Vor vier Jahren flog die Terror-Gruppe NSU auf – und noch ist vieles unklar

Erstveröffentlicht: 
04.11.2015
Neonazis brachten zehn Menschen um / Verfassungsschutz vernichtete Akten / Prozess schleppt sich hin
VON CHRISTOPH LEMMER

 

München/Zwickau. Niemand habe es wissen können. Die Terroristen hätten ja keine Bekennerschreiben verschickt. So lauteten heute vor vier Jahren die Auskünfte sämtlicher Sicherheitsbehörden und der Innenministerien von Bund und Ländern. Die Namen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tauchten erstmals bundesweit in Medien auf. Es ging um Schüsse und ein brennendes Wohnmobil in Eisenach. Beate Zschäpe war auf der Flucht. Die Wohnung der drei in Zwickau war explodiert. Der 4. November 2011 war der Tag, an dem schlagartig klar wurde, dass es etwas gab, was keine Behörde auch nur geahnt haben will: Terrorismus auf der rechtsextremen Seite. Damit habe niemand rechnen können, hieß es einhellig am 4. November 2011. Geld, Unterstützer, ideologisches Rüstzeug – das alles habe gefehlt, anders, als bei der linksextremen RAF, die sich im April 1998 für aufgelöst erklärt hatte.

 

Nur drei Monate vorher waren Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Untergrund abgetaucht. Die Stimmung war ähnlich angespannt wie heute. Mehrmals hatte es Anschläge gegen Asylbewerber gegeben. Pegida existierte noch nicht. Dafür skandierten Skinheadgruppen „Ausländer raus“. Auf der anderen Seite gab es Lichterketten, wo heute „Willkommenskultur“ gepflegt wird.

 

13 Jahre lebten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt unerkannt in Chemnitz und Zwickau. Sie sollen Banken überfallen, neun türkisch- und griechischstämmige Gewerbetreibende ermordet und außerdem in Heilbronn eine aus Thüringen stammende Polizistin erschossen haben. Und all das will niemand gewusst haben? Jahrelang sprachen die Behörden von einem „Phantom“. Dass es eine Mordserie war, wussten die Ermittler: Bei den neun fremdenfeindlich motivierten Morden wurde immer dieselbe Waffe verwendet: eine tschechische „Ceska“-Pistole.

 

Von einem „Phantom“ sang auch der rechtsradikale Sänger Daniel Giese mit seiner Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“. „Neunmal hat er es schon getan [...] bei allen Kebabs herrschen Angst und Schrecken [...] Er kommt gern spontan zu Besuch, am Dönerstand, denn neun sind nicht genug.“ Die CD, auf der dieses Lied zu hören war, erschien im August 2010, zu einer Zeit, als noch niemand etwas geahnt haben will. Dabei wurde das Lied auf zahlreichen Szene-Konzerten gespielt. Auf denen trieben sich auch V-Leute herum. Dem Sprecher des bayerischen Innenministeriums fehlten kurz die Worte auf diese Frage, nachdem er am 4. November 2011 am Telefon dieses Lied vorgespielt bekam.

 

In den vier Jahren seit dem Ende des NSU hat der Staat immensen Aufwand getrieben, um nachzuarbeiten und Lehren zu ziehen. In mehreren Bundesländern gab oder gibt es parlamentarische Untersuchungsausschüsse. In München läuft seit Mai 2013 der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer.

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte allerdings mehr versprochen. „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken“, sagte sie am 23. Februar 2012 vor Hinterbliebenen und Opfern der Anschläge. „Daran“, so die Kanzlerin, „arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“ Am 11. November 2011, zwei Monate vor ihrer Rede und kurz nach dem NSU-Ende, war beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln das glatte Gegenteil geschehen. Ein Referatsleiter ordnete an, umfangreiche Akten einer Geheimdienstoperation im Umfeld des NSU zu löschen.

 

Andere Akten blieben erhalten. Denen war zu entnehmen, dass die Geheimdienste ihre Zuträger nicht nur unter unauffälligen Mitläufern hatten. Vielmehr gab es so gut wie keine Gruppe um den NSU, die nicht von Geheimdienst-Spitzeln angeführt oder gegründet wurde. Nicht nur einfache Besucher von Rechtsrock-Konzerten berichteten ihren V-Mann-Führern, sondern auch die Veranstalter. Nicht nur Leser rechtsradikaler Schriften gaben ihr Wissen weiter, sondern auch Autoren. Auch die Produzenten des „Dönerkiller“-Liedes gehörten zum Umfeld, wie sich im NSU-Prozess herausstellte.

 

Auch in anderer Hinsicht ist das Versprechen der Kanzlerin bis heute nicht eingelöst. Nach wie vor ist ungeklärt, ob der NSU tatsächlich nur aus dem Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt bestand. Nicht einmal die Frage, ob die drei über die 13 Jahre im Untergrund immer als Trio zusammenblieben, ist beantwortet. Und über das NSU-Ende verstummen die Gerüchte auch nicht. War ein geheimnisvoller „dritter Mann“ in Eisenach dabei? Haben sich Mundlos und Böhnhardt doch nicht das Leben genommen, sondern wurden ermordet? Wahrscheinlich ist das nicht. Gewiss ist aber, dass die Polizei sich absonderlich verhielt, als sie das Wohnmobil vor einer gründlichen Spurensicherung abschleppen ließ. Warum? Wieder so eine Frage, der sich jetzt der zweite NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen annehmen will.

 


 

Chronologie

Von Zschäpes Festnahme bis zum Prozess

4. November 2011: Nach einem missglückten Banküberfall werden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot in einem ausgebrannten Wohnwagen in Thüringen gefunden.

 

8. November: Beate Zschäpe stellt sich der Polizei in Jena.

 

11. November: Zum Polizistenmord von Heilbronn übernimmt die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen. Es gibt Verbindungen zu anderen Morden.

 

13. November: Haftbefehl gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Zschäpe.

 

14. November: In mehreren Bundesländern kommen Pannen bei der Fahndung nach der Terrorgruppe ans Licht.

 

27. Januar 2012: Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages nimmt in Berlin seine Arbeit auf.

 

28. Juni: Es wird bekannt, dass beim Verfassungsschutz Akten vernichtet wurden, nachdem die Terrorgruppe aufgeflogen war.

 

2. Juli: Nach den schweren Ermittlungspannen räumt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, seinen Posten.

 

8. November: Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Zschäpe.

 

6. Mai 2013: In München beginnt der Prozess gegen die Terrorgruppe NSU. Hauptangeklagte ist Beate Zschäpe.

 

22. August: Der Untersuchungsausschuss legt seinen Abschlussbericht vor. Er wirft den Sicherheitsbehörden schwere Versäumnisse bei den Ermittlungen vor.

 

16. Juli 2014: Beate Zschäpe will neue Anwälte – der Antrag wird abgewiesen.

 

20. Juli 2015: Zschäpes Verteidiger beantragen, von ihren Pflichtmandaten entbunden zu werden. Das Gericht lehnt auch diesen Antrag ab.

 

2. Oktober: Der Bundestag will im November einen zweiten Untersuchungsausschuss einsetzen. Die erste Sitzung ist für Dezember geplant.