[EF] Vom "unangenehmen Gefühl" zur Körperverletzung

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Urteil gegen Sebastian - Wie ein „unangenehmes Gefühl“ zur Verurteilung wg. Körperverletzung führt

Die Soligruppe 1708 berichtet über den Prozess gegen Sebastian, der mit einem Urteil gegen ihn schloss. Der Betroffene ist froh über das Ende des Verfahrens – der desaströse Polizeieinsatz am 17. August 2013 konnte nicht öffentlichkeitswirksam thematisiert werden. Ein weiterer Betroffener muss sich im Juli in dieser Sache noch zur Wehr setzen.

Am Mittwoch, den 3. Juni 2015, treffen sich in aller Frühe etwa 12 Menschen vor dem Erfurter Amtsgericht, um Sebastian nicht allein zu lassen. Er ist als Beschuldigter vorgeladen und muss sich wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vor Gericht verantworten, nachdem er einem Strafbefehl widersprochen hatte.

 

Am Eingang erwartet alle wieder das bekannte Spiel: Sicherheitskontrollen. „Bitte machen Sie mal den Rucksack auf! Haben Sie noch etwas in der Hosentasche? Und ihren Personalausweis bitte!“ Diese Hürde genommen, baut sich die nächste schon vor den Unterstützer*innen auf. Aufgrund einer sitzungspolizeilichen Anordnung findet vor der Tür zum Sitzungssaal eine weitere Sicherheitskontrolle statt. Diesmal aber mit „Den Rucksack können Sie nicht mit reinnehmen, den müssen sie abgeben!“ und „Die Schuhe mal bitte ausziehen.“ - Ob alle ihre Socken an diesem Morgen gewechselt hätten, wenn sie das vorher gewusst hätten? Die Antwort bleibt eine Vermutung. Ganz im Gegenteil zur Anwesenheit der Besucher*innen – ein Justizangestellte dokumentiert fleißig ihre Namen. Und wer darf wiedermal mit Waffe in den Saal? Natürlich, die werten Diensthabenden Beamten der Polizei, die gegen unseren Genossen aussagen. Auf Nachfrage des Verteidigers Steffen Trostorff äußert Richter Thomas Hauzel, er empfinde dies nicht als beängstigend; er könne sich nicht mal vorstellen, dass ein Mensch Angst vor bewaffneten, uniformierten Personen haben könnte. Damit die Sache richtig unangenehm wird, sitzt für die Staatsanwaltschaft Staatsanwalt Peters auf der Bank: Er ist ein findiger Jurist, ärgert den Verteidiger mit juristischen Feinheiten, fällt Richter und Verteidiger gern ins Wort, interessiert sich für die Sachlage der vorgeworfenen Tat jedoch nicht so sehr.

 

Vorgeladen sind für diesen Tag vier Polizeibeamte (Diecke, Heinze, Kroll, Eckert) und zwei Beamtinnen (Eichelkraut, Seidenzahl), die damals für die Bereitschaftspolizei Thüringen im Einsatz waren. Der Beamte Eckert befindet sich über ein Austauschprogramm der Polizei in der amerikanischen Partnerstadt von Gera und ist deshalb nicht erschienen. Ein weiterer Beamter (Pospich) ist geladen, er stellte das Bild- und Videomaterial gegen Sebastian zusammen.

 

Der vermeintlich geschädigte Polizeibeamte, der die Anzeige gegen Sebastian stellte, wird als erster vernommen. Martin Diecke ist 27 Jahre und dient derzeit in der ersten Bereitschaftspolizei-Hundertschaft in Rudolstadt. Er berichtet vom Einsatz in der Trommsdorffstraße und davon wie die Polizist*innen, die zwischen NPD-Anhänger*innen und Gegendemonstrant*innen ein gar schweres Leben hatten. Die Gegendemonstrant*innen bewegten sich mit einem langen und breiten Banner auf die Polizei zu, dabei wären die Beamt*innen mehrfach getreten worden. Diecke selbst bekam „zwei oder drei“ Tritte gegen sein Knie. Diese Tritte hätten keine Hämatome hinterlassen, auch war keine ärztliche Behandlung nötig, es sei ein „unangenehmes Gefühl“ gewesen. Eine Anzeige gab es trotzdem. Gegen wen? Naja, er habe Sebastian identifiziert. Wie das jedoch konkret funktioniert haben soll, kann Diecke – unserer Ansicht nach – nicht begründen: Das bekannte [ake]-Transparent mit dem Schwur von Buchenwald ist an die 12 Meter lang und mindestens zwei Meter hoch. Zum Zeitpunkt als Diecke geschädigt worden sein soll, hatten die eingesetzten Beamt*innen die hölzernen Tragestangen für das Transparent bereits zerbrochen, sodass dieses in Kopfhöhe getragen wurde – dabei reichte es bis zum Boden und stauchte sich dort. Die Situation, in welche die Gegendemonstrant*innen durch die Bewegung der NPD-Anhänger*innen auf ihren Kundgebungsbereich hin gebracht wurden, verkomplizierte sich mit den aggressiv auftretenden Polizeibeamt*innen. An der ganzen Länge des Transparentes gab es immer wieder Bewegung, so wie es auch Diecke aussagt. Das Drängen und Schubsen gehörte zur allgemeinen Situation. Diecke will dabei eine Fußspitze gesehen haben, die ihn zielgerichtet getreten habe. Wie diese ominöse Fußspitze durch das [ake]-Transparent gekommen sein soll, bleibt unklar. Ob es diese Tritte überhaupt gegeben hat, bleibt ebenfalls unklar.

 

Die zweite Zeugin ist die 28-jährige Susann Eichelkraut, derzeit im Dienst in der Polizeiinspektion Saalfeld. Zur vorgeworfenen Tat kann die Zeugin nichts aussagen, am 17.8.13 war sie Truppführerin des Diecke. Sie bestätigt die chaotische Situation des Einsatzes, so etwas habe sie noch nicht erlebt. Trostorff fragt nach dem Einsatzkonzept an diesem Tag und ob es Ansagen des Einsatzleiters gegeben habe? Eichelkraut kann dazu nichts sagen. Dass der Polizeieinsatzleiter, Goltz, den Kundgebungsbereich der Gegendemonstration aufgrund der unerwartet hohen Anzahl der Teilnehmer*innen erweiterte und danach die Polizeibeamt*innen innerhalb des Kundgebungsbereichs standen und die Gegendemonstrant*innen praktisch unrechtmäßig bedrängten, weiß weder Diecke noch Eichelkraut. Der Polizeieinsatz kann nur kurz von Trostorff thematisiert werden. Die Beweismittelanträge für die Ladung des Polizeieinsatzleiters und der Versammlungsleiterin, Martina Renner, wurden bereits im Vorfeld als nicht sachdienlich von Staatsanwaltschaft und Richter abgelehnt. Gut, dass der von Goltz in der Presse öffentlich als „desaströs“ bezeichnete Polizeieinsatz nicht weiter in die Öffentlichkeit rückt.

 

Es gibt kein Vorankommen in der Sache. Richter Hauzel schlägt vor, den Vorwurf auf die Körperverletzung zu beschränken und die Strafe zu reduzieren, aufgrund der verstrichenen Zeit, der geringen Verletzungsfolgen und darum, weil der Angeklagte sich nichts weiter zu Schulden habe kommen lassen. Nachdem die Sitzung zur Beratung der Beteiligten unterbrochen wurde, nimmt die Verteidigung den Vorschlag an. Sebastian stellt klar, dass dies kein Schuldeingeständnis bedeute, auch keine Reue. Der Betroffene ist froh, dass das Verfahren ein Ende nimmt – er geht dennoch mit einer hohen Geldstrafe und den Kosten für Verfahren, Urteil und seiner Verteidigung heraus.

 

11:10 ist die Verhandlung geschlossen und Sebastian den Stress mit dem Verfahren los. Wie so oft reicht die einzelne Aussage eines*einer deutschen Polizeibeamt*in als Beweis und ein*e Beschuldigte*r wird verurteilt. Übrigens: Die Anzeige gegen den übergriffigen Polizeibeamten, für welche sich unter anderem Sebastian als Zeuge gemeldet hatte, ist eingestellt worden.

 

 

 

Über die weiteren Entwicklungen rund um die Repression nach dem 17. August 2013 werden wir kritisch begleiten und über kommende Verfahren und Ergebnisse informieren.

Spenden zur Tilgung der Repressionskosten können unter dem Verwendungszweck „Soli 1708“ auf das folgende Konto überweisen:

Rote Hilfe Erfurt, IBAN: DE80 4306 0967 4007 2383 52, BIC: GENODEM1GLS

Kontakt und Infos über die Rote Hilfe Ortsgruppe Erfurt, Dorothea Frei:

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