Vor einem Jahr gab es im sächsischen Heidenau schwere Ausschreitungen wegen eines Heims für Flüchtlinge. Viele Bürger sind immer noch wütend.
Gerade so als wäre nichts gewesen, liegt der einstige Baumarkt heute an der Bundesstraße 172. Ein provisorischer Metallzaun trennt ihn noch von der Umgebung, die weißen Planen aber, die als Sichtschutz dienten, sind abgenommen. Am Eingang hängt neben dem verwitternden Logo des Deutschen Roten Kreuzes ein Briefkasten, „EAE Heidenau“, steht darauf, Erstaufnahmeeinrichtung Heidenau, darunter hat jemand mit blauem Filzstift „unbekannt verzogen“ geschrieben. Im April zogen hier die letzten Asylbewerber aus, seitdem dient das Gebäude als Materiallager: Zelte, Feldbetten, Schlafsäcke und Trennwände sind für künftige Notfälle gestapelt – Flüchtlingsankünfte, Flutkatastrophen oder Evakuierungen.
Ein Jahr ist es jetzt her, dass an dieser Stelle großes Geschrei und rohe Gewalt herrschten. Wie ein Lauffeuer hatte sich in der Stadt und über Facebook die Kunde verbreitet, dass das Land Sachsen in dem Gebäude ein Notaufnahmelager für Asylbewerber einrichtet, keine 24 Stunden später sollten die ersten Flüchtlinge einziehen. Es war die Zeit, als in ganz Deutschland überall in großer Eile neue Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge eingerichtet wurden. Ein NPD-Stadtrat rief zum Protest auf, rund 1000 Leute zogen daraufhin durch Heidenau und am Haus des Bürgermeisters vorbei, einige Neonazis und Rechtsradikale, viele junge Männer und auch Familien mit Kindern.
Ausschreitungen dauerten zwei Nächte
Nach der Demonstration lief ein Großteil der Teilnehmer weiter zu besagtem Baumarkt. Jetzt wurde nicht mehr geredet, sondern geworfen: Bierflaschen, Steine und Bauzäune flogen auf Polizisten, die Gewalt explodierte. „Uns allen war mulmig“, erinnert sich Kai Kranich. Er ist Sprecher des Roten Kreuzes und befand sich damals zusammen mit Mitarbeitern im Gebäude, um es für die Ankunft der Flüchtlinge vorzubereiten. „Als draußen Tränengasschwaden vorbeizogen, haben wir drinnen Helme ausgegeben“, sagt er.
Dass sie als Helfer angefeindet wurden, habe viele schwer erschüttert. „Bis dahin waren wir immer die Guten und Anerkennung gewöhnt.“ Mit Politik hätten sie ja nichts zu tun. Den Medizin-Stützpunkt, eigentlich für Flüchtlinge gedacht, eröffneten sie vorfristig, um Verletzte zu versorgen – Polizisten und Randalierer, die „Fuck Asyl“ auf ihren T-Shirts stehen und jetzt Platzwunden hatten.
Zwei Nächte dauerten die Ausschreitungen, 33 Polizisten wurden zum Teil schwer verletzt, Fahrzeuge zerstört, und Heidenau, die Kleinstadt östlich von Dresden, stand auf einmal im Fokus der Weltöffentlichkeit – als Synonym für Fremdenhass und „Dunkeldeutschland“. Angela Merkel wurde bei ihrem Besuch beschimpft und beleidigt; Sigmar Gabriel bezeichnete die Randalierer, und wohlgemerkt nur die Randalierer, als „Pack“. Bis heute wird vor allem bei AfD-Mitgliedern und Pegida-Anhängern die Legende gepflegt, der Vizekanzler habe damit alle Kritiker der Asylpolitik gemeint.
Acht Monate später waren die Flüchtlinge wieder weg, beinahe so schnell, wie sie gekommen waren. Sie sind nicht vertrieben worden, im Gegenteil, die Notunterkunft wurde wie viele andere aufgegeben, weil immer weniger Asylbewerber kommen.
Niemand will offen über die Ereignisse reden
Musste die Gewaltorgie sein? „Nein“, lautet die einhellige Antwort auf eine Blitzumfrage im Stadtzentrum, das im Übrigen schick herausgeputzt ist. Die meisten Häuser sind saniert, auch die Plattenbauten in den Wohnvierteln haben frische Farbe, Straßen werden gebaut, Grünflächen gepflegt. Das alles ist kein Sonderprogramm, um die Stadt zu besänftigten, sondern Alltag, und freilich gibt es große Probleme, vor allem mit Arbeitslosigkeit. 5000 Menschen, ein Fünftel seiner Einwohner, hat Heidenau seit der Wiedervereinigung verloren. Das alles sei natürlich keine Entschuldigung für die Gewalt, sagen viele, aber offen reden über die Ereignisse vom August 2015 will niemand.
Endlich wieder Ruhe, lautet stattdessen der Tenor, auch bei Bürgermeister Jürgen Opitz. Vor einem Jahr galt der CDU-Politiker vielen als Lichtblick, weil er sich nicht wie viele seiner Amtskollegen in ähnlichen Lagen einfach wegduckte, sondern von der ersten Minute an mit klaren Worten die Gewalt verurteilte und sich zugleich schützend vor seine Stadt stellte.
Denn was damals in Medien und Öffentlichkeit kaum vorkam, war das andere Heidenau: 750 freiwillige Helfer meldeten sich binnen kürzester Zeit, spendeten Geld, Kleidung und Spielzeug, organisierten Deutschunterricht, betreuten Kinder oder erkundeten mit Flüchtlingen die Umgebung; 80 Ehrenamtliche kümmerten sich gar permanent um die insgesamt 2500 Asylbewerber, die hier eine erste Bleibe fanden. Die Ehrenamtlichen hielten acht Monate durch, die Randalierer zwei Tage.
„In der Stadt herrscht eine schwebende Unruhe“
Bürgermeister Opitz hat seitdem viel mit Einwohnern gesprochen, er hat sie ins Rathaus eingeladen, und er ist in Schulen, zu Vereinen, in Betriebe gegangen. Darüber mit Journalisten reden will er heute nicht mehr. Das Rathaus teilt mit, dass er dem Thema nicht abermals Aufmerksamkeit verschaffen wolle. Wer Letzteres tut, wird mutmaßlich scharf kritisiert in der Stadt, und auch deshalb sind drei Mitglieder der Heidenauer Bürgerinitiative (HBI) nur unter der Bedingung, dass man ihre Namen nicht nennt, zu einem Gespräch bereit.
Die HBI gibt es schon seit 20 Jahren, sie kämpfte einst erfolgreich gegen zu hohe Abwasseranschluss- und Straßenausbaugebühren, sie ist im Ort anerkannt und wird bis heute in den Stadtrat gewählt. Im August vor einem Jahr wurde sie häufig mit der „Bürgerinitiative Heidenau“ verwechselt, die sich frisch gegründet hatte, um gegen Asylbewerber zu polemisieren.
„In der Stadt herrscht eine schwebende Unruhe“, sagt der älteste der HBI-Vertreter, ein Ur-Heidenauer und Handwerker im Ruhestand, der beinahe jeden im Ort kennt. „Beim nächsten kleinen Anlass kann das hier wieder hochgehen.“ Er kenne Leute, die bei den Krawallen dabei waren, Menschen, von denen er das nie gedacht hätte, und auch nicht, dass sie selbst noch die dümmsten Gerüchte verbreiten, etwa, dass Flüchtlinge für 50 Euro im Supermarkt klauen dürften.
„Ich kenne viele Heidenauer vom Sport, mit einigen hatte ich jahrelang ein gutes Verhältnis“, erzählt er. „Heute kannst du mit denen nicht mehr vernünftig reden, die gehen sofort hoch, werden aggressiv, bösartig und beleidigend.“ Wo früher ein „Wie geht’s“ in einen kurzen Plausch mündete, werde heute bisweilen „Wie soll’s einem schon gehen in diesem Hundestaat?“ entgegnet und grußlos weitergegangen. „Da frage ich mich: Geht’s denn irgendjemandem schlechter, seit die Flüchtlinge da sind? Ist irgendjemandem etwas gekürzt oder weggenommen worden?“
Kriminalität nicht angestiegen
145 Flüchtlinge leben heute in Heidenau, sie haben ein neues Zuhause in einer der vielen leerstehenden Wohnungen gefunden; einige haben Arbeit, die meisten lernen Deutsch, ihre Kinder gehen zur Schule. „Die fallen hier überhaupt nicht auf“, sagt einer der HBI-Vertreter. Auch Zwischenfälle habe es seit dem August vergangenen Jahres keine mehr gegeben. Und Kriminalität? Laut Polizei nicht gestiegen, genauso wenig wie die Zahl der Diebstähle in den Supermärkten.
Die Asylgegner ficht das nicht an, sie glauben den Zahlen nicht und der Politik schon gar nicht, sondern machen stattdessen Stimmung, vor allem über Facebook, auf Seiten die „Nein zum Heim“ heißen oder „Heidenau zeigt wie’s geht“. „Der Plan, das Land zu überfremden und Eskalationen zu provozieren, wird mit eiserner Hand durchgeführt“, ist dort seit vergangener Woche zu lesen, und 2212 Leuten gefällt das.
Im Internet hält die Initiative „Heidenau ist bunt“ dagegen, sie hat gut 5000 Unterstützer, und natürlich ist die Mehrheit der Heidenauer nicht ausländerfeindlich, und sie war es auch nicht vor einem Jahr. Nur bleibt diese Mehrheit oft unbemerkt und leise, sodass die anderen, die laut und fordernd und aggressiv auftreten, das Bild prägen und sich stark fühlen können. Dazu trägt freilich auch die mangelnde Strafverfolgung bei.
Nur wenige der Randalierer vom August 2015 mussten sich bisher vor Gericht verantworten. 26 Verfahren gab und gibt es dazu, zeigt eine Übersicht des Justizministeriums, die meisten wegen schweren Landfriedensbruchs und Beleidigung; bisher wurde ein Täter zu einem Jahr und acht Monaten Haft verurteilt, ein weiterer erhielt acht Monate Jugendstrafe auf Bewährung, drei weitere bekamen Geldstrafen, und acht Verfahren wurden mangels Beweisen eingestellt. Die Polizei konnte diese damals nicht sichern, sie hatte alle Hände voll zu tun, die Flüchtlingsunterkunft und auch sich selbst zu schützen.