistation und stellen es ins Internet, Timm hockt sich in die erste Reihe. Es ist der letzte Akt der Protest-PR. Verstecken? Diese Zeit ist vorbei.

 

„Wir müssen Gesicht zeigen“, sagt Martin Sellner. Sellner ist 27 Jahre alt, wohnt in Wien und tritt als der Chef der österreichischen Identitären auf – und als ihr Stratege. Im Nachbarland sorgen die Jungrechten schon länger für größeres Aufsehen. Das wollen sie auch in Deutschland.

 

Die Aktion vom Brandenburger Tor, Ende August, war ihre spektakulärste. Danach sprengten die Identitären eine Radio-Livesendung des Publizisten Jakob Augstein im Berliner Maxim Gorki Theater. „Heuchler“, schrien sie in den Saal, bis sie rausgeschmissen wurden. Sie besetzten den Balkon der SPD-Bundeszentrale in Berlin, stellten ein Gipfelkreuz in den bayrischen Alpen auf oder stürmten eine Veranstaltung des Grünen-Chefs Cem Özdemir. 

 

Das ist alles nur geklaut


Es sind Sponti-Aktionen, geklaut aus dem linken Protestrepertoire. Inszenierte Provokationen an symbolträchtigen Plätzen, mit Bannern und Bengalos, im Anschluss medial klickträchtig aufbereitet. Vor fünf Jahren waren es noch die Umweltschützer von Greenpeace, die auf dem Brandenburger Tor standen und Banner gegen Atomkraft entrollten. Nun sind es die rechtsextremen Identitären.

 

Keine Gruppe aus der rechten Szene ist derzeit öffentlich präsenter als sie – und doch ist ihr Bild unscharf. Wer sind diese Aktivisten, die aussehen wie Hipster-Studenten mit Undercut und Tattoos? Wie gehen sie vor? Wer einen Blick auf die Leute vom Brandenburger Tor wirft, für den erhält dieses Bild Konturen. Dort oben stand ein Querschnitt der Identitären.

 

Die Sache mit der Besetzung hatte sich die Berliner Gruppe um Robert Timm ausgedacht. Timm sagt, sie hätten sich die Greenpeace-Klettertour genau angeschaut und dass sich seine Leute bei der anderen politischen Seite bedienen. „Es ist nicht alles schlecht, was die Linken machen“, sagt der 25-Jährige.

 

Robert Timm sitzt am Montagmittag in einem italienischen Café in Berlin-Mitte, nippt an einer Cola. Über den Bürgersteig schlendern Studenten, die Humboldt-Universität ist gleich nebenan. Timm fällt hier nicht auf. Hornbrille, opulenter Bart, Hemd und Sneakers. Timm selbst studiert Architektur in Cottbus, einer Stadt in Brandenburg, 140 Kilometer südöstlich von Berlin. Momentan aber macht er vor allem eines: Aktionen für die Identitären. 


Timm legte einen schnellen Aufstieg hin

 

 

Auch Timm bewegte sich einmal unter Linken. Er ist aufgewachsen im Osten Berlins, in einem linken, DDR-geprägten Elternhaus. Als Jugendlicher sprayte er Graffitis, sympathisierte mit der Antifa, ging auf den 1. Mai in Kreuzberg. Dann sei er auf ein Oberstufenzentrum in den Stadtteil gewechselt, war umgeben von Migranten. Der Beginn einer Entfremdung: Für diese Mitschüler hätten Sonderregeln gegolten, selbst als sie einen jüdischen Zeitzeugen beleidigten, habe das keine Folgen gehabt. So behauptet es Timm.

 

Auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat sei er im Internet auf die Videos von Martin Sellner gestoßen, dem Identitären aus Österreich. Seit diesem April macht Timm selbst mit: in der Berliner Regionalgruppe des Netzwerks, 30 Leute stark. Er legte einen schnellen Aufstieg hin, heute gehört er zur Führungsriege. Als Sellner kürzlich in Berlin zu Gast war, übernachtete er in der Berliner Wohnung, die Robert Timm noch hat.

 

Dass Timm mit der taz spricht, ist Teil der Imagepflege der Identitären: Die Gruppe schickt ihre eloquenten, freundlichen Köpfe voran, Robert Timm passt zur „Gesicht zeigen“-Strategie von Martin Sellner. Er spricht ruhig, überlegt, die Hände liegen gefaltet auf dem Tisch. Das ist die eine Seite.

 

Es gibt eine andere: die aktivistische. Zuletzt war kaum einer der Identitären so viel unterwegs wie Timm. Auf dem Brandenburger Tor stand er. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Berliner Landeswahlkampf auftrat, mischte er sich mit seinen Leuten unter das Publikum, skandierte „Merkel muss weg“. Als die Identitären Jakob Augstein im Theater beschimpften, war Robert Timm dabei. Als sie im Juni bundesweit zur Demonstration nach Berlin riefen, lief er als Ordner mit. Timm ist in Hamburg da, als die Identitären im Hauptbahnhof mit einem schwarzen Banner im IS-Stil aufziehen, und er ist in Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin, als die Identitären das Grünen-Landtagsbüro stürmen.

 

Wir sind hip, unangepasst, intellektuell               

 

 

Er ist ein Angefixter, ein Getriebener, er eilt von Aktion zu Aktion, jede muss die vorherige toppen, jede soll noch mehr Öffentlichkeit verschaffen. Auf Twitter schreibt Timm über seine Ausflüge. Er beherrscht die Kampfbegriffe, die sie im rechten Spektrum von Pegida bis NPD so gern benutzen: deutscher „Schuldkomplex“, „Multikultis“, „Gutmenschen“. Als im sächsischen Bautzen Flüchtlinge von Rechten durch die Stadt getrieben werden, schreibt Timm: „Remigration – zu Land, zu Luft, zu Wasser, mir egal“.

 

„Remigration“ – ein Kampfbegriff der Identitären. Ursprünglich in Frankreich entstanden, bildete sich eine erste identitäre Gruppe 2010 in Frankfurt am Main. Vier Jahre später ließen sich die Identitären in Deutschland als Verein eintragen. Als „aktivistische Avantgarde der schweigenden kritischen Masse“ sieht sie Vordenker Martin Sellner, als „Jugend ohne Migrationshintergrund“. Das Aussehen soll diese Botschaft stützen: Wir sind hip, unangepasst, intellektuell.

 

Die Identitären verkaufen T-Shirts mit dem Aufdruck „Reconquista“, ein Begriff für die christliche Eroberung der Iberischen Halbinsel von ihren muslimischen Herrschern im Mittelalter. Sie präsentieren sich auf Facebook und Twitter, sie treten in immer engerer Taktung auf. Viele der Kleinstaktionen dauern nur wenige Minuten – werden danach aber in umso pathetischeren Videos verbreitet.

 

Mit den klassischen Neonazi-Demonstrationen und muffigen NPD-Saalrunden hat das nichts mehr zu tun. Es ist die nächste Stufe der Modernisierung in der rechten Szene. Schon die „Autonomen Nationalisten“ übernahmen vor einigen Jahren linke Codes und Kleidung. Die Identitären gehen nun noch einen Schritt weiter: Sie legen auch den militanten Gestus ab, präsentieren sich mit Sonnenbrille und Nietzsche-Shirt und kopieren die Protesthappenings der linken und alternativen Milieus. Es ist ein selbstbewusster, scheinbar unbelasteter Rechtsradikalismus, der dabei entstehen soll. Einer, der sich offener präsentiert, nicht martialisch abschrecken will, einer, bei dem jeder mitmachen können soll.

 

„Remigration“ klingt nur netter            

 

 

Von den „Alten Rechten“ und „Rassisten“ grenzen sich die Identitären denn auch ab. Man achte jede Ethnie und Kultur – nur eben da, wo sie hingehöre. Das ist, in einem Satz zusammengefasst, das Konzept des Ethnopluralismus, erfunden und vorangetrieben von der Neuen Rechten: ein moderner Nationalismus, dessen Ausgrenzung über Kultur und Religion funktioniert.

 

Hassobjekt allen voran: der Islam. Die Identitären prophezeien den „großen Austausch“. Angeblich werde Europa gezielt durch muslimische Einwanderer „überflutet“, die einheimische Bevölkerung so „zersetzt“. Es ist ein klassisches rechtsextremes Horrorszenario, auch die NPD propagiert den „Volkstod“. Die „Remigration“, die Robert Timm fordert, sie ist nichts anderes als das alte „Ausländer raus“. Das Wort klingt nur netter, irgendwie wissenschaftlich. Tatsächlich aber sind sich die Nazis von gestern und heute in ihren Anliegen ganz nah.

 

Seit August beobachtet der Bundesverfassungsschutz die Identitären in Deutschland offiziell. „Es gibt Anhaltspunkte, dass sich die Aktivitäten gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten“, sagt Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Die Gruppe diffamiere muslimische Zuwanderer, sie habe sich im Zuge der Flüchtlingsdebatte weiter radikalisiert. Die „jugendgerechte Ansprache“ und „emotionale Propaganda“ sei gefährlich.

 

Der Kreis der wirklich Aktiven bei den Identitären ist klein. Als sie im Frühjahr zum „Deutschlandtreffen“ nach Thüringen luden, kamen 120 Teilnehmer, die meisten jung und männlich. Als die Gruppierung im Juni in Berlin demonstrierte, waren es kaum mehr. Zum Vergleich: Selbst die sieche NPD bringt es auf über 5.000 Mitglieder. Die Identitären selbst behaupten, sie hätten etwa 500 Anhänger. Auch um diese dünne Personaldecke zu kaschieren, sind Identitäre wie Robert Timm so hyperaktiv.

 

Alles wird gefilmt und online gestellt  

 

 

Am Montagabend vor zwei Wochen sitzt Timm auf einem Podium im Saal des Berliner Halong-Hotels, zentrale Hauptstadtlage, drei Sterne. Scheinwerfer richten sich auf den Studenten, das Rechtsaußen-Magazin Compact hat zu einer Diskussion über die Identitären geladen. Gut 60 Zuhörer sind gekommen. Lächerlich sei die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, sagt Timm. „Wir sind Beweis genug, dass wir keine Verfassungsfeinde sind. Wir werden weiter unseren Kurs fahren.“ Der Saal applaudiert.

 

Auf dem Podium sitzt ein prominenter Mitdiskutant: Martin Sellner. Der Österreicher ist eigens angereist, hat die Ärmel seines Karohemdes hochgekrempelt. Dann holt er zu einer Rede aus, spricht frei, hastig. Die „große Völkerbewegung“ habe gerade erst begonnen. „Wir haben eure Multikultiwelt satt, wir haben euren Schuldkult satt“, ruft Sellner. „Unser Aufstand hat gerade erst begonnen.“ Wieder brandet Applaus auf. Robert Timm lächelt.

 

Sellner ist das omnipräsente Gesicht der Identitären. Ein dauerlächelnder Sonnyboy, kurzgescheitelte Haare und Hornbrille, ein Philosophiestudent und Arztsohn, auch in Deutschland bei vielen größeren Aktionen dabei. „Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist“, sagt er. Als Jugendlicher hatte Sellner Kontakt zu rechtsextremen Kameradschaftlern. Eine Jugendsünde, sagt er. Heute tritt er eloquent auf, zitiert auch mal Heidegger. Und egal, was er tut: Sellner filmt sich dabei, stellt dies ins Internet. Das „Gesicht zeigen“ der Identitären – es ist hier ein Stück Selbstverliebtheit.


Den Vorwurf, verfassungsfeindlich zu sein, weist auch Sellner zurück. Seiner Bewegung gehe es im Gegenteil darum, den Staat zu schützen. Und die Aktionen seien stets gewaltfrei. Dagegen steht die Rhetorik der Identitären. Die Versuche, von Flüchtlingen nach Europa zu kommen, sind für sie eine „Invasion“, sie fordern eine „Festung Europa“ und eine „Reconquista“ wie im Mittelalter.

 

Stehen in Stasi-Uniform vor der Tür    

 

 

Auch das Gruppensymbol, das Lambda, ist ein Teil ihrer Deutung von Geschichte. Die Identitären sagen, es beziehe sich auf das Zeichen, welches die spartanischen Krieger der Antike auf ihren Schildern getragen haben. Die Spartaner hätten schon damals den Angriff von Fremden auf Europa abgewehrt, den der Perser nämlich. Auch in der Gegenwart, so verkündet es die Bewegung, gehe es wieder darum, das Abendland zu verteidigen, es gehe um die „letzte Chance einer patriotischen Wende“. Mit den Identitären „erhebt sich die letzte wehrhafte Generation“. Der Österreicher Sellner fabuliert von einer „Maidanisierung“ Deutschlands, die Bürger würden eines Tages wie in der Ukraine ihre Regierung vertreiben.

 

Simone Rafael von der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung, die über Rechtsextremismus aufklärt, warnt vor den Inszenierungen der Identitären: „Sie versuchen, völkisches und rassistisches Gedankengut wieder salonfähig zu machen, diesmal nur mit einer Prise Popkultur.“ Die Gruppe werte Minderheiten ab, auch sie wolle diese „letztlich nicht hier haben“. „Das unterscheidet sich nicht vom klassischen Rechtsextremismus.“

 

Die Stiftung, für die Rafael arbeitet, gehört zu den Zielen, gegen die sich die Aktionen der Identitären richten. Seit Monaten werden die Rechtsextremismusexperten von der Gruppe als „Denunzianten“ und „Zensuragentur“ geschmäht, unter anderem deshalb weil sie Hass und Rassismus im Internet benennen und versuchen, etwas dagegen zu tun. Eine Handvoll Identitärer stand im Juli plötzlich vor der Tür der Stiftung, in Stasi-Uniform.

 

Seit Jahren machen rechte Gruppen und Zeitungen wie die „Junge Freiheit“ gegen die Chefin der Stiftung, Anetta Kahane mobil, weil sie in der DDR von 1974 bis 1982 als Inoffizielle Mitarbeiterin für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet hat. Kahane hatte das selbst wiederholt angesprochen, ein Gutachten bescheinigt ihr, niemandem geschadet zu haben. Aber ihre Vergangenheit eignet sich gut, um die Stiftung als Zensoren darzustellen.

 

„No Border“ wird zu „Pro Border“  

 

 

Einer der Uniformträger stand auch auf dem Brandenburger Tor: Hannes Krünägel. Ein Rostocker, 27 Jahre alt, Student der Elektrotechnik, Burschenschaftler. Auch Krünägel ist zu der Podiumsdiskussion nach Berlin gekommen, er sitzt gleich in der ersten Zuhörerreihe vor Sellner und Timm, schwarzes Hemd, kurze Haare. Die Diskussion wird von Jürgen Elsässer moderiert, der lange für linke Medien geschrieben hat und inzwischen Chefredakteur des rechtspopulistischen Magazins Compact ist.

 

Als Elsässer die Besetzer vom Brandenburger Tor begrüßt, sie als „Helden“ preist, da erhebt sich auch Krünägel. Ein wenig schüchtern blickt er ins applaudierende Publikum. Auch Krünägel reist für Identitären-Aktionen quer durch die Republik, seit zwei Jahren schon, inzwischen ist er „Regionalleiter“ in Mecklenburg-Vorpommern. „Ich glaube fest an eine gesellschaftliche Wende in unserem Sinne“, sagt Krünägel später im Hotelfoyer. „Mit jeder Aktion mehr.“

 

Die Aktion bei der Amadeu-Antonio-Stiftung bezeichneten die Identitären im Nachhinein als „satirische Intervention“. Wieder eine offene Anleihe von der Gegenseite: Zuletzt war es das „Zentrum für Politische Schönheit“, das mit selbsternannten „Interventionen“ ein breites Medienecho verursachte. Die Künstler des Zentrums kündigten an, Flüchtlingsleichen vor dem Kanzleramt zu beerdigen oder Asylsuchende von Tigern fressen zu lassen. Sie protestierten damit für eine offenere Flüchtlingspolitik, eine neue Stufe linker Aktionskunst. Die Identitären bedienen sich zumindestens schon einmal am Vokabular.

 

Auf Demonstranten klauen sie Parolen der Linken: Aus deren „No Border, No Nation“ machen die Identitären ein „Pro Border, Pro Nation“. Während die Linken einst zu Elektromusik feierten und „Atomkraft wegbassen“ wollten, heißt es bei den Identitären: „Multikulti wegbassen“. Seit Kurzem hat die Gruppierung ihren eigenen Rapper, „Komplott“. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, singt der – und bemächtigt sich der berühmten Liedzeile von Rio Reiser. Nur diesmal mit der Klage über „Milliarden für Migranten“ und „den ganzen Tag nur Homothemen“.

Sie wollen eine rechte Kulturrevolution   

Robert Timm sagt, „wir wären dumm, wenn wir nicht aus den Erfahrungen des linken Aktivismus lernen würden“. Die Besetzung sei nur der Anfang gewesen. Eine größere Aktion sei schon geplant – kleinere, „subtile“ ebenfalls. Auch Martin Sellner nennt seine Identitären gern ein „patriotisches Greenpeace“. Elsässer, der Compact-Chefredakteur, geht noch weiter. Jemanden wie Sellner „gab es seit Rudi Dutschke nicht mehr“, sagt er in Berlin. Auf dem Podium zeigt sich noch einer äußerst zufrieden: Götz Kubitschek. Es sei „extrem gut gelaufen“ zuletzt für das „neurechte Widerstandsmilieu“, sagt der 46-Jährige. Trotz Verfassungsschutzbeobachtung der Identitären habe es keine „Entsolidarisierung“ gegeben. „Die Leute haben einfach weitergemacht.“

 

Götz Kubitschek ist ein Mentor der Identitären – und Ideologe der Neurechten. Im kleinen Schnellroda in Sachsen-Anhalt betreibt er auf einem Rittergut das „Institut für Staatspolitik“, eine neurechte Denkfabrik, von hier vertreibt er seine Szenezeitschrift Sezession. Einige Wochen lebte auch Martin Sellner in Schnellroda. Zu Kubitscheks jährlicher „Sommerakademie“ reisten vor zwei Wochen auch deutsche Identitäre an.

 

Kubitschek fordert schon seit Jahren eine Kulturrevolution von rechts – auch mithilfe „subversiver Aktionen“ wie einst die 68iger. Er selbst ging voran: Mit Gleichgesinnten stürmte er eine Tagung von linken Studenten in Berlin, er störte Veranstaltungen von Günther Grass und Daniel Cohn-Bendit. Nun folgen die Identitären. „Ziemlich egal, was ihr in dieser Richtung macht“, sagt Götz Kubitschek in Berlin, „unsere Unterstützung habt ihr“.

 

Halbe Distanzierung von NPD-Anhängern

     

 

Inzwischen haben die Identitären eigene Medien, zum Beispiel die Sendung von Philipp Thaler auf YouTube. Auch er stand auf dem Brandenburger Tor, auch er sitzt bei Jürgen Elsässers Podium in Berlin. „Wehrt euch“ steht auf seinem grauen Shirt.

 

Thaler plaudert in seiner Onlinesendung mit Gesinnungskameraden, neben sich eine Mate-Brause. Alles locker, alles ironisch, Thaler spricht über WhatsApp und Fernbusse. Dann der Schwenk: Flüchtlinge, die Amadeu-Antonio-Stiftung, die „Heuchler“ der Grünen. Thaler kommt aus Halle in Sachsen-Anhalt, auch er ist Student und Burschenschaftler. Er gehört zu einer der aktivsten Gruppen der deutschen Identitären – und einer der radikalsten. „Kontrakultur“ nennen sie sich in Halle. Im Frühjahr mauerten sie dort den Eingang eines Hauses zu, in dem Migranten eine Probewahl abhalten sollten, und schrieben „No way“ auf die Mauersteine. An eine Flüchtlingsunterkunft sprühten sie auf Arabisch: „Geht nach Hause“. Thalers Identitäre gehen weiter als Robert Timm und die Berliner: Sie bleiben nicht bei Symbolen – sie zielen direkt auf die Flüchtlinge.

 

Nur weil sie Neues zu bieten haben, verzichten die Identitären nicht auf Bewährtes. Sie bieten Sommersonnenwendfeiern, Volksliederabende, Kampfsport – der altbekannte, rechtsradikale Aktionskanon. Einige Identitäre waren früher Mitglieder der NPD-Jugend. Einer von ihnen stand auch auf dem Brandenburger Tor. Anders als Timm lehnt er ein Gespräch mit dem Journalisten ab.

 

In einem älteren, internen „Aufbauplan“ der Identitären steht noch eine halbe Distanzierung von NPD-Anhängern. Sie sollten nicht auf der Führungsebene mitmachen dürfen, denn sie würden „der Gruppe mehr schaden“. Ganz verzichten wollten Robert Timm und seine Truppe auf die Neonazis aber noch nie. Wenn diese sich „von dieser Partei klar distanzieren“, seien sie durchaus willkommen – so steht es in dem Dokument. Heute gilt nicht mal mehr das Chefetagenverbot. Einer der bundesweit führenden Identitären-Funktionäre schulte früher die NPD-Jugend und war in einer Kameradschaft in Rostock.

Die AfD distanziert sich  

Die Identitären haben es mit dieser Flexibilität geschafft, sich weit zu vernetzen. Ihre Fahnen wehten auf Pegida-Aufzügen, sie zeigen sich in Burschenschaften, AfD-Abgeordnete sprachen auf ihren Veranstaltungen. Zuletzt trat eine Identitären-Aktivistin, eine Lehramtsstudentin aus Halle, als Sängerin bei der Wahlparty der AfD in Mecklenburg-Vorpommern auf.

 

Eigentlich wollte sich die AfD von den Identitären distanzieren – wohl aus Vorsicht, nicht selbst in den Ruch des Verfassungsfeindlichen zu kommen. Eine Zusammenarbeit werde es nicht geben, lautete ein Beschluss des AfD-Bundesvorstands. Mitglieder dürften dem Netzwerk nicht angehören. Prompt aber widersprach die Patriotische Plattform, ein Verbund weit rechter AfDler: „Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeit zwischen Identitärer Bewegung und AfD“, so ihre Erklärung. „Denn auch die AfD ist eine identitäre Bewegung.“

 

Robert Timm, Philipp Thaler und Hannes Krünägel freuen sich über solche Sätze. Sie mögen nicht viele sein, aber sie fühlen sich gerade wie die Popstars ihrer Szene. Schon kurz nachdem die Polizei sie vom Brandenburger Tor holte, gab es eine Spendenkampagne. „Wir werden alle Kosten damit decken können“, sagte Robert Timm. Und auch Sellner freut sich: „In ganz Deutschland ist ein Fieber erwacht.“ Die Aktionen der Identitären seien „das Leuchtfeuer“.

Das ist Wunschdenken. Der Kosmos, in dem sich die neurechten Aktivisten bewegen, ist sehr klein. Es sind die immer gleichen Gesichter, die bei den Aktionen der Identitären auftauchen. Aber macht sie das weniger gefährlich?

Der Chef twittert „Je suis Bautzen“ 

Im Vokabular der Identitären ist eine weitere Radikalisierung angelegt. Bereits jetzt tragen sie mit zu einem Klima bei, in dem 2016 bereits mehr als 500 fremdenfeindliche Gewalttaten hervorgebracht hat – nahezu eine Verdoppelung zum Vorjahr. „Je suis Bautzen“, twitterte Anführer Martin Sellner nach der Jagd auf Flüchtlinge in der sächsischen Stadt.

 

In der linken Szene verfolgen sie den Ideenklau der Rechten, sind aber unsicher, wie sie damit umgehen sollen. Auf jeden Fall gestehen auch Autonome den Identitären Professionalität zu. Und dass es bislang keine ernsthafte Gegenwehr gebe, sei „nicht schönzureden“, hieß es vor einigen Wochen auf einem linken Internetportal. Jemand anderes konterte, man dürfe die „identitären Lappen auch nicht aufwerten“. Bisher bleibe deren Zahl doch überschaubar. Mal sehen, wie die auf ernsthaften Gegenprotest reagieren, das ist auch noch zu lesen. Die Identitären sind auch noch so gut wie nie auf gewaltbereite Linke getroffen; sollte es dazu kommen, könnte das ihre Anhänger entweder mobilisieren oder abschrecken.

 

Erste Versuche, sich zu wehren, gibt es. Als Götz Kubitschek und die Identitären jüngst mit ihrer „Sommerakademie“ in Schnellroda tagten, reisten 120 Linke an und demonstrierten. „Aufstehen gegen Rassismus“ stand auf ihren Transparenten. „Konsequent gegen Neue Rechte.“

 

Auf einer Mauer vor dem Tagungshaus schaute Martin Sellner lächelnd zu, kurze Hose, getönte Sonnenbrille. Er beobachtete die Gegendemonstranten, fotografierte sie mit einer Kamera. Dann wendete er das Objektiv, machte ein Selfie vor den Demonstranten – und stellte es ins Internet.