Diensteifrige Wissenschaft

Erstveröffentlicht: 
23.12.2014

Als Verfassungsschutzmitarbeiter hatte Martin Thein intime Kenntnisse über den »Thüringer Heimatschutz«. In seiner Dissertation zu »Neonazis im Wandel« wird diese Organisation jedoch nicht ein einziges Mal erwähnt. Schwer zu glauben, dies sei ein Versäumnis.

 

Ein Verfassungsschützer tarnt sich als Wissenschaftler: Im Mai dieses Jahres kam heraus, dass der Fussballfanforscher Martin Thein in den 90er Jahren für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Bereich Beschaffung als Agentenführer gearbeitet hat. Enthüllt hatten das die Autoren Stefan Aust und Dirk Laabs in ihrem Buch »Heimatschutz« über die Verwicklung des bundesdeutschen Staates in die Mordserie des NSU. Nach den Angaben von Aust und Laabs soll Thein dabei den neben Tino Brandt als eine Art informeller Chef des »Thüringer Heimatschutzes« agierenden Neofaschisten Michael See, alias Michael von Dolsperg, als V-Mann geführt haben. Der Deckname für den Spitzel See beim BfV lautete »Tarif«. Seine Tarnung flog spätestens Anfang Oktober 2013 durch die Ermittlungen des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU auf.

 

Der Journalist Andreas Förster hat im Juni in der Wochenzeitung Freitag darauf hingewiesen, dass See in der Zeit seiner vom BfV alimentierten Existenz in der von ihm publizierten Zeitschrift Sonnenbanner »mehrere antisemitische und rassistische Hetzartikel veröffentlicht« hat. »Außerdem publizierte er in einer von ihm herausgegebenen Nazipostille ein Konzept für den rechtsterroristischen Kampf, das von Ermittlern als eine Art Blaupause für das Entstehen des NSU-Trios bewertet wird. See gab kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel an, dass seine Texte von seinen V-Mann-Führern im BfV vorab gelesen und redigiert worden seien.« Inzwischen wurden die Darstellungen von Laabs und Aust durch Recherchen des Spiegel, von 3sat und von der WDR-Sendung »Sport inside« bestätigt. Seit den Enthüllungen seiner Tätigkeit für das BfV hat sich Martin Thein nicht mehr zu Wort gemeldet und reagiert auch nicht auf Interviewanfragen.

 

2008 wurde Thein an der TU Dresden als Politikwissenschaftler mit einer Arbeit unter dem Titel »Wettlauf mit dem Zeitgeist – der Neonazismus im Wandel« promoviert. Werner Patzelt, sein Doktorvater, ist ein Exponent der Extremismusdoktrin, der ideologischen Richtschnur für die Tätigkeit der für die innere Sicherheit zuständigen Behörden in diesem Land. Die Arbeit von Thein wurde ganz im Geiste und in der Intention dieser Doktrin verfasst. Obwohl Patzelt inzwischen in einer Stellungnahme eingeräumt hat, dass er von seinem Doktoranden über dessen Tätigkeit als Beschäftigter des BfV im »Bereich Rechtsextremismus« informiert worden sei und er ihn sogar ermutigt hat, hier seine speziellen Erfahrungen einfließen zu lassen, sucht man einen diesbezüglichen Hinweis in der Dissertationsschrift vergeblich.

 

Man wird Theins Doktorarbeit nun anders lesen müssen. Nicht als eine zum Teil interessante Skizze über das Innenleben der bundesdeutschen Neonaziszene binnen der letzten 40 Jahre, sondern als eine Akte des Verfassungsschutzes.

 

Interviewpartner Nummer 35

 

Nach Angaben von Thein stützt sich das Datenmaterial auf eine »im neonazistischen Spektrum« durchgeführte »Feldstudie« im Zeitraum zwischen März 2007 und Januar 2008. Interviews hat der Forscher Thein »mit teilweise hochrangigen Naziaktivisten geführt«, insgesamt wurden 34 Personen befragt, »die einen längeren Zeitraum (mindestens zwei Jahre) der neonazistischen Szene angehört haben bzw. dieser heute noch angehören«. Namentlich genannt werden 23, darunter prominente Figuren wie Christan Worch, Thomas Wulff, Gary Rex Lauck, Thomas Brehl und Thomas Gerlach. Letzterer ist ein so bedeutender Bekannter des im NSU-Strafprozess angeklagten Ralf Wohlleben, dass er dort kürzlich als Zeuge vernommen wurde.

 

Es gibt neben den Neonazis einen weiteren Interviewpartner: den damals amtierenden Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm. Das irritiert zunächst, denn der Sozialdemokrat Fromm hat mit größter Wahrscheinlichkeit nicht einen »längeren Zeitraum der neonazistischen Szene angehört«, wie alle anderen Befragten. Warum aber hat Thein den BfV-Präsidenten an die Seite der Neofaschisten gestellt? Dafür muss der nicht weiter eingeführte, unspezifische Begriff des »Experten« herhalten. Als solche galten Thein dabei sowohl »die neonazistischen Aktivisten« wie auch der oberste Verfassunsgsschützer, von dessen intellektuellen Kapazitäten er sich eine qualitative Weiterentwicklung des »Interpretationsniveaus« erhoffte.

 

Die Frage indes, ob ein zum »Experten« geadelter Beamter in dieser Angelegenheit überhaupt ein geeigneter Gesprächspartner sein kann, kam dem Forscher Thein gar nicht erst in den Sinn. Denn dass Verfassungsschutzbehörden Teile des Neonazismus in der BRD gewissermaßen verwalten, darf seit der Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens durch das Bundesverfassungsgericht am 18. März 2003 als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden. Von der Bundesregierung war damals in bagatellisierender Diktion eingestanden worden, dass ein Anteil von gerade einmal »unter 15 Prozent«, sprich: jeder siebte der Funktionäre dieser Partei, auf den Lohnlisten staatlicher Institutionen stand. Die Verfassungsrichter Winfried Hassemer, Siegfried Broß und Lerke Osterloh sprachen denn auch in einem Minderheitsvotum von einer »fehlenden Staatsfreiheit der Führungsebenen« der NPD. Das heißt allerdings, dass der damalige Verfassungsschutzpräsident Fromm mit einigem Recht als Mitwirkender einer bedeutenden neonazistischen Organisation betrachtet werden kann. Wie soll jemand zu einer »kritischen Analyse der erhobenen Daten« fähig sein, an deren Zustandekommen seine Behörde nicht unerheblich beteiligt war?

 

Die bedeutsame Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes kümmerte den Autoren der Dissertationsschrift offensichtlich nicht. Die als Interviewpartner namentlich genannten Neonazis jedenfalls waren und sind Mitglieder und mitunter auch führende Funktionäre der NPD. Die Verfassungsschutzbehörden wiederum werden in der Arbeit laufend als Referenzen angegeben. Allein das dritte Kapitel über die »Historische Entwicklung des Neonazismus« zählt 119 Fußnoten, die sich in etwa 50 Einträgen, das sind etwa 40 Prozent der Literaturangaben, auf Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz stützen. Zugespitzt kann festgestellt werden: Die Geschichte des bundesdeutschen Neonazismus ist durch die Brille des BfV geschrieben worden. Eigentlich gebotene quellenkritische Ausführungen zu diesen aktuell-politischen Behördenmemoranden gibt es nicht. An einer Stelle erwähnt Thein das »Aktenstudium« der Verfassungsschutzberichte des Bundes von 1972 bis 1990. Doch wo lassen sich diese Akten, auf deren Grundlage die Berichte angefertigt wurden, einsehen, wenn nicht im Dienstgebäude des BfV selbst? Da kommt man nun wirklich nicht – und als freier Forscher schon gar nicht – so ohne weiteres hinein. Und aufgrund von Sperrfristen liegen sie sicherlich noch nicht im Bundesarchiv. Thein sah keine Notwendigkeit, ihren Standort im Literatur- und Quellenverzeichnis der Dissertation auszuweisen.

 

Das Zutrauen von Thein zu seinem Arbeitgeber war streckenweise so groß, dass es – frei von allen akademischen Standards sprich ohne Datumseintrag und Namensnennung – in der Schrift fast liebenswürdig vertraulich-informell zugeht. In Fußnote 1069 heißt es: »Nach telefonischer Auskunft des Bundesamtes für Verfassungsschutz werden diese spontanen Aktionen [der Neonazis] nicht mit in die offizielle Statistik aufgenommen.«

 

Stärkster Ausdruck dieses unbegrenzten Vertrauens ist die Dokumentation eines Auszuges eines an Thein persönlich adressierten Schreibens vom Präsidenten des BfV, Heinz Fromm. Interviewpartner Nummer 35 antwortet dabei seinem Subalternen auf dessen Anfrage vom 14. November 2007 mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln: »Sehr geehrter Herr Thein … Ich hoffe, Ihnen mit meinen Antworten bei Ihrer Arbeit weitergeholfen zu haben und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel Erfolg.« Thein hat es seinem Chef mehrfach dadurch gedankt, dass er dessen Aussagen immer wieder »bestätigte«.

 

Methodisch wie analytisch orientiert sich die Arbeit an den Vorstellungen der Doyens der Extremismusdoktrin Uwe Backes und Eckhard Jesse. Dass es sich bei diesen Professoren zugleich, so die treffende Formulierung des Historikers Wolfgang Wippermann, um »inoffizielle Mitarbeiter des Verfassungsschutzes« handelt, dürfte Thein nicht verunsichert haben. Die Untersuchung erhebt den Anspruch, die »dem Neonazismus zugrunde liegenden Ursachen, Erfolgsbedingungen und Charakteristiken« auszuleuchten. Gleichwohl wird aber aufgrund des gewählten methodischen Ansatzes der Feldstudie »auf die Untersuchung möglicher gesamtgesellschaftlicher Faktoren verzichtet«. Vielmehr sollen die »Erklärungsmuster möglicher Veränderungs- und Modernisierungsprozesse allein ›aus der Szene heraus‹ erforscht und beschrieben werden«. Es soll allein um die »binnenstrukturellen Bedingungen des Neonazismus« gehen. Und deshalb erscheint quasi ganz natürlich »eine Ausrichtung nach dem von Uwe Backes und Eckhard Jesse konzipierten ›extremismustheoretischen Ansatz‹ sinnvoll« zu sein. Der Ansatz wird ganz doktrinär durchgehalten. Im Schlusskapitel gibt sich der Forscher Thein überzeugt davon, dass die bewährte »biographische Methode als Integrationskonzept« von Backe und Jesse dazu befähige, »auf der Grundlage veränderter individueller Einstellungs- und Orientierungsmuster wichtige Bedingungen für szeneübergreifende Neujustierungen aufzuzeigen«. In einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger formulierte Thein dieses schlichte Forschungsdesign etwas salopper: »Ich wollte die Szene aus sich selbst heraus erklären«.

 

Wer theoretisch so dünne Bretter bohrt, handelt sich gravierende intellektuelle Aussetzer ein. Eine »häufig kritikarme Rezeption« der Äußerungen der interviewten Neonazis attestierte selbst Armin Pfahl-Traughber, Lehrstuhlinhaber und (ehemaliger) Verfassungsschutzmitarbeiter, der Schrift in einer Besprechung etwas verschämt.

 

Tückisches Rechercheprojekt

 

In dem realisierten Rechercheprojekt in mutmaßlich verdeckter politischer Absicht sind aus »vielen Hintergrundgesprächen Erkenntnisse« gewonnen worden, die nicht publiziert wurden. Bei der Transskription der Tonbandaufnahmen allein der Interviews mit Christian Worch und dem langjährigen NPD-Bundesvorstandsmitglied Thomas Wulff wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich mehr als 100 Seiten generiert. Dabei handelt es sich definitiv um wichtiges Material zur Geschichte des Neonazismus in der Bundesrepublik. Es überrascht nicht, dass dabei die bedeutende Rolle der »westdeutschen Altkader um Worch, Wulff und Brehl« für die 1980er und 1990er Jahre in der vorliegenden Arbeit hervorgehoben wurde.

 

Wessen aber noch? Die Doktorarbeit nennt ausgerechnet »am Beispiel Thüringen« noch »vier eng in die lokale Jugendszene involvierte Kader«: Thomas Gerlach, Patrick Paul, Ralf Wohlleben, Patrick Wieschke, die »sukzessive in ihre Führungspositionen« hineingewachsen seien und »die Szene dominieren«. Es sei ihnen gelungen, »eine individuelle politische Kompetenz zu erwerben und andererseits die ihrer Meinung nach wichtigen Politikfelder selbständig zu bestimmen bzw. zu besetzen«. Das scheint so verkehrt nicht zu sein. Allein, der in Thüringen außerordentlich gut bekannte Tino Brandt vom »Thüringer Heimatschutz« (THS) wurde in dieser Aufzählung – sagen wir – vergessen. Dabei war dieser jahrelang vielfältig vernetzte neofaschistische Bewegungsunternehmer sogar ab Mai des Jahres 2001, so die Thüringer Allgemeine, als »eine der Führungspersonen« des THS prominenter Gegenstand der Berichterstattung in der für das Bundesland zentralen Tageszeitung. Und eigentümlicherweise mochte Thein in seiner ganzen Arbeit nicht ein einziges Mal auf die Jahresberichte des Landesamtes für Verfassungsschutz aus Thüringen zurückgreifen. Für diese wohl bewusst gelassene Lücke hätte man indes eine qualifizierte Begründung erwarten dürfen.

 

Was hat Thein nur daran gehindert, diesen Sachverhalt in seiner Dissertation erheblich präziser darzustellen? Folgt man der Darstellung von Laabs und Aust in ihrem Buch »Heimatschutz«, dann hat er am 21. März 1997 in München an einem hochrangig besetzten Treffen von 13 Mitarbeitern fünf verschiedener Geheimdienste teilgenommen. Zentraler Gegenstand der Beratungen waren der »Thüringer Heimatschutz« und die Geheimdienstaktion »Operation Rennsteig«, mit der die Neonaziszene in Thüringen ins Visier genommen werden sollte. Ausweislich eines Protokolls, das Laabs und Aust vorgelegen hat, haben an diesem Treffen neben Thein u. a. Peter Nocken, der stellvertretende Chef des Thüringer Verfassungsschutzes und Abteilungsleiter Rechtsextremismus, sowie Norbert Wießner als V-Mann-Führer von Tino Brandt teilgenommen. In einem Bericht zur »Lage« erläuterte der BfV-Mitarbeiter Christian Menhorn: »›Der thüringische Heimatschutz besteht aus einer Mischszene von ca. 100 bis 150 Neonazis und Skinheads. Darum gebe es ein Umfeld von etwa 150 bis 200 Personen, meist Jugendlichen‹. Es hätten sich durch die Umsiedlung des Führungskopfes Tino Brandt (…) Verbindungen nach Bayern ergeben, die in die Gründung des fränkischen Heimatschutzes gemündet seien.« (Aust/Laabs, Heimatschutz) Nocken wie auch Wießner zeigten sich über damals gegen Brandt laufende strafrechtliche Ermittlungsverfahren gut informiert. Am Ende des Treffens wurde zwischen den verschiedenen Geheimdiensten die Übereinkunft erzielt, dass »das Bundesamt in Köln den Informationsaustausch koordiniert, hier laufen die Fäden zusammen«. Nach dem Treffen lässt das BfV dem Thüringer LfV auch »eine Art Bildband über den Thüringer Heimatschutz« mit »allen Akteuren« zukommen.

 

Das ist paradox: Das, was dem V-Mann-Führer Thein ein zentraler Gegenstand jahrelanger Berufspraxis war, ging dem Wissenschaftler Thein völlig durch die Lappen: In der gesamten Arbeit wird weder die doch die für den Wandel im Neonazismus bedeutende Gruppierung »Thüringer Heimatschutz« noch ihr »Führungskopf« Brandt auch nur ein einziges Mal erwähnt. Gleichwohl: Was auch immer man an der wendungsreichen Dissertation aussetzen mag, ganz kenntnislos ist sie nicht geschrieben. Man veröffentlicht etwas, um dadurch anderes zu verdecken.

 

Vom Verfassungsschutz geschrieben

 

Die akademische Schrift weist mehrere Vernüpfungen zum Verfassungsschutz auf. In die Arbeit ist durch die hohe Anzahl der Interviews, die innerhalb eines kurzen Zeitraumes mit sicher weit mehr als 40 Tagesreisen quer durch die gesamte Republik eingeholt wurden, eine enorme Rechercheleistung eingegangen. Thein spricht selbst von der »Durchführung von mehreren längeren Reisen«. Die Transkription der Interviews – das Gespräch mit Christian Worch dauerte acht (!) Stunden – nahm durch »die Menge des zu bewältigenden Datenmaterials voluminöse Ausmaße« an. Zur Realisierung des Projektes habe Thein einen »professionellen Schreibdienst, bestehend aus mehreren Aushilfsstudenten und einer befreundeten Sekretärin« engagiert. Er erwähnt dabei, dass in den »unterschiedlichen Entwicklungsstadien der schriftlichen Generierung teilweise fünf Personen am Vorgang der Transkription« arbeiteten. Wovon mag der beim BfV beschäftigte Thein diesen enormen Aufwand nur finanziert und vor allem organisatorisch bewältigt haben? Sicher ist jedenfalls, dass sein Arbeitgeber in Sachen Extremismusverwaltung und Prävention über einen »professionellen Schreibdienst« verfügt.

 

In einem Interview mit dem Hamburger Neonazi Thomas Wulff wird im Zusammenhang mit einem den 180 »Kameradschaften« im Bundesgebiet zugeschriebenen »kommunikativen Führungsstil« auch der gegenwärtig praktizierte »leaderless resistance« (»führerloser Widerstand«) angesprochen, bei dem man »einen charismatischen Kader (…) vergeblich« suche. In der diesbezüglichen Fußnote 431 weist Thein erläuternd auf eine im Jahre 2005 vom Innenministerium im Land Brandenburg erlassene Verbotsverfügung hin. Sie richtete sich gegen die neonazistische Kameradschaft »Hauptvolk« und deren Untergliederung »Sturm 27, die »leaderless resistance« praktiziert habe. Eben dieses Konzept wurde in einer Zeitung in Thüringen jahrelang verbreitet, die nach Laabs und Aust zu einem »der einflussreichsten Blätter in der rechten Szene wird«. Ihr Name: Sonnenbanner – ein nationalsozialistischer Schulungsbrief, erstellt und verbreitet von Michael See, alias Dolsperg. Der Journalist Herbert Gude schreibt dazu im Spiegel: »Unstrittig ist, dass der junge Neonazi insgesamt 19 Ausgaben des Sonnenbanners produzierte, die meisten davon nach seinen Angaben unter den Augen des Verfassungsschutzes. Das letzte Heft von 2001 brachte ihm ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung ein. ›Das BfV bekam alle Ausgaben von mir vorab‹, behauptet Dolsperg. Änderungswünsche habe es nie gegeben. (…) Bezahlt habe er die Produktion der Hefte zum Teil von seinen V-Mann-Honoraren, die monatlich zwischen 500 und 600 Mark gelegen hätten«. Darauf gestützt wirft Gude die Frage auf, ob das BfV »tatsächlich bei der Produktion der rechtsextremen Propagandablättchen (…) seinen Segen« gab.

 

Bemerkenswerterweise ist in der Arbeit von einem nach wie vor anhaltenden »tradierten Untergrundkampf« der Neonazis die Rede. Zwar attestiert Thein diesen »auch heute noch eine offenkundig militante Grundeinstellung«. Allerdings gebe es »in der Gegenwart keine Bestrebungen« zum »Einsatz terroristischer Mittel« wie noch in den 1970er und 1980er Jahren. Diese Aussage will Thein unter Berufung auf einen langjährigen Bediensteten des BfV untermauern: »Deshalb wird in der Wissenschaft die Existenz einer ›Braunen-Armee-Fraktion‹ negiert«. Das hatte Armin Pfahl-Traughber in einem Aufsatz in dem Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2006/2007 geschrieben. Thein spitzt derweil diese Behauptung an anderer Stelle zu: »Seit einigen Jahren [sind] für terroristische Planungen oder den Aufbau einer ›Braunen-Armee-Fraktion‹ weder konzeptionelle Entwürfe noch zielstrebige Vorgehensweisen erkennbar«. In der dazu gehörigen Fussnote 1274 informiert er den Leser über eine Aussage von Uwe Backes, der sich im Jahre 2007 davon überzeugt gezeigt hatte, dass Deutschland »seit der Vereinigung nicht mehr mit dem Phänomen Rechtsterrorismus konfrontiert« wurde.

 

Diese Aussagen des in der Thüringer Neonaziszene aktiven V-Mann-Führers Martin Thein wirken von heute aus betrachtet komisch. Es erscheint mittlerweile evident, dass er bei seiner Zusammenarbeit mit Michael See/Dolsperg dessen Zeitung Sonnenbanner nicht nur in der Hand gehabt, sondern auch durchgearbeitet haben wird. Deshalb musste ihm aus seiner Tätigkeit im BfV bekannt sein, dass es sich bei dem Konzept des »leaderless resistance« mitnichten um die Beschreibung eines allgemeinen Assoziationsmodelles locker verkoppelter Neonazikameradschaften handelt. Thein hielt sich in einem Milieu auf, in dem nicht nur Bomben gebastelt worden sind und in das man nach Haftbefehlen für gewisse Zeit abtauchte. In diesem Milieu zirkulierten auch »konzeptionelle Entwürfe« für terroristische Planungen, Schriften, die den bewaffneten Untergrundkampf theoretisierten.

 

Die Verknüpfungen der Thein zugeschriebenen Dissertation mit der Tätigkeit des BfV lassen begründet vermuten, dass es sich dabei nicht um eine individuell zurechenbare Qualifikationsarbeit eines einzelnen Wissenschaftlers handelt. Hier liegt ein Memorandum des BfV vor, das heißt: Sie wurde durch eine Vielzahl unbekannter Produzenten im Staatsdienst realisiert. Dr. Thein – ein operativ tätiger Geheimdienstbeschäftigter, akademisch camoufliert als Exponent der Extremismusdoktrin.

 

Literatur

Martin Thein: Wettlauf mit dem Zeitgeist. Der Neonazismus im Wandel. Eine Feldstudie, Göttingen 2009, 468 Seiten

Stefan Aust, Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014

 

Markus Mohr hat zusammen mit Hartmut Rübner das Buch »Gegnerbestimmung. Sozialwissenschaft im Dienste der ›inneren Sicherheit‹ herausgegeben, das 2010 im Münsteraner Unrast-Verlag erschienen ist.