Gerichtskrimis: Schützt eine Kennzeichnung vor der Strafe beim Schwarzfahren?

Schwarzfahr-Schildersammlung (fotografiert in der Projektwerkstatt Hildesheim)

Strafverfahren in Gießen am 30. Juli soll Klärung bringen ++ verwirrende Urteile an anderen Gerichten in den vergangene Wochen

Die Auseinandersetzung um die Frage, ob ein öffentlich sichtbares "Schwarzfahren" strafbar ist (der Gesetzesparagraph heißt schließlich: Erschleichung von Leistungen), spitzt sich zu. In mehreren Prozessen konnte bislang keine Lösung gefunden werden. Verzweifelte Versuche vieler Richter_innen, trotz des entgegenstehenden Wortlautes mit kreativen Verdrehungen Strafen zu verhängen, stehen mittlerweile in der Revision. Andere Verfahren wurden eingestellt, ebenso gibt es Freisprüche. Verwirrender geht kaum noch.

 

Dabei spricht die Rechtslage ziemlich eindeutig für die zunehmende Anzahl politisch aktiver und anderer "Schwarzfahrer_innen", die nicht mehr nur heimlich in der Ecke einer Tram, U- oder S-Bahn sitzen, sondern sich offen als ticketlos zeigen. Zudem werben viele von ihnen mit Flugblättern für die völlige Abschaffung des Fahrkartenwesens. Damit provozieren sie die Staatsmacht zur Reaktion – und genau das ist ihr Plan. "Wir wollen vor Gericht durchsetzen, dass offen sichtbares Fahren ohne Fahrschein nicht strafbar ist. Gewinnen wir, können Tausende von Menschen Geld- oder Haftstrafen vermeiden. Außerdem gerät das Fahrscheinwesen insgesamt ins Schwanken. Am Ende steht vielleicht der Nulltarif für alle!" So fasst Jörg Bergstedt, Politaktivist aus der Projektwerkstatt in Saasen (Kreis Gießen) zusammen, was seit den ersten Märztagen geschieht. Damals hatten fünf Aktivisten mit einer spektakulären Aktionsschwarzfahrt von Kempten über München, Nürnberg und Frankfurt nach Gießen für reichlich Aufmerksamkeit gesorgt. In den kommenden Tagen soll es nun in Gießen zu weiteren Aktionen und öffentlichen Debatten kommen. Anlass: Ein ganz besonderer Gerichtsprozess.

 

Dramatik im Gerichtssaal: Selbstablehnung eines Richters und Einladung zum Rechtsgespräch am 30.7.

 

Mehrere Verfahren wegen "Schwarzfahrens" mit Kennzeichnung hat das Gießener Amtsgericht schon erlebt. Eines ist in der zweiten Instanz, die bisher einzige Verurteilung wurde in der Revision aufgehoben. Die darin Angeklagten hatten Mühe, die Besonderheit ihres Falles überhaupt vorzutragen. "Die interessierten sich für die Frage, ob eine offene Kennzeichnung die Rechtslage ändert, überhaupt nicht", schimpft Dominik Richl, der im ersten Prozess sogar aus dem Gerichtssaal geworfen und in Abwesenheit ohne Prüfung der der umstrittenen Rechtspositionen verurteilt wurde. Inzwischen ist haben die meisten beteiligten Richter_innen aber anerkannt: Schilder, Flugblätter oder andere Mittel der Kenntlichmachung haben Einfluss auf die Strafbarkeit. Ab wann das tatsächlich greift, soll nun ein Gerichtsprozess in Gießen klären. Der Richter hat zu einer Verhandlung eingeladen, in der ein Rechtsgespräch geführt wird: Keine Zeug_innen, sondern nur eine Erörterung der Rechtslage. Dazu ist dem Angeklagte zusätzlich an Anwalt beiseite gestellt worden – der Richter schloss sich seiner Meinung an, dass die Rechtsfrage kompliziert sei und in bisher unerschlossenes Rechtsgebiet führe. Nur die Staatsanwaltschaft Gießen schießt weiter quer: Sie interessiert der Gesetzeswortlaut nicht. Stur und lernunfähig beantragte sie in einem weiteren Fall einen Strafbefehl – doch das Gericht lehnte ab.


Die Verhandlung am Do, 30.7. (um 9.30 Uhr im Amtsgericht Gießen, Gutfleischstraße, Raum 100) wird damit zu einem neuen Höhepunkt der Auseinandersetzung. Gerade vor dem Hintergrund der Selbstablehnung des Richters am Landgericht ergibt sich die spannende Frage, ob die Justiz ihre bisherige Linie des Bestrafens ändert – und damit dem absurden Massenbestrafen wegen Fahren ohne Fahrschein eine Perspektive entgegen setzt, die Kriminalisierung verhindert und der Idee eines umweltfreundlichen Verkehrswesen einigen Auftrieb geben könnte. Die Verhandlung ist öffentlich. "Wir hoffen auf viele Zuhörer_innen. Die Rechtsfrage ist spannend, die dahinter stehende sozialpolitische Dimension wichtig – insgesamt dürfte das alles so manche Juravorlesung in den Schatten stellen", hofft der Angeklagte auf eine breite Wahrnehmung des wichtigen Termins. Aus einigen Städten sind bereits neue Aktionsschwarzfahrten angekündigt. Dem Angeklagten wird das recht sein: "Wir nennen unsere Kampagne Schwarzstrafen – denn illegal ist nicht das Fahren, sondern die Strafe deswegen!"

 

Die Chronologie der Gießener Schwarzfahr-Prozesse

  • Erster Prozess (2012/2013): Amtsrichter Dittrich (gleichzeitig CDU-Stadtverordneter) wirft den Angeklagten Dominik R. aus seinem Prozess, lässt Zeug_innen in Abwesenheit des Angeklagten im fernen Stuttgart vernehmen und verurteilt stur wegen Schwarzfahrens – trotz eindeutiger Kennzeichnung.
  • Zweiter Prozess (2014): Amtsrichter Seichter erörtert mit dem Angeklagten Jörg B. zwar die Rechtslage, eine Verurteilung erfolgt trotzdem. Die Staatsanwaltschaft sprach sich zwar selbst für die Abschaffung der Strafbarkeit des "Schwarzfahrens" aus, forderte aber eine besonders harte Bestrafung, weil der Angeklagte eine Lücke im Gesetz genutzt hätte – das zeige kriminelle Energie.
  • 19.9.2014: Das Oberlandesgericht hebt die Verurteilung im ersten Verfahren auf. Alles nochmal…
  • 2.3.2015: Die Aktionsschwarzfahrt von fünf Aktivist_innen spült das Thema des gekennzeichneten Schwarzfahrens in die Medien. Das Münchener Landgericht stellt das Verfahren gegen Dirk Jessen ein, dessen Prozess Teil der Aktionsschwarzfahrt war.
  • 3.3.2015, Berufungsverhandlung im zweiten Prozess: Richter am Landgericht Nink kassiert sofort zu Beginn einen Befangenheitsantrag. Der Prozess wird unterbrochen. Richter und Angeklagter führen aber nach Ende der Verhandlung eine längere Debatte über die Rechtsfragen.
  • 5.3.2015, dritter Prozess: Wieder Richter Seichter gegen Jörg B. Letzterer stellt wegen der Erfahrungen aus dem Prozess 2014 einen Befangenheitsantrag. Außerdem hatte er einen Antrag auf Pflichtverteidigung gestellt wegen der Kompliziertheit der Rechtslage. Richter Seichter lehnt ab, der Angeklagte reicht Beschwerde ein. Das Verfahren wird bis zur Klärung unterbrochen.
  • 28.5.2015, dritter Prozess: Überraschende Wende – Richter Seichter hebt seinen Ablehnungsbeschluss auf und ordnet die Pflichtverteidigung an. Zitat aus dem Beschluss: "Das Gericht folgt dem von dem Angeklagten in seiner Beschwerde angestellten Erwägungen".
  • 12.6.2015, dritter Prozess: Die Staatsanwaltschaft legt Beschwerde gegen den Beschluss ein, einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Sie hält die Sach- und Rechtslage immer noch für einfach (wobei sie sicherlich bei der Auffassung bleibt, dass Kennzeichnung nicht hilft gegen Strafbarkeit – damit steht sie zunehmend allein, findet aber alles einfach …).
  • 22.6.2015, zweiter Prozess: Richter am Landgericht Nink lehnt sich selbst als befangen ab. In seiner Begründung äußert er sich ziemlich klar, dass Schwarzfahren bereits als solches und erst recht mit Kennzeichnung keine Straftat darstelle. Er fürchtet deshalb, dem Vorwurf politischer Verfolgung ausgesetzt zu werden.
  • 2.7.2015, vierter Prozess? Die Staatsanwaltschaft will es jetzt wissen und sogar die Aktionsschwarzfahrt am 2. März 2015 (5 Leute, erkennbar mit Schildern, Flyern, Megaphon und Transparent im Zug, begleitet von Pressearbeit usw.) als "Erschleichung" bestrafen. Deutlicher geht es nicht mehr, dass Gesetzeswortlaut und bisherige Urteile die Robenträger nicht interessieren. Doch das Amtsgericht Gießen macht nicht mehr mit. Richter Seichter lehnt das Ansinnen ab und integriert den Vorgang in das laufende Verfahren (hier unter: dritter Prozess), d.h. die Aktionsschwarzfahrt wird am 30.7. nun auch erstmals mit verhandelt.
  • 3.7.2015, zweiter Prozess: Die Staatsanwaltschaft Gießen spricht sich gegen die Selbstablehnung von Richter Nink aus und fordert, den Strafparagraphen konsequent anzuwenden. Allerdings kommt sie noch mit einem charmanten Einfall um die Ecke: Wenn der Paragraph tatsächlich unklar sein sollte, müsste das dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden.
  • 6.7.2015, dritter Prozess: Der Pflichtverteidiger reicht dem Amtsrichter die zentralen Passagen aus der Selbstablehnung des Richters am Landgericht weiter.
  • 30.7., dritter Prozess: Richter Seichter hat zum nächsten Verhandlungstag geladen – keine Zeug_innen, aber Raum für eine intensive rechtliche Erörterung.  

 

Wie weiter?

 

Der Prozess am 30.7. könnte ein Kristallisationspunkt sein. Dazu wäre sinnvoll, das Thema bis dahin weiter zu verbreiten. Und es könnte ein Zielpunkt sein für Aktionsschwarzfahrten. So wie die Anfang März von Kempten über München nach Gießen. Wie wäre es mit mehreren Touren sternförmig nach Gießen (oder gerne auch schon am Vortrag zur Projektwerkstatt Saasen - von Gießen und Fulda aus auf der Vogelsbergbahn per Zug super zu erreichen)? Fragt doch mal rum, ob aus Eurer Stadt nicht Leute Lust haben, zusammen ohne Ticket, aber mit Schild, Flugblättern, Transpis oder was auch immer zu kommen. Denkt dran: Auch Ein- und Umsteigen kann gut zur Aktion werden: Laut sog. Fraport-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind Bahnhöfe für Demonstrationen zugänglich!

 

Viele weitere Aktionen sind möglich, unter anderem die Idee kleinerer Aktionsschwarzfahrten an verschiedenen Orten (z.B. bei einer Station einsteigen, flyern und informieren, wieder raus). Wie wäre es, wenn Leute, die sowieso schwarzfahren, das künftig mit Kennzeichnung, offensiv und mit Flyern machen? Und die, die vor Gericht stehen, daraus Aktionen machen? Wer beteiligt sich an einer Massenzeitung, die als bunter, inhaltsreicher Flyer überall eingesetzt werden kann?

 

Unabhängig davon wäre es schön, die Kampagnen für Fahrkarten-Teilen, pinke Punkte, Nulltarife in Kommunen usw. wieder in Gang zu bringen. Die sind vielfach eingeschlafen. Kreative Aktionsformen können helfen, das Thema nochmals auf die politische Agenda zu bringen - als Ende des Nazi-§265a und als Beginn des Freifahrens in Bussen und Bahnen.

  Mehr Infos Umweltschutz und Emanzipation

 

Ärger mit Justiz und Repression

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Was mich beschäftigt ist der Zweck dieses Rechtsstreits. Sollte es dazu kommen, dass ein Erschleichen von Leistungen abgelehnt wird (auch mein Rechtsverständnis), so wird man das einfach als Hausfriedensbruch behandeln (nur mit gültigem Fahrschein einsteigen) und die Strafen werden übernommen. 

So bewirkt das alles nur, dass der Tatvorwurf anders ist, Schwarzfahren bliebe aber weiterhin verboten. 

Sollte ich in meinem Gedankenspiel etwas vergessen haben, so korrigiert mich bitte....

Ob das wirklich so einfach umsetzbar ist?

Zunächst ist unklar, ob bereits der einleitende Teil
Wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind
greifen kann, denn ob Fahrzeuge (Sachen) überhaupt "Räume" sind, ist umstritten. Das hängt u.a. damit zusammen, dass sie sich bewegen und keinen festen Standort haben. Auch die zweite Qualifizierung ist auslegungswürdig:
oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt
Bei einer Kontrolle könnten sich die Betroffenen dann ja einfach "entfernen".

Es waere wirklich an der Zeit, wenn der sprachlich belastete Begriff des S.-Fahrens endlich mal rechts liegen gelassen wird. Warum verwendet ihr nicht den viel treffenderen Begriff: FREIFAHREN!

Wenn ihr das auf die Reihe bekommt, dann ist eure Aktion gleich noch viel besser :-}

Vielleicht ist mit dem schwarz einfach eine Dunkelziffer gemeint. Eben eine und bekannte Zahl an Mitfahrer, die aufgrund nicht gekaufter Tickets nicht erfasst werden kann... Wie auch immer.

 

Ich finde es eher diskriminierend, dass Leute bei dem Wort Schwarz sofort an eine Bevölkerungsgruppe mit dunkler Hautfarbe denken... :( 

Achtung!!! Prozess am 30.7. fällt wegen Krankheit des Pflichtverteidigers aus!!! Neuer Termin steht noch nicht fest!