Tübinger OB räumt „körperlichen Einsatz“ beim Ract ein, bestreitet aber Schläge

Erstveröffentlicht: 
15.06.2016

Boris Palmer gerät wegen seiner handgreiflichen Reaktion auf einen mutmaßlichen Angriff, ein verschüttetes Getränk, beim Ract-Festival zunehmend unter Druck. Mehrere Augenzeugen belasten jetzt den Tübinger Oberbürgermeister. Dieser bleibt bei seiner Darstellung des Vorfalls.

 

Oberbürgermeister Boris Palmer bekam – wie berichtet – am 4. Juni auf dem Ract-Festival von einer jungen Frau ein Getränk auf den Anzug geschüttet, aus seiner Sicht absichtlich. Dritte sprechen von Kaffee, Palmer geht wegen des Geruchs von Bier aus, ist sich aber nicht ganz sicher. Flecken habe es keine hinterlassen. Seine Reaktion war unstrittig emotional und handgreiflich. Aber wie heftig? Die Darstellungen gehen auseinander. Eine Rolle spielt jetzt auch ein junger Mann, der zwischen Palmer und die junge Frau ging – und ein Video der Szene.

 

Als „zufällige Augenzeugin“ wandte sich jetzt Kornelia Wiedenbach ans TAGBLATT. Die Tübingerin schilderte das für sie „erschütternde Ereignis“ so: „Ich unterhielt mich gerade mit Bekannten, als eine junge Frau unweit von mir stehend in mein Blickfeld geriet, die einen Kaffeebecher in der Hand hielt. Sie stand schon einige Zeit an der gleichen Stelle, als sie plötzlich von hinten von dem sehr eilig gehenden Herrn Palmer angerempelt wurde. Dabei ergoss sich der Inhalt des Bechers auf Herrn Palmer.“ So etwas könne vorkommen, zeigt Wiedenbach Verständnis.

 

Doch was folgte, habe sie „entsetzt“: „Statt sich zu entschuldigen, ging Herr Palmer lautstark sofort auf die junge Frau los, schubste und griff sie an, drängte sie in eine Ecke ab.“ Dann kam eine weitere Person hinzu: „Einer der Ractler sprintete her und forderte ein sofortiges Aufhören und drängte sich dazwischen. Aber es war immer noch nicht genug, auch dieser junge Mann wurde körperlich angegriffen von einem völlig enthemmten Herrn Palmer, der nun auch den jungen Mann beschimpfte, an einem Komplott gegen ihn beteiligt zu sein.“

 

Die Zeugin, die sich als „ältere Person, die trotzdem das Ract noch genießen kann“ bezeichnet, berichtet: „Nun fühlte ich mich genötigt einzuschreiten und Herrn Palmer über das Geschehene und seinen Irrtum aufzuklären, worauf er auch mich des Komplotts bezichtigte. Erst seine hinzueilende Frau konnte ihn etwas beruhigen und vom Platz führen.“ Für Kornelia Wiedenbach ist klar: Ein Oberbürgermeister sollte sich anders verhalten. „Ich möchte Herrn Palmer dringend ein Antiaggressionstraining empfehlen.“

 

Flüssigkeit auf Palmer

 

Palmer wies die Darstellung der Zeugin zurück: „Von ihrem Sichtwinkel konnte sie das gar nicht beurteilen. Ich nehme der Frau ab, dass sie das Geschehen so wahrgenommen hat. Es war ja auch alles drauf angelegt, es so erscheinen zu lassen.“ Wiedenbach besteht jedoch auf ihrer Beobachtung: „Ich hatte die junge Frau voll im Blickfeld. Palmer kam schnellen Schrittes an und ist von hinten auf die junge Frau aufgelaufen.“ Diese habe mit dem Rücken zu Palmer gestanden und keine Schritte auf diesen zugemacht. Der OB sagt: „Von hinten habe ich die junge Frau definitiv nicht getroffen. Sie kam vorwärts auf mich zu. Auch da irrt die Zeugin ganz eindeutig.“ Es steht also Aussage gegen Aussage.

 

Palmer stellt die junge Frau

 

Palmer räumt ein, im Affekt gehandelt zu haben: „Natürlich habe ich mich aufgeregt.“ Auch ein Handgemenge leugnet der Oberbürgermeister nicht. Von der jungen Frau habe er aber nach wenigen Sekunden abgelassen. Dem widerspricht Wiedenbach. Auch der junge Mann, der dazwischenging. Auf TAGBLATT-Bitte an die Ract-Organisatoren meldete er sich. Es ist David Kaupp, ein langjähriger Tübinger Jugend-Gemeinderat. Die Getränke-Szene habe er nicht genau mitbekommen, sehr wohl aber wie Palmer der jungen Frau nachgesetzt habe: „Boris Palmer hat sie gepackt und gehauen.“

 

Schläge für einen Schlichter?

 

Kaupp berichtet über sein Einschreiten: „Ich habe Palmer von ihr weggezogen. Dann hat er auch mich gehauen.“ Dabei sei er durch seine Plakette und die rote Arbeitshose eindeutig als Ract-Helfer erkennbar gewesen. „Palmer war in Rage, rational nicht mehr zugänglich.“ Kaupp sagt, er habe nur die Personen trennen wollen. Er bedauert, dass Palmer anschließend gleich das Gelände verlassen hat, bevor Näheres geklärt werden konnte. Wiedenbach bestätigt Kaupps Darstellung. Dieser sei klar als Ractler zu erkennen gewesen und habe zunächst „Stopp!“ gerufen. Wiedenbach betont: Ich habe nichts gegen Herrn Palmer, ich habe ihn sogar gewählt.“ Aber sein Auftreten habe sie erschüttert.

 

Palmer beteuert: „Ich habe definitiv niemand gehauen. Er ging mich direkt körperlich an und war laut, dagegen habe ich mich durch einmaliges Abschütteln gewehrt. Er hat sich nicht als Ract-Helfer vorgestellt. Er hat keinen Versuch gemacht, zu deeskalieren oder zu klären, sondern sich direkt und schon nach wenigen Sekunden auf der Seite der Frau betätigt, die mich mit der Flüssigkeit überschüttet hat. Ich empfand ihn als aggressiv und einseitig.“ Danach habe er das Ract-Festival verlassen – weil eine Diskussion nichts mehr gebracht habe und weil er zum nächsten Termin habe müssen (der Jubiläumsfeier des Gesangvereins Hagelloch). Der OB fasst zusammen: „Ich habe an meiner Schilderung nichts zu ändern.“ Er bittet um Verständnis: „Wenn man in der Rolle des Angegriffenen ist, ist es nicht leicht, ruhig zu bleiben.“ Es sage sich leicht.

 

Vertrautes Muster

 

Wer hat nun recht, was ist geschehen? Viele Unterschiede erklären sich durch verschiedene Wahrnehmungen und Bewertungen: Was für den einen ein schlichtendes Dazwischengehen ist, ist für den anderen ein Angriff. Was für den einen ein Abschütteln ist, ist für den anderen ein Schlagen.

 

Palmer erklärt sein Verhalten so: „Ich bin in den letzten Jahren zunehmend häufiger physisch attackiert worden. In keinem einzigen Fall hatte das für einen Angreifer Konsequenzen. Das erzeugt das Gefühl, dem schutzlos ausgeliefert und auf sich selbst gestellt zu sein. Für mich hat sich in den entscheidenden zehn Sekunden der Vorfall vor einem Jahr exakt wiederholt.“ Damals wurde er heftig angerempelt und beschimpft, ebenfalls mit Grinsen. „Aus diesem Grund war ich zweifellos sehr lautstark in der Gegenwehr. Mein körperlicher Einsatz war erstens eine Reaktion, zielte zweitens darauf, den Becher zu fassen und die Person am Gehen zu hindern und drittens den vermeintlichen zweiten Angreifer abzuschütteln.“

 

Der Oberbürgermeister vorsichtig: „Ob ich die Situation richtig eingeschätzt habe oder alles nur ein Versehen war, weiß ich nicht.“ Allerdings: „Für mich sprechen weiterhin alle Indizien für Absicht. An so viel Zufall kann ich nicht glauben.“ Und Palmer erinnert an die Gewaltverherrlichung: „Zentral ist für mich, dass der Anonymus, der den Vorfall publik gemacht hat, für eine Gruppe spricht, die es offensiv befürwortet, dass solche Angriffe stattfinden und dafür viel Zuspruch erhält. Das heißt für mich, dass ich weiterhin damit rechnen muss, solchen oder ähnlichen Attacken ausgesetzt zu sein.“

 

Die Ract-Organisatoren haben mit der Gruppe um die Internetseite linksunten.de nichts zu tun. Sie sind alles andere als glücklich. „Wir als Festival distanzieren uns von jeder Form der Gewalt von oder gegen Palmer“, sagt der für die Sicherheit zuständige Darian Billat. „Warum gibt es immer bei uns Angriffe auf Palmer?“, fragt er: „Das ist schlecht für uns.“ Simon Landwehr vom Orga-Team sagt: „Wir bieten ihm jedes Jahr wieder Schutz an.“ Er setzt sich für den „verbalen Diskurs“ ein: „Man muss ja nicht der politischen Meinung Palmers sein, aber Angriffe gehen nicht.“ Aber auch über die Affekthandlung des Oberbürgermeisters ärgert sich der Festival-Macher. „Das passt nicht zum Amt.“