Neonazis: Das Netzwerk der NSU-Terroristen

Marko Gottschalk, Sänger der Neonazi-Band „Oidoxie“, in Tschechien 2005.  Foto: apabiz
Erstveröffentlicht: 
23.10.2015

Der "Nationalsozialistische Untergrund" ermordete mutmaßlich in sieben Jahren zehn Menschen, nirgends töteten die Täter so schnell hintereinander wie in Dortmund und Kassel. Hatten sie Helfer? Eine Spurensuche.

 

Tausende Neonazis in Deutschland teilten die Ideologie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Tausende teilen sie noch heute. Tausende, die zu denselben Aufmärschen gefahren sind, marschieren heute weiter. Tausende haben die gleichen Parolen gerufen wie ihre untergetauchten Kameraden, haben zur Musik derselben Bands gegrölt. Ihre Netzwerke sind teils noch aktiv. Waren unter diesen Neonazis auch einige bereit zu helfen, als der NSU wohl die gemeinsame Überzeugung umsetzte – „Taten statt Worte“, wie es die Terroristen nannten?

In Dortmund wird am 4. April 2006 Mehmet Kubasik erschossen. Am 6. April in Kassel der damals 21-jährige Halit Yozgat. Beide mit der selben Pistole vom Typ Ceská 83. Die Taten werden heute dem NSU zugeschrieben. Es sind die letzten einer offenbar rassistisch motivierten Mordserie, für die die Täter mit gemieteten Wohnmobilen unterwegs gewesen sein sollen. In ihrem Bekennervideo feiert der NSU auch die Morde in Dortmund und Kassel. Sie beschreiben sich dort selbst nicht als Untergrund-Zelle, sondern als ein „Netzwerk von Kameraden“. Im Münchner NSU-Prozess sitzen neben Beate Zschäpe aber nur vier mutmaßliche Unterstützer auf der Anklagebank.


Hatten die Mörder vor Ort Unterstützung?

Seit der Selbstenttarnung des NSU ist über jenes Netzwerk einiges bekannt geworden. Aufgedeckt durch Ermittlungen, Untersuchungsausschüsse und die Recherche von Journalistinnen und Journalisten. Unklar ist aber weiter, wie die Terroristen ihre Opfer und Anschlagsziele aussuchten. Trotz mittlerweile fast 250 Verhandlungstagen im NSU-Prozess, jahrelanger Ermittlungen des Bundeskriminalamts (BKA) und mehrerer parlamentarischer Untersuchungsausschüsse ist bis heute bei keiner der Taten bekannt, wie Opfer und Anschlagsziel ausgewählt wurden. Zu einigen Tatorten finden die Ermittler Skizzen, Karten und Notizen in der letzten Wohnung der mutmaßlichen NSU-Mitglieder. Es ist aber offen, wie sie bei der Planung vorgingen. Denn im Brandschutt der Zwickauer Wohnung liegen zahllose Listen – auch aus Städten, in denen dem NSU keine Taten zugeschrieben werden, und auch von Zielen, die nicht in das bekannte Raster passen.

Halfen Unterstützer vor Ort bei der Auswahl von Zielen? Vieles spricht dafür, dass die Terroristen über gute Kontakte in ganz Deutschland verfügten. Einige der Anschläge erforderten Ortskenntnis, manche Tatorte liegen in der Nähe von Treffpunkten der lokalen Naziszene.

  •     2001 explodiert in der Kölner Probsteigasse in einem Geschäft eine Bombe, die in einer Christstollendose versteckt war, und verletzt eine junge Frau schwer. Die Tat wird dem NSU zugeschrieben. Von außen war nicht zu erkennen, dass eine iranische Familie den Betrieb führt.
  •     In Rostock wird am 25. Februar 2004 Mehmet Turgut erschossen. In der Nähe des Tatorts, ein unscheinbarer Dönerimbiss, wohnten zwei bekannte Neonazis.
  •     In Dortmund stirbt rund zwei Jahre später Mehmet Kubasik in seinem Kiosk, nicht weit von einer Stammkneipe örtlicher Neonazis entfernt.


Fast 130 Namen führt die Bundesanwaltschaft zeitweise als mögliche Unterstützer auf einer Liste. Zur Anklage ist es bisher nur in den vier Fällen im Münchner NSU-Prozess gekommen. Ermittelt werde „nach wie vor gegen neun namentlich bekannte Beschuldigte wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“, teilt eine Sprecherin des Generalbundesanwalts auf Anfrage mit. Außerdem werde ein Ermittlungsverfahren geführt, „in dem etwaige Spuren und Hinweise auf mögliche bislang unbekannte Unterstützer oder bisher nicht entdeckte Taten des ‚NSU‘ verfolgt werden“. Beschuldigte aus Hessen seien nicht darunter, sagte Bundesanwalt Herbert Diemer vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags.


Die Taten in Dortmund und Kassel ragen aus mehreren Gründen aus der Anschlagsserie hervor. Nie zuvor schlugen die Täter so kurz hintereinander zu wie in diesen Städten, die etwa 160 Kilometer voneinander entfernt sind. Nach den beiden Morden brach die Serie ab, die Ceská wurde nicht mehr als Tatwaffe eingesetzt. Das letzte mutmaßliche NSU-Opfer, die Polizistin Michèle Kiesewetter, wird mit einer anderen Pistole erschossen – und aus anderen Motiven.


Mundlos und Böhnhardt bei Konzert gesehen

Auch fast zehn Jahre später ist ungewiss, ob das NSU-Netzwerk in den beiden Städten über Knotenpunkte verfügte, über Kontaktpersonen, die Tatorte auskundschafteten oder sogar Opfer aussuchten. Klar ist: In beiden Städten gibt es zu jener Zeit militante Neonazis. Einige von ihnen schließen sich zu einer Gruppe zusammen, die offen rassistischen Terror glorifiziert. Die „Oidoxie-Streetfighting-Crew“ vereint Neonazis aus dem Umfeld der 1995 gegründeten Dortmunder Rechtsrockband Oidoxie, auch Kasseler Rechte sind dabei. Ein Jahr vor den Anschlägen in Dortmund und Kassel ziehen Band und Crew durch Europa. „Terrortour“ nennen sie das. Auch in Kassel tritt Oidoxie über die Jahre mehrmals auf. Stets mit dabei: die Streetfighting-Crew, um die es im Folgenden gehen soll.

Eine der Konzertlocations von damals ist heute eine Brache. Vom alten Clubhaus der Rocker „Bandidos Kassel“ ist nicht mehr viel übrig. Gegenüber dem Parkhaus eines Supermarkts nutzten die Rocker eine Lagerhalle als Treffpunkt. Und nicht nur sie: Mehr als einmal feierten dort Neonazis, mehr als einmal stand Oidoxie auf der Bühne. Heute sind gerade noch die Fundamente des Hauses zu erkennen. Seit einem Brand 2012 wird das Grundstück nicht mehr genutzt, über den Schutt wächst Gras. Die Handwerksbetriebe, die dort neben den Rockern ansässig waren, sind umgezogen. Ehemalige Nachbarn können sich noch an Partys erinnern, aber nichts Genaues sagen.

 

Kurz vor den Morden, Ende März 2006, soll Oidoxie in dem Clubhaus ein Konzert für geladene Gäste gespielt haben. Stanley R., ein Kasseler Mitglied der Streetfighting-Crew, feierte seinen 30. Geburtstag. Der Polizei ist die Veranstaltung damals nicht bekannt gewesen, teilt das Polizeipräsidium Kassel auf Anfrage mit. Zumindest lägen heute keine Unterlagen zu einem Einsatz vor. Eine „sichere Bestätigung“, dass es diese Veranstaltung gegeben hat, könne es derzeit nicht geben.

Immer wieder gibt es Gerüchte um das Konzert, denn Zeugen aus der damaligen Naziszene behaupten, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dabei gewesen sein sollen. Bestätigt ist dies nicht. Der Kasseler Neonazi Bernd T., der das zunächst behauptete, widerrief seine Aussage als Zeuge im NSU-Prozess. Er sagte vor Gericht, dies nur aus „hafttaktischen Gründen“ behauptet zu haben. Bei Polizeiverhören äußern sich auch andere Neonazis widersprüchlich.

Aber selbst ohne die Anwesenheit von Mundlos und Böhnhardt kamen damals mehr als einmal militante Neonazis aus Dortmund und Kassel zusammen – und das wohl auch kurz vor den Taten in den beiden Städten. Die Kasseler „Streetfighter“ spielen in der Crew zu jener Zeit offenbar keine untergeordnete Rolle: Aufnahmen zeigen sie prominent vor der Bühne bei Konzerten, bei einem Gruppenbild steht ein Kasseler mit dem Spitznamen „Düse“ in der Mitte beim Bandleader, Oidoxie spielten bei Geburtstagsfeiern nordhessischer Crew-Mitglieder, sie wurden in CDs und Konzert-Videos gegrüßt.

Konzerte sind für die rechte Szene von großer Bedeutung und keine bloße Freizeitbeschäftigung. Auftritte werden oft konspirativ organisiert und schaffen eine rechte Erlebniswelt: Gleichgesinnte unter sich, eine verschworene Gemeinschaft, immer wieder die gleichen Parolen. Das hatte auch Ian Stuart Donaldson, der inzwischen verstorbene Gründer des Neonazi-Netzwerks „Blood and Honour“, erkannt. Die Musik, so die Devise des Engländers, solle dazu dienen, junge Menschen an die Szene zu binden. Auch das NSU-Bekennervideo ist mit Musik einer Rechtsrockband unterlegt. In Deutschland ist Blood and Honour seit dem Jahr 2000 verboten, in Hessen waren zwei Sektionen aktiv.

Nach dem Verbot fanden deutsche Neonazis immer wieder Wege, ihre alten Netzwerke aufrechtzuerhalten. Im rechten Musikbusiness geht es auch um Geld, um Einnahmen aus Konzerten, CD- und Fanartikel-Verkäufen. Das führt immer wieder zu internen Konflikten, die auch mit Gewalt ausgetragen werden. Und das ist nicht die einzige Parallele zur organisierten Kriminalität, zu der Neonazis immer wieder Kontakt suchen: Einige Bands scharen Gangs um sich, die mit Fanclubs nicht viel zu tun haben. Sie sind bei den Konzerten als Sicherheitsdienst tätig, stellen sich vor die Bühne, sorgen notfalls mit den Fäusten für Ordnung. Oftmals verdienen sie am Geschäft mit der Neonazi-Musik mit, berichtet einer, der dabei war.

Auch die in der Szene berühmte Band Oidoxie schart mit ihrer Streetfighting-Crew einen solchen Kreis um sich. Auf dem Album mit dem englischen Titel „Terrormachine“ widmen sie der Truppe sogar ein Lied: „Wir denken national und stehen auch dazu – Oidoxie-Streetfighting-Crew“, heißt es im Refrain. „Combat 18 – Terrormachine“ in einem anderen Song. Die Crew-Mitglieder tragen rote T-Shirts mit schwarzen und weißen Aufdrucken. Neben dem Namen der Band in Frakturschrift sind zwei Schlagringe abgebildet, auf dem Rücken prangt ein Vermummter mit einem Sturmgewehr. Zu kaufen gibt es die T-Shirts nicht, das belegen interne Foreneinträge der Gruppe. Wer eines tragen darf, gehört dazu. Die Crew organisiert auch abseits der Konzerte Treffen, auch in der Nähe von Kassel, wie in einem Beitrag in dem Forum nachzulesen ist.


"Leaderless Resistance": Konzept für den Terror

Vermutlich bei einer dieser Zusammenkünfte posierten Crew-Mitglieder für ein Gruppenbild: Rund 40 Neonazis, darunter fünf Frauen, sind darauf gemeinsam mit Bandleader Marko Gottschalk und Skinheads aus dem Umfeld einer anderen Rechtsrockband abgelichtet – alle wie in Uniform in den roten T-Shirts. Auch Kasseler Neonazis sind darunter. Heute könnte die Gruppe so nicht wieder zusammenkommen: Einer von ihnen ist inzwischen als V-Mann enttarnt, Frontmann Gottschalk hat sich 2011 nach Schweden abgesetzt und soll WDR-Berichten zufolge wieder in Dortmund sein, ein weiterer „Streetfighter“ sitzt im Gefängnis, weil er einen Tunesier bei einem Überfall beinahe erschossen hat – aus der Haft stand er in Kontakt mit dem mutmaßlichen NSU-Mitglied Beate Zschäpe. Sie schrieben sich Briefe. Ob sie sich aus ihrer Zeit in Freiheit kannten, ist ungewiss.

Ideologisch ist die Schnittmenge mit dem NSU schon damals groß. Oidoxie bekennt sich in Liedtexten und CD-Booklets offensiv zu Combat 18 (C18). So bezeichnet sich der bewaffnete Arm von Blood and Honour. Die Zahl 18 steht in der Szene für die Buchstaben A und H, die Initialen Adolf Hitlers. Combat 18 sieht sich als bewaffneter Arm, der nicht auf einen Kopf angewiesen ist. „Leaderless Resistance“ heißt das Konzept, das diskutiert wird: Migranten ermorden, keine Bekennerschreiben, all das war in Texten und „Field Manuals“ nachzulesen, noch bevor der NSU es wohl umsetzte. Weltweit nutzen militante Neonazis das Label Combat 18, wenn sie terroristisch aktiv werden. Regelmäßig ist dann von „Einzeltätern“ die Rede.

Oidoxie profiliert sich in jener Zeit als die deutsche Combat-18-Band. Offenbar war das kein bloßer Verbalradikalismus, trotz Häme von Nazis, die manchmal von „T-Shirt-Terroristen“ sprechen. Anfang der 2000er Jahre sollen etwa sieben Neonazis in Dortmund eine Zelle nach Combat-18-Vorbild gebildet haben, sie rekrutierten sich wohl aus Band und Streetfighting Crew. Im Zentrum sei Gottschalk gewesen, sagt der ehemalige V-Mann Sebastian S. 2011 bei der Polizei aus – so steht es in einem Beweisantrag der Anwälte der Familie des ermordeten Kubasik.

Auf dem Gruppenfoto grinst auch S. in die Kamera. Damals ahnten seine Kameraden anscheinend nicht, dass er vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalens bezahlt wurde. Die Dortmunder Zelle habe die „Turner Diaries“ gelesen, einen rassistischen Tagebuch-Roman aus den USA, der auch den NSU inspiriert haben soll, berichtet S. offenbar später der Polizei. Die Gruppe habe sich bewaffnet, Schießen geübt, Kontakte zu einer Zelle in Belgien geknüpft.


Eine neue Gang

Im Frühjahr 2006 soll sich die Zelle nach Berichten der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ aufgelöst haben. Sänger Marko Gottschalk zieht nach der Selbstenttarnung des NSU nach Schweden. Inwieweit die Streetfighting-Crew noch heute aktiv ist, ist ungewiss. Eine Auflösungserklärung gibt es nicht. Im Juli 2011 schreibt ein führender Neonazi aus einem anderen militanten Netzwerk, der „Hammerskin Nation“, in einer E-Mail von „deutschen Combat-18-Leuten“, wie die Beobachtungsstelle NSU-Watch berichtet. Gemeint sind ausdrücklich Gottschalk und einige aus der Streetfighting-Crew. In der Szene gelten sie offenbar auch damals noch als legitime Vertreter von Combat 18 in Deutschland.

Ob es auch in Kassel eine bewaffnete Zelle aus den Reihen der Crew gegeben hat, ist ungeklärt. Nach der Aussage des Neonazis Bernd T., dass Mundlos und Böhnhardt in Kassel bei einem Oidoxie-Konzert gewesen sein sollen, ermittelt das BKA in der Szene. Die „Oidoxie Streetfighting Crew“ als Organisation hat offenbar im Zentrum dieser Ermittlungen gestanden, zumindest legt das der interne Zwischenbericht der Ermittler vom Juni 2012 nahe, den die Frankfurter Rundschau einsehen konnte. Dort ist nur einmal von einer „Streetfighter Crew“ aus dem Umfeld der Dortmunder Band die Rede, die mit Kasseler Neonazis in Kontakt stünde. Ehemalige Kasseler Mitglieder der Crew geraten aber ins Visier und werden vorgeladen. Die Ermittler stufen die Aussagen von Bernd T. schließlich als unglaubwürdig ein. Zu den Ermittlungen will sich das BKA wegen des laufenden Verfahrens in München nicht äußern.

Michel F., einer der Streetfighting-Crew-Leute von damals und mehrfach vorbestraft, hat heute seine eigene Gang, die „Hardcore Crew Cassel“. Deren Mitglieder präsentieren sich im Internet mit Lederwesten im Stile eines Rocker-Clubs. Eine alte Kartbahn in einem Industriegebiet bei Kassel ist ihr Treffpunkt.

 

Michel F. lenkt eine alte Harley auf den Parkplatz vor dem Clubheim. Er zieht den Motorradhelm vom Kopf, über Nase und Mund trägt er eine Maske, auf die eine Totenkopf-Fratze gedruckt ist. Er ist der „Leitwolf“ der Hardcore-Crew, so steht es auf seiner Weste, die er bei Facebook stolz präsentiert. Mit der rechten Szene hat er gebrochen, sagt er. Was das genau bedeutet, ist unklar, wenn man sich vor Ort umsieht. Er trägt eine Jacke der Szene-Marke Thor Steinar, am Clubheim prangt ein Schild mit der Aufschrift „Walhalla“. An ein Konzert Anfang 2006 erinnere er sich, er habe damals gemeinsam mit einem Kameraden Geburtstag gefeiert. Ob auch Mitglieder des NSU da waren? Keine Ahnung, sagt er. Es wären schließlich einige Leute dort gewesen, wenn auch nicht viel mehr als 50.

F. war damals für die Sicherheit zuständig, das hat er dem BKA erzählt. Bei einer Vernehmung 2012 erkannte er auf den Fotos, die ihm die Beamten vorlegten, Uwe Mundlos wieder – so notieren es die Ermittler in ihrem Protokoll. Wenn er ihn in Kassel gesehen habe, dann bei jenem Konzert, antwortete er damals laut diesem Protokoll.

Über den NSU will F. nicht gerne reden, er verabschiedet sich und geht in sein Clubhaus. Im Juni feierte er hier seinen Geburtstag. Das Motto: „30 Jahre Terror“.

Wenig später wird bekannt, dass seine Kontakte zum Umfeld von Oidoxie und in die militante Naziszene nicht abgebrochen sind. Die Netzwerke funktionieren wohl noch immer. Dokumente belegen, dass F. einem Neonazi halbautomatische Pistolen samt Munition anbot. Der mutmaßliche Käufer: Ein Mann, der als Bassist mit Oidoxie aufgetreten war. Die Staatsanwaltschaft Kassel ermittelt nach Hausdurchsuchungen im Juli derzeit gegen die beiden wegen des Verdachts auf Handeltreiben mit Schusswaffen.


Was sagen die Kasseler Neonazis von damals?

Reden will auch derjenige nicht, der im März 2006 seinen Geburtstag mit einem Oidoxie-Konzert gefeiert haben soll: Stanley R. Er und Michel F. sind lange gemeinsam aktiv, waren zeitweise in der Kameradschaft „Sturm 18“ in Kassel organisiert, Bilder zeigen sie auf einer NPD-Kundgebung in der Stadt im Jahr 2002. Stanley R. wohnt heute am Ende einer Straße in einem Neubaugebiet bei Kassel. Backsteinhaus, frisch gemähter Rasen, großer Grill im Garten. Er verschränkt die Arme, unter den Ärmeln seines olivgrünen Lonsdale-T-Shirts schauen Runen-Tätowierungen hervor. Mit Journalisten möchte er nicht sprechen. Die Band Oidoxie? „Kenn‘ ich nicht“, antwortet er und grinst.

Stimmen kann das nicht: Fotos zeigen ihn, wie er im Outfit der Streetfighting-Crew in Tschechien bei einem Konzert zu Ehren des Blood-and-Honour-Gründers Ian Stuart Donaldson vor der Bühne für Ordnung sorgt. Daneben steht „Düse“, ein Kasseler Kamerad. Hinter ihnen brüllt Gottschalk mit freiem Oberkörper ins Mikrofon. Der hagere Sänger trägt den Schriftzug Combat 18 über dem Herzen, auf seine rechte Brust hat er sich ein Porträt von Rudolf Hess stechen lassen. Im Publikum zeigen verschwitzte Nazi-Skinheads den Hitler-Gruß.

Stanley R. und Gottschalk müssen sich gut verstanden haben: Auch andere Fotos zeigen ihn mit dem Sänger. Im Booklet eines indizierten Albums werden „Stanley und die Kasseler“ gegrüßt. Das Album der Band „Straftat“, das als „Solo-Projekt“ von Oidoxie beworben wird und 2007 erscheint, trägt den Titel: Hail C18. Auch im Abspann einer Live-DVD ist „Stanley“ zu lesen. Als 2011 ein weiteres Straftat-Album erscheint, posiert er neben Gottschalk auf dem Cover im roten Shirt der Streetfighting-Crew. „Hier ist der nächste Schlag von den Musikterroristen“, heißt es im Intro.

 

Dem BKA sagt Stanley R. 2012, er kenne keines der mutmaßlichen NSU-Mitglieder und habe erstmals in der Presse von der Gruppe gelesen. Seine Geburtstage scheinen derweil immer noch Szene-Treffpunkte zu sein: Im März 2012 feierte er mit 120 Neonazis bei einer Grillhütte nahe einer nordhessischen Kleinstadt.

In den vergangenen Jahren sind immer wieder V-Leute aus dem Umfeld des NSU enttarnt worden. Auch zur Streetfighting Crew hatte der Staat Zugänge. Es überrascht, dass in dem Ermittlungsbericht lediglich von einer „Streetfighter Crew“ die Rede ist. Eigentlich hätten die Behörden Informationen über die Gruppe haben müssen. In der Oidoxie-Streetfighting-Crew hatte der Inlandsgeheimdienst in Nordrhein-Westfalen mindestens einen Spitzel. Sebastian S. war aber nicht der einzige V-Mann, der hätte berichten können. Zu jenem Oidoxie-Konzert in Kassel 2006 hat beim BKA später ein anderer ehemaliger Spitzel ausgesagt: Benjamin G. aus Kassel. Dort gewesen sei er nicht, gibt er zu Protokoll, aber eine DVD habe er davon, erzählt er 2012.

Brisant ist diese Aussage allein deswegen, weil G. als Gewährsperson 389 und unter dem Decknamen „Gemüse“ V-Mann-Führer Andreas Temme berichtete. Der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes hat sich zur Tatzeit oder wenige Sekunden davor am Tatort des Mordes in Kassel aufgehalten. Laut den Eintragungen in Temmes Kalender gab es nach dem Konzert und vor dem Mord kein Treffen mehr mit seinem V-Mann. Kurz vor der Tat telefonierten sie aber ungewöhnlich lange. An den Inhalt des Gesprächs könnten sie sich nicht mehr erinnern, sagen sie Jahre später beide aus.

 

Haben die V-Leute etwas verschwiegen?

Über Stanley R. und Michel F. hatte G. dem hessischen Verfassungsschutz Informationen geliefert – auch darüber, dass sie bei Rechtsrock-Konzerten als Security arbeiteten. Die Band Oidoxie oder die Oidoxie-Streetfighting-Crew werden in den Treffberichten, die das Landesamt der Polizei schließlich zur Verfügung stellt und die die FR einsehen konnte, nicht erwähnt.

Beim NSU-Prozess sagte Benjamin G. aus, das Video der Polizei übergeben zu haben. Das bestätigte nun ein Polizist aus Kassel im hessischen Untersuchungsausschuss, der die CD an das BKA weiterleitete. Nach FR-Informationen soll „Greven“, eine Stadt in Nordrhein-Westfalen, und „2006“ auf der CD stehen. Eine entsprechendes Konzertvideo wurde von „Streetfighting-Crew-Production“ auch tatsächlich veröffentlicht und 2007 indiziert. Es liegt damit nahe, dass Benjamin G. eine Kopie dieses Videos übergeben hat. Ob es eine Aufnahme des Kasseler Konzerts überhaupt gibt, ist damit zweifelhaft.

Benjamin G. gilt seit 2007 als „abgeschalteter“ V-Mann. Er wohnt in einer kleinen Gemeinde bei Kassel in einem in die Jahre gekommenen Mehrfamilienhaus. Die Gardinen sind zugezogen, der Balkon verhängt. „Ich gebe keine Interviews“, sagt G., als er die Tür nur kurz einen Spalt weit öffnet.
Die Fragen, wie die hessischen Behörden zu jener Zeit handelten, beschäftigen inzwischen auch den hessischen Landtag. Im Mai 2014 setzte das Parlament einen Untersuchungsausschuss zum NSU ein – ohne die Stimmen der schwarz-grünen Regierungskoalition und der FDP. Das Gremium kommt nur langsam voran. Anders als im Bundestag wird kaum überparteilich gearbeitet, sondern von Anfang viel gestritten – um den Beweisantrag, um Akten, um das Vorgehen und sogar den Terminplan. Der Bundestag hat inzwischen einen zweiten Ausschuss eingesetzt, auch dort soll der Kasseler Fall wieder Thema sein.

Mögliche Unterstützerstrukturen der Terroristen waren in Wiesbaden bisher nur Thema, als die Obleute Experten zur rechten Szene hörten. Auch Neonazis werden im Landtag aussagen müssen: Michel F. steht nach FR-Informationen inzwischen auf der Zeugenliste. Auch die ehemaligen V-Männer Benjamin G. und Sebastian S. sowie ein Mitglied der Band „Oidoxie“ sollen erscheinen.


NSU-Ermittlungen auf Einzelne konzentriert

Beim NSU-Prozess in München mussten aus der hessischen Szene bisher nur der Neonazi Bernd T. und der ehemalige V-Mann Benjamin G. aussagen. Er kam in Begleitung eines Rechtsanwaltes, den der hessische Verfassungsschutz bezahlte. Über das Umfeld der Täter machte er keine Angaben.

„Die Bundesanwaltschaft hat sich früh darauf festgelegt, dass der NSU eine singuläre Zelle mit einigen wenigen Unterstützern war“, sagt Alexander Kienzle, einer der Anwälte der Familie Yozgat. Die Ermittlungen hätten sich meist auf Einzelpersonen konzentriert, Strukturen der Naziszene seien systematisch unterbelichtet geblieben. „Das Strukturwissen des Verfassungsschutzes wurde nie offengelegt.“

Den Antrag der Anwälte der Familie Yozgat, Michel F. laden zu lassen, lehnte der Senat ab. Die Anwälte der Familie Kubasik wollten Sebastian S. und Gottschalk laden – auch um die beiden zu der angeblichen Combat-18-Zelle in Dortmund und möglichen Verbindungen der Oidoxie-Streetfighting-Crew zum NSU zu befragen: Das wurde Ende September mit weiteren Anträgen der Nebenklage vom Gericht abgelehnt: Zur Bewertung der Schuld der Angeklagten irrelevant. Im Wesentlichen dürfte sich der Senat also ein Urteil gebildet haben. 2016 wird mit dem Richterspruch in dem Mammutverfahren gerechnet. Für die Angehörigen der Opfer ist die Frage, wieso gerade ihr Vater, Sohn oder Bruder ermordet wurde, zentral. Das betonen Anwälte der Nebenklage. Beobachter fürchten, dass den Verbindungen der Neonaziszene zum NSU vor Gericht nicht mehr weiter nachgegangen wird.

Das „Netzwerk von Kameraden“ kann weiter schweigen.

Die Recherche wurde durch ein Stipendium der Otto-Brenner-Stiftung finanziert und unterstützt.