Staat, Nation und Volk - Eine Kritik

Die neue GEGEN_KULTUR ist seit dem 17.3.2014 auf www.gegen-kultur.de zu bestellen

Wir machen in diesem Grundsatztext den Versuch, einige prinzipielle Gedanken und Argumente zum Staat, zur Nation und zum Volk loszuwerden. Was du hier lesen wirst, unterscheidet sich deswegen ganz grundsätzlich von allen gedanklichen Auseinandersetzungen mit dem Staat, Deutschland, dem Volk usw., die in der Öffentlichkeit bekannt sind, weil wir keine guten Gründe für diese Sachen aufzählen wollen, sondern erklären möchten, was sie sind. Die Zusammenhänge und inneren Funktionsweisen dieser Sachen ein wenig klarer zu haben, ist unser Anspruch an diesen Text. Dadurch ist er im Endeffekt dasselbe wie die Kritik von Staat, Nation und Volk, weil bei der Erklärung dieser Sachen nichts Gutes herauskommen wird.

 

Der folgende Artikel ist erschienen in GEGEN_KULTUR Sonderausgabe #3 - Beiträge gegen Staat, Nation und Kapital. Zu bestellen unter www.gegen-kultur.de. Der Artikel ist auf unserer Internetseite auch als .pdf verfügbar.


Staat, Nation und Volk

 

Einleitung

 

Wir machen in diesem Grundsatztext den Versuch, einige prinzipielle Gedanken und Argumente zum Staat, zur Nation und zum Volk loszuwerden. Was du hier lesen wirst, unterscheidet sich deswegen ganz grundsätzlich von allen gedanklichen Auseinandersetzungen mit dem Staat, Deutschland, dem Volk usw., die in der Öffentlichkeit bekannt sind, weil wir keine guten Gründe für diese Sachen aufzählen wollen, sondern erklären möchten, was sie sind. Die Zusammenhänge und inneren Funktionsweisen dieser Sachen ein wenig klarer zu haben, ist unser Anspruch an diesen Text. Dadurch ist er im Endeffekt dasselbe wie die Kritik von Staat, Nation und Volk, weil bei der Erklärung dieser Sachen nichts Gutes herauskommen wird.

Dass „die Menschen“ nämlich einen Staat brauchen, um eine funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist eine weit verbreitete Ansicht. Wir fragen uns aber: Wozu braucht es den Staat? Welche Dienste leistet er wem, welche Verhältnisse setzt er in Kraft und erhält sie aufrecht?  Schließlich: Was hat es mit dem „deutschen Wesen“ dieses Staates und seiner Bürger auf sich? Warum gibt es die Vorstellung, dass „die Völker“ unterschiedliche oder gegensätzliche Eigenschaften in sich haben? Woher kommen die verschiedenen „Volkskörper“? Was ist eigentlich eine Nation? Was ist ein Nationalist und wie kritisiert man so jemanden vernünftig?


Dass man sich als national denkender Mensch auf „sein Deutschland“ bezieht, das keinen anderen Zweck kennt, als die bestmögliche Organisation der Interessen „des deutschen Volkes“ durchzusetzen, ist überhaupt ein durchgesetzter Standpunkt in der modernen bürgerlichen Welt. Wir fragen uns: Warum ist es so selbstverständlich, die eigene Persönlichkeit als deutsche zu begreifen und sich so mit jedem anderen gleichzumachen und in Solidarität zu üben, der auch Deutscher ist? Welche Gemeinsamkeiten haben „die Deutschen“? Was zeichnet „das Volk“ aus? Warum findet jeder Lena toll und fiebert bei der WM mit den deutschen Jungs mit?

 

Der Text ist entsprechend gegliedert, er beginnt mit der Behandlung des Staates, der objektiven Institution, die es in dieser Gesellschaft gibt und geht über zur Behandlung von Nation und Volk – weil wir meinen, dass der Nationalismus selbst schon der ideologische Ausdruck einer bestimmten Stellung zum Staat ist – und weniger eine eigenständige Sache. Wenn unklar ist, was damit gemeint sein soll, wird sich das im Laufe der Lektüre erschließen. Im Teil zum Staat werden auch ein paar Punkte abgehandelt wie bspw. Sozialstaat oder Bildungswesen, die nicht zu einer Erklärung des Nationalismus notwendig sind, von denen wir aber dennoch meinen, dass sie ein paar Argumente wert sind, auch angesichts der vielen verkehrten Vorstellungen, die es über diese Dinge gibt.

 

I - Staat

 

1.0 Der Staat als Gewalt

 

Der Staat begegnet einem in dieser Gesellschaft zunächst in Form von offiziellen Einrichtungen und Institutionen. So sind etwa die Parlamente und Regierungen, sämtliche Ämter, die Polizei, die meisten Schulen, das Heer, unter Umständen auch Betriebe oder beispielsweise Verkehrsnetze staatlich organisiert. Daran zeigt sich, dass sich der Staat in zahlreiche Kompetenzen aufgliedert.

Unter diesen verschiedenen Vorzeichen begegnet einem der Staat als die Instanz, die definiert, was seine Bürger tun dürfen und was nicht. Diese staatliche Lizenz ist die Grundlage für die bürgerliche Freiheit, mit seinen Mitteln seine eigenen Interessen zu verfolgen: Der Staat regelt in großen Rechtskatalogen (Grundgesetz, bürgerliches Gesetzbuch, Strafrecht, Familienrecht, Arbeitsrecht, Handelsrecht,...), auf welche Art und Weise man seine Interessen verfolgen darf. Verfolgen also die Bürger eines Staates die verschiedensten Privatinteressen, tritt der Staat auf als Bedingung und Schützer der einzelnen Interessen. Dadurch genießt der Staat Anerkennung in der Gesellschaft.

Das bedeutet, dass die erste Existenzbedingung des Staates seine Gewalt ist – dass er als Instanz getrennt von dem wirtschaftlichen Leben seiner Bürger verpflichtende Entscheidungen für die Bürger trifft. Er hat das Gewaltmonopol in seinem Herrschaftsbereich, was bedeutet, dass er keine konkurrierenden Gewalten neben sich duldet. Es hängt also von den staatlichen Gesetzen ab, was man als Staatsbürger tun darf, welche Interessen man wie verfolgen darf und für welche Handlungen man bestraft wird, weil sie illegal sind. Die so beschlossenen Gesetze und Maßnahmen sind übrigens  nicht abhängig vom Willen der Staatsbürger (man darf ja gerne gegen diese oder jene staatliche Maßnahme Protest oder Widerspruch anmelden, Subjekt der Entscheidung bleiben aber Parlamente und Regierungen). Die Staatsbürger sind der staatlichen Gewalt unterworfen[1] (obwohl das im Namen des guten Zwecks der Gewalt gerne bestritten wird.) In den Konsequenzen kennt die Gewalt auch jeder: Sie wird ausgeübt von den staatlichen Institutionen, von Polizei, Gerichten, Ämtern, Regierungen, Parlamenten oder der Armee. Verrückterweise wird die Gewalt des Staates genausooft geleugnet wie man sich auf sie beruft: Weil beispielsweise der Gerichtsprozess als notwendige und sinnvolle Einrichtung für die Gesellschaft geschätzt wird, kommt niemand auf die Idee, den Richter als Gewalttäter zu bezeichnen – obwohl er nichts anderes tut, als mit Zwangsmaßnahmen die Geltung der staatlichen Gesetze gegen Übertretungen durchzusetzen („Im Namen des deutschen Volkes“ eröffnet jedes Urteil und heiligt die Gewalt, weil sie für einen guten Zweck stattfindet.)


Damit hat der Staat selbst auch die Hoheit über die Gewaltdefinition. So werden beispielsweise nicht erlaubte Sitzblockaden üblicherweise als „gewalttätig“ bezeichnet – die Polizisten, die diese mit Knüppel und Pfefferspray abräumen, als „Ordnungshüter“. An der Sache selbst (auf der Straße sitzen und etwas Blockieren beziehungsweise die auf der Straße Sitzenden mit Gewaltmitteln wegschaffen) lässt sich der Unterschied von Gewalt und Nicht-Gewalt überhaupt nicht festmachen, sondern nur an der staatlichen Lizenz: Hat sie jemand, wie z.B. die Polizei, gilt deren Handlung auch nicht mehr als Gewalt, sondern als „Dienst an der Allgemeinheit“.


1.1 Bürgerliche Gesellschaft


Diese Tatsache, dass der Staat mit einem permanent präsenten Gewaltmonopol die gesamte Gesellschaft einrichtet und alles Treiben teilt in erlaubtes und verbotenes bedeutet für die Mitglieder der so definierten Gesellschaft zunächst, dass diese vom Staat abhängig gemacht, auf ihn angewiesen sind. – Sich in den erlaubten Bahnen der Gesetze zu bewegen ist für jeden die unerlässliche Voraussetzung, in seinem Leben überhaupt den eigenen Erfolg anstreben zu dürfen (was noch nicht heißt, dass man dann auch erfolgreich ist) – weil man der staatlichen Gewalt unterworfen ist. Bereits diese erste Bestimmung des Staates als Gewalt lässt schon einen Schluss auf den Charakter der Gesellschaft zu, in der das staatliche Gewaltmonopol herrscht: Wenn es sich so verhält, dass für die Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs eine permanente Gewalt nötig ist, kann diese Gesellschaft offensichtlich keine friedfertige und harmonische sein, die einfach von selbst mit sich klarkommen würde. Es muss sich vielmehr so verhalten, dass das ganz normale gesellschaftliche Leben und Treiben geprägt ist von großen Widersprüchen und Gegensätzen, von anhaltenden wechselseitigen Schädigungen und Existenzbestreitungen. Anderenfalls würde die permanente Notwendigkeit einer staatlichen Obergewalt getrennt von den einzelnen Individuen keinen Sinn ergeben.

 

Diese Überlegung lässt sich auch umgekehrt anstellen: Offensichtlich wird die bürgerliche Gesellschaft durch die Existenz des staatlichen Gewaltmonopols nicht zu einer friedlichen. Es verhält sich im Gegenteil so, dass der Ruf nach dem Staat immer dort laut wird, wo Interessen verletzt werden. Jedes verletzte Interesse weiß, sich an den Staat zu wenden als die Instanz, die mit seiner Gewalt für das Ende oder die Einschränkung der Verletzung sorgen kann. Der Staat als Gewaltmonopolist ist eben alles andere als die Aufhebung der Gewalt. Er ist die einzige Gewalt, und wenn Gewalt ausgeübt wird, dann von ihm. Jeder Ruf nach dem Staat stellt somit die Frage nach herrschaftlicher Befugnis und ihrer – gewalttätigen – Exekution: Mietervereine beschweren sich beispielsweise beim Staat darüber, dass Wohnungen immer teurer werden. D.h., dass Menschen von den Räumen in denen sie leben immer mehr ausgeschlossen werden. Ganz egal, wie der Staat damit umgeht („Mietpreisbremse“, Subventionierung von Wohnungsbau,...), der Grund für die Beschädigung der Interessen von Mietern wird nicht aus der Welt geräumt: Der liegt darin, dass andere – Wohnungseigentümer – ein Interesse daran haben, aus dem Wohnraum möglichst viel Gewinn, sprich Geld zu machen. Das geht notwendig zu Lasten derjenigen, die in diesen Wohnungen leben müssen und dafür Geld zu bezahlen haben. Der Staat befriedet auf diese Weise Interessensgegensätze. Das ist ganz etwas anderes als sie aufzuheben.

Wenn es also als allgemein anerkannt gilt, dass es für die Organisation des gesellschaftlichen Lebens ein Gewaltmonopol braucht, damit die Leute nicht wechselseitig aufeinander losgehen, ist unsere nächste Behauptung die, dass es das staatliche Gewaltmonopol selbst ist, das alle Gesellschaftsmitglieder auf bestimmte Prinzipien verpflichtet – und somit dafürsorgt, dass die innerhalb der Gesellschaft verfolgten Interessen permanent zu kurz kommen und dadurch wiederum auf die staatliche Gewalt angewiesen sind: Freiheit, Gleichheit & Eigentum.

 

2.0 Bürgerliche Freiheiten


Der bürgerliche Staat setzt mit seiner Gewalt eine Rechtsordnung, die für jedes Mitglied der Gesellschaft gilt. Obwohl jeder Staat auf der Welt sehr spezifische und unterschiedliche Gesetze hat, lässt sich dennoch feststellen, dass grundsätzliche Rechtsprinzipien in allen bürgerlichen Staaten dieselben sind. Diese sind in erster Linie Freiheit, Gleichheit, Eigentum. Die Möglichkeit für Staatsbürger, über privates Eigentum zu verfügen, ohne über Gewaltmittel verfügen zu müssen, um ihr Eigentum zu schützen, also ihre Freiheit und ihr Eigentum, sind für sie durch den Staat garantiert. Der bürgerliche Staat schützt mit seiner Gewalt nicht nur sein eigenes Eigentum, sondern das Recht auf Eigentum - für jedermann. In vorbürgerlichen Gesellschaften fällt die Gewalt und das Privateigentum zusammen: Je mehr Gewaltmittel ein Feudalherr aufbringen kann, umso mehr Reichtümer kann er anhäufen. Der bürgerliche Staat hingegen trennt Politik und Wirtschaft, ermöglicht mit seiner Gewalt Privateigentum von Anderen und schafft damit die Freiheit des Eigentums. Im Kapitalismus ist es Eigentümern möglich, ihr Eigentum zu wahren ohne selbst über Gewaltmittel zu verfügen; der Staat garantiert mit seiner Gewalt das Eigentum.


2.1 Freiheit


Freiheit ist als staatliche Lizenz etwas anderes als das einfache und triviale Verhältnis einer Person zu ihrem Willen: Ich kann mir meine Zwecke selbst setzen, mir meinen Willen bilden und mich um dessen Verwirklichung bemühen. Freiheit als staatlich garantiertes Recht ist in erster Linie ein Herrschaftsverhältnis: Es ist den Staatsbürgern erlaubt, sich ihre Interessen und Zwecke selbst auszusuchen. Scheinbar ist das, was sowieso jeder tut in der bürgerlichen Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit, sondern explizit Gegenstand einer staatlichen Befugnis. Das bedeutet auch, dass die konkreten Reichweiten und Grenzen der individuellen Freiheit staatlich gesetzten Einschränkungen unterliegen. Freiheit als abstrakte staatliche Garantie ist zunächst die prinzipielle Erlaubnis, seine Interessen im Rahmen der Gesetze zu verfolgen wie man will und sich um die dafür notwendigen Mittel zu bemühen. Im Gegensatz zu früheren Formen der Gesellschaft wird in der bürgerlichen Gesellschaft also niemand gezwungen, ein bestimmtes Interesse zu verfolgen, einen bestimmten Stand oder Beruf anzunehmen, z.B. Schreiner, Lehrer oder Polizist zu werden.

 

Der Staat garantiert seinen Bürgern auf der einen Seite die Freiheit der Person, um sie auf der anderen Seite zu beschränken: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (GG, Artikel 2) Diese prinzipielle Beschränkung der individuellen Freiheit anhand der Rechte anderer unterstellt, dass die derart freiheitlich betätigten Interessen in dieser Gesellschaft notwendig miteinander in Konflikt geraten. – Wären diese Interessen gemeinschaftliche (man produziert gemeinsam, um die produzierten Sachen zu konsumieren) oder gingen sich nichts an (der eine geht ein Eis essen, der andere Bier trinken), würde diese ganz grundsätzliche Beschränkung der Interessen keinen Sinn ergeben – die Notwendigkeit der Beschränkung aller Einzelinteressen leuchtet nur dort ein, wo die Einzelinteressen eine wechselseitige Schädigung der anderen betreiben.

 

2.2 Eigentum

 

Was ist mit wechselseitiger Schädigung gemeint? – Der Staat garantiert allen Bürgern die Freiheit des Privateigentums. Das ist die gesetzliche Befugnis, alle anderen von der Benutzung des eigenen Hab und Guts auszuschließen. Das bedeutet zunächst, dass alles, was es in dieser Gesellschaft gibt, Wohnungen und Häuser, Lebensmittel und Genussgegenstände,... sowie die Mittel zur Herstellung dieser Dinge schon mal jemandem gehören. Also ist jeder der etwas braucht ganz grundsätzlich von der unmittelbaren Benutzung und Verfügung darüber ausgeschlossen. Kein noch so gutes Argument, kein noch so großes Bedürfnis nach Lebensmitteln sorgt dafür, dass man an sie rankommt. Man kann Hunger leiden wie man will, verfügt man nicht über das notwendige Geld um sie zu kaufen, bekommt man sie nicht – nimmt man sie sich trotzdem, ist das ein Verbrechen. Als freier Bürger hat man die staatliche Lizenz und den staatlichen Schutz, mit seinem Eigentum anzustellen was man will. Wenn wir oben gesagt haben, niemandem ist in der bürgerlichen Gesellschaft ein bestimmtes Interesse vorgeschrieben, so stimmt das nicht ganz: Über das Prinzip des Eigentums ist jedem Staatsbürger das Interesse aufgeherrscht, an Geld heranzukommen – weil das die Schranke und das einzige Mittel ist, an die lebensnotwendigen Dinge heranzukommen. Im Gegensatz allerdings zu Handlungen, zu welchen man mit direkter Gewalt gezwungen wird, ist die Nötigung, Geld verdienen zu müssen, vermittelt über den stummen Zwang der Verhältnisse. Niemand zwingt die bürgerlichen Individuen direkt zur Arbeit. Durch die Trennung von allen Dingen, die sie benötigen, beginnen sie ohne unmittelbare Gewalt, ihre Arbeitskraft an andere zu verkaufen[2].


Über das Prinzip des Eigentums erhellt, dass jedes ökonomische Interesse in dieser Gesellschaft als ganz grundsätzliche Schädigung eines anderen Interesses angelegt ist: Es gibt z.B. Wohnungen, die – könnte man denken – zum darin Wohnen da sind. In dieser Gesellschaft gehören die Wohnungen aber Eigentümern, die die Wohnungen überhaupt nicht selber brauchen, sondern mit der Wohnung ganz eigene Interessen verfolgen: Geld mit ihnen zu verdienen. Dann sind Wohnungen aber auch einzig zu dem Zweck da, Geld mit ihnen zu verdienen. Wer das zu zahlen hat, ist auch klar: Die Leute, die über kein eigenes Eigentum an Wohnungen verfügen, sondern zur Miete leben müssen. Haben also Vermieter das Interesse, mit ihren Wohnungen möglichst viel Geld zu verdienen, haben Mieter das genau entgegengesetzte Interesse, möglichst wenig Geld für die Wohnungen auszugeben, damit mehr für die restlichen Lebenskosten übrigbleibt. Dieses Verhältnis stellt einen beinharten Gegensatz dar, der nie zusammengeht: Alles was Vermieter gegen Mieter durchsetzen, schädigt deren Interessen unmittelbar – alles was Mieter an ihren Interessen durchsetzen, schädigt die Interessen der Vermieter. Das gleiche gilt für sämtliche ökonomischen Verhältnisse in dieser Gesellschaft, also für das ganz unmittelbare Leben: Arbeitgeber wollen geringe Löhne zahlen, Arbeitnehmer wollen hohe bekommen, Verkäufer wollen Waren teuer verkaufen, Käufer wollen Waren billig einkaufen,...[3]


2.3 Gleichheit

 

Der Staat garantiert seinen Bürgern die Gleichheit, was heißt, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft prinzipiell als Personen und als Eigentümer gleichermaßen anerkannt sind. - Alle dürfen ihre Interessen gleichermaßen in den erlaubten Bahnen verfolgen. Alle unterliegen den gleichen Gesetzen und den gleichen Prinzipien staatlicher Herrschaft. Dass „alle Menschen gleich sind“ klingt zunächst nach einer Selbstverständlichkeit, ist in Wahrheit jedoch bereits handfeste staatliche Ideologie: Der Sache nach sind alle Menschen höchst unterschiedlich, haben ganz unterschiedliche körperliche und soziale Voraussetzungen, verfolgen ganz verschiedene oder gegensätzliche Interessen und Zwecke in ihrem Leben. Nur die staatliche organisierte Gleichbehandlung sorgt für das Vorurteil, alle Menschen seien auch (ihrer Natur nach) gleich. Der Witz der Gleichheit besteht darin, dass alle Mitglieder der Gesellschaft als Eigentümer prinzipiell gleichbehandelt werden. Ob und wie viel Eigentum sie allerdings haben, ist damit Privatsache. Privatsache ist daher auch, ob ihre Mittel denn taugen zur Eigentumsvermehrung, Eigentumserhaltung oder überhaupt zum Leben. Dabei unterscheidet sich das Eigentum der Mitglieder dieser Gesellschaft grundlegend: Die einen haben Privateigentum an Firmen und bezahlen andere um für die Vermehrung ihres Eigentums zu arbeiten. Andere arbeiten und haben in ihrem Besitz nur eine Mietwohnung und verzehren und verbrauchen dauernd das, was sie als Lohn für ihre Arbeit erhalten: Essen, Kleidung, Auto. Sie sind also ständig darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft aufs Neue zu verkaufen und stehen nie vor der Option, mit dem Arbeiten irgendwann mal aufzuhören.

 

Die staatlich durchgesetzte Gleichheit aller ist somit eine ungeheure Härte gegen die damit freien und gleichen Bürger. Sie ist nämlich ignorant gegen die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen und garantiert so für sich schon das Fortbestehen aller sozialen Unterschiede: Egal ob jemandem Aldi gehört oder sich dort für einen Hungerlohn an der Kasse verdingen muss – beide werden prinzipiell als Gleiche behandelt, obwohl sie es materiell gesehen überhaupt nicht sind. Dem Millionär ist es wie dem Penner verboten, unter Brücken zu schlafen. Die rechtliche Anerkennung der gegensätzlichen Interessen findet in der Form des Vertrages statt.

 

2.4 Der Vertrag


Es ist schließlich schon eine Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft, dass jedes ökonomische Verhältnis als Vertrag zwischen Freien und Gleichen geregelt wird, dessen Geltung durch das staatliche Gewaltmonopol garantiert wird. – Dass das ganze gesellschaftliche Leben über Verträge geregelt wird, gilt gemeinhin als ‚zivilisatorische Errungenschaft‘. Verträge würden für einen vernünftigen, rechtlich verpflichtenden Umgang miteinander sorgen und vor der ‚Gewalt des Stärkeren‘ schützen. Der Vertrag als Rechtsverhältnis ist aber keine Naturnotwendigkeit, sondern verweist auf sich gegenseitig feindlich gegenüberstehende ökonomische Interessen, ist also Ausdruck einer ganz bestimmten Gesellschaftsform. Der Vertrag ist eine feindschaftliche Zusammenarbeit der beiden Vertragsparteien: Im Arbeitsvertrag verpflichten sich Arbeiter und Kapitalist ('Arbeitgeber') gegenseitig, Arbeitsleistungen bzw. Lohn zu erbringen. Der Vertrag ist somit die rechtliche Anerkennung der Gegensätze in der Gesellschaft. Seine Voraussetzungen sind Freiheit und Gleichheit. Verträge haben auch nur Geltung, insoweit der Staat mit seiner Gewalt für deren Aufrechterhaltung sorgt. Dass man sich allerdings als Arbeiter in der ökonomischen Zwangslage befindet, irgendeine Arbeit anzunehmen, die Gegenseite ('Arbeitgeber') als Eigentümer also eine Erpressungsmacht gegen die Arbeiter hat, interessiert vom rechtlichen Standpunkt der Gleichheit überhaupt nicht: Man hätte den Vertrag schließlich nicht unterschreiben müssen[4].

 

2.5 Über die mithilfe der staatlichen Gewalt durchgesetzte Geltung der Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Eigentum, ist also schon sichergestellt, dass jedes Interesse in dieser Gesellschaft sich nur so weit Geltung verschaffen kann, wie es über Eigentum verfügt: Hat einer schon ein Eigentum an Wohnungen, Ackerflächen, oder allgemein Produktionsmitteln (Mittel die notwendig sind um die ganzen Versorgungsgüter herzustellen), ist er in einer Machtposition: Er kann andere von seinem Eigentum ausschließen, das alle anderen brauchen. Er kann Arbeiter einstellen, die für ihn zum Zweck der Vermehrung seines Eigentums arbeiten. Verfügt einer über kein Eigentum, hat er in dieser Gesellschaft immer noch sich selbst als Eigentum, kann sich selbst also auf dem Markt verkaufen, seine Arbeitskraft anbieten. Kapitalisten sind Eigentümer von Produktionsmitteln, die nicht arbeiten, sondern andere für die Vermehrung ihres Eigentums arbeiten lassen. Arbeiter sind Nicht-Eigentümer von Produktionsmitteln, die für die Vermehrung des Eigentums des Kapitalisten arbeiten.

Das einzige, was der Staat den Menschen garantiert, ist ihre Freiheit: Die Mittel die einer hat, egal, ob die Mittel taugliche sind oder nicht, im Rahmen der Gesetze so einzusetzen, wie es dem Willen des Besitzers entspricht. Im Fall der Arbeiterin ist es die Freiheit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Im Fall der Kapitalistin ist es die Freiheit, die Ware Arbeitskraft einzukaufen und gewinnbringend einzusetzen. Damit sind der Staat und die von ihm gesetzte Freiheit die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Konkurrenz. Nur das Gewaltmonopol garantiert die Freiheit der Arbeiterin, nichts zu besitzen als ihre Arbeitskraft. Nur das Gewaltmonopol garantiert auch, wie der Staat nicht müde wird zu erwähnen, dass in dieser gesellschaftlichen Einrichtung die Menschen die Konkurrenz in der sie stehen, nicht mit Gewalt ausfechten, sondern im Rahmen der Gesetze. Das Gewaltmonopol ermöglicht also diese gewaltvolle Einrichtung der Gesellschaft, ohne dass Gewalt tatsächlich ständig zum Einsatz kommt. Der Polizeiknüppel, der potentiell hinter jedem gebrochenen Gesetz steht, ermöglicht das Leben als freie und gleiche Bürger eines demokratischen Staates. Darin ist der Staat Klassenstaat.

 

3.0 Klassenstaat

 

Der Staat verfügt über die gesamte politische Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft. Da er allerdings von der Ökonomie getrennt ist, ist er auf die Produktivität seiner Bürger angewiesen, aus der er seinen Reichtum und seine Mittel bezieht. Wie der Staat die Bedingungen für den Einzelnen schafft, in einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ökonomisch tätig zu werden, wurde in der Ausführung über die bürgerliche Freiheit bereits gezeigt.

 

Über das Recht auf Eigentum, das der Staat seinen Untertanen garantiert, ist alles, was es auf der Welt gibt Eigentum von jemandem und wird dadurch der unmittelbaren Nutzung durch alle anderen Personen entzogen. Das Eigentum ist also Mittel und Schranke der bürgerlichen Individuen und ihrer Freiheit. Es ist ihr Mittel, weil sich die staatlich garantierte Freiheit ausschließlich auf das Eigentum einer Person bezieht. Es ist die Schranke, weil sich jedes Eigentum einer anderen Person der eigenen Nutzung entzieht. Die Klassengrenze in dieser Gesellschaft ist dadurch gezogen, dass die Art und Menge des Eigentums, das ein Individuum besitzt, keinen Einfluss darauf hat, ob er  als Eigentümer behandelt wird.  Ganz egal, was und wieviel jemand besitzt, immer ist er rechtlich definiert als Eigentümer: Selbst der Arbeiter, der nichts besitzt und arm geboren ist, wird vom Staat behandelt als einer, der immer noch sich selbst als Eigentum und somit seinen Körper als Mittel zur Verfügung hat[5]. In einer Gesellschaft, in der über das Recht auf Eigentum eine kapitalistische Produktionsweise garantiert ist, gibt es, was man für das Leben braucht, nur gegen Geld. Das Geld ist die Schranke, an der sich entscheidet, ob ein Bedürfnis gilt oder nicht und umgekehrt ist die Voraussetzung dafür, dass ein Geschäft überhaupt erst zustande kommt, die Einschätzung, aus dem Geschäft Geld machen zu können. Wenn der Staat seine Bürger so aufs Geld verpflichtet als unmittelbare Existenzbedingung, ist ihnen damit ihr Interesse am Geldverdienen als ein materielles vorgeschrieben. Wie sie es betätigen ist Privatsache (und obliegt damit ihrer Freiheit), solange sie sich im Rahmen des von ihm Erlaubten bewegen (die Freiheit anderer respektieren).

 

Wenn in der bürgerlichen Gesellschaft also alles am Privateigentum hängt, sind diejenigen, die über ein Eigentum an Produktionsmitteln verfügen, in der Machtposition: Nicht weil sie ihr Eigentum brauchen, sondern gerade weil sie ihr Eigentum nicht selber benutzen können, nicht selber alles produzieren können, um hinterher aus den verkauften Waren Profit zu machen, kaufen sie sich wiederum Leute ein, die ihrerseits kein Eigentum haben, sondern darauf angewiesen sind, dass jemand für sie eine Verwendung hat, um an das für’s Leben notwendige Geld zu kommen. Die Klassen treten in Erscheinung: Die einen, die über Eigentum verfügen und alles daran setzen es zu vermehren, und die, die kein Eigentum außer sich haben und sich daher nützlich für das Eigentum anderer machen müssen.

 

Stehen sich Kapitalistenklasse als diejenige, die Eigentümer an Produktionsmitteln ist und die Proleten der Arbeiterklasse als die, die nichts haben außer ihrer Arbeitskraft, die sie am Markt in Geld umsetzen müssen, entgegen, ist der Staat zunächst die Grundlage der Klassen, weil er ihre Grundlage, das Eigentum, garantiert. Aber er ist mehr als das. Weil der Staat selbst nicht über die Produktion verfügt, ist er davon abhängig, die Mittel seiner Macht aus dem ökonomischen Leben der bürgerlichen Gesellschaft zu beziehen. Der Erfolg seiner Kapitalistenklasse im Geschäft des Geldvermehrens ist ist die Grundlage der staatlichen Machmittel, wie der Staat die Grundlage der kapitalistischen Produktion ist. Funktionierende kapitalistische Ausbeutung ist das Erfolskriterium des Staates. Die Wachstumspolitik liefert den Beweis. Alle ökonomischen Machtpotenzen, die ein Staat für seine Zwecke und Unternehmungen zur Verfügung hat, werden im wirtschaftlichen Leben, also jenseits vom Staat produziert. Auf dieses Wirtschaftsleben greift der Staat beständig zu und will es für seine Zwecke dienstbar machen – so gibt es in modernen Demokratien kaum ein kapitalistisches Geschäft, das nicht besteuert würde. Der Staat selbst hat also ein vitales Interesse an der funktionierenden Geldvermehrung, an funktionierendem kapitalistischem Geschäft, in dem er über Besteuerung und Standortüberlegungen sein Mittel entdeckt. Grundlage meint hier aber nicht, dass es historisch vor dem Staat keine Klassen gegeben hätte. Viel mehr hat die Kapitalistenklasse mit dem modernen Staat jene Institutionen geschaffen, die das Eigentum so gut garantieren. Die heutige kapitalistische Produktionsweise ist jedoch ohne staatlich garantiertes Eigentum nicht mehr denkbar. So ist zwar der Staat wirklich die Grundlage des Kapitals, aber das Kapital auch die Grundlage des Staates.

 

Klassenstaat ist er nicht, weil er ein „Ausschuss der Kapitalistenklasse“ wäre, die durch ihn einfach ihre Interessen verwirklichen würde. Umgekehrt verhält es sich: Weil der Staat ein Interesse an kapitalistischem Wachstum hat, fällt das Interesse der Kapitalistenklasse hier mit dem des Staates in eins. Funktionierende kapitalistische Ausbeutung ist das Erfolgskriterium seines Standpunkts, und darin ist er: Klassenstaat. Alle, die in der systematischen Zusammenarbeit von Wirtschaftsmagnaten und Politikern, in Absprachen und Lobbyarbeit zwischen Großkonzernen und Regierungen eine Schwäche des nationalen Staates entdecken, sollten sich mal die Frage stellen, ob das nicht umgekehrt ein Hinweis auf den festen Willen des Staatspersonals sein könnte, kapitalistische Konzerne und deren Profitüberlegungen für sich dienstbar zu machen – also dem Prinzip nationaler Politik überhaupt entspricht.

 

4.0 Konkurrenz

 

In der Klassengesellschaft, die der bürgerliche Staat garantiert, sind alle Bürgerinnen Konkurrentinnen. Als Freie und Gleiche treten sie sich gegenüber und nutzen ihre bürgerlichen Freiheiten, um ihre Interessen durchzusetzen. Sein Interesse durchsetzen geht dabei in dieser Gesellschaft überhaupt nur dadurch, dass man ein anderes damit schädigt. Selbst harmlose Unterschiede wie die zwischen Jung und Alt verwandeln sich über das Rentensystem in Gegensätze. Konkurrenz heißt: Alle wollen das Gleiche, haben ein Interesse daran – Geld. Aber die Mittel, um an Geld zu kommen, sind dem unmittelbaren Zugang der Mitglieder dieser Gesellschaft entzogen. Verwertbar sind noch lange nicht alle und das zu sein ist für den Großteil der Menschen in dieser Gesellschaft die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen: Einen Unternehmer zu finden, der aus der eigenen Arbeitskraft Geld zu machen hofft und dafür einen Lohn zu zahlen bereit ist. Wer allerdings welchen Job bekommt, liegt in der Hand der Unternehmer. Die haben dabei ihre Kriterien zur Berufseinstellung, die sich nur an der kapitalistischen Rechnung, wieviel Geld aus einer Person zu machen ist, orientieren, sowie an der auf dem Markt verfügbaren Anzahl von Arbeitern mit entsprechenden Fähigkeiten. Ist also die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft genötigt, einen Arbeitsplatz zu finden, ist noch nicht mal der Arbeitsplatz selbst garantiert. Durchsetzen muss man sich gegen die Anderen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Dabei haben alle Bürgerinnen ganz verschiedene Möglichkeiten, ihre gleiche bürgerliche Freiheit zu nutzen, um ihre Interessen zu verfolgen.

 

Diese grundsätzliche Konkurrenz Aller gegen Alle beschränkt sich nicht nur auf die widersprüchlichen Interessen von Kapital und Arbeit. Nicht nur das Interesse von H&M an einer möglichst profitablen Filiale ist zwangsweiße eine Beschädigung der Verkäuferinnen an einem Lohn, von dem es sich leben lässt – auch die Verkäuferinnen untereinander stehen in Konkurrenz. Diejenige, welche ihre Arbeitskraft besonders attraktiv gestalten kann und sich als teamfähig oder lernfähig erweist, kann in der Hierarchie aufsteigen – Aufwieglern, Faulenzern und Gewerkschaftern hingegen droht der Rausschmiss. Wird eine Arbeiterin entlassen, warten bereits andere auf diese Stelle – und stehen gegenseitig in Konkurrenz um die Möglichkeit, sich fürs Kapital nützlich zu machen um an das Geld heranzukommen, was Mittel ist für alle materiellen Bedürfnisse in dieser Gesellschaft.

 

4.1 Die Konkurrenz der Arbeiter in Bildung und Arbeitsmarkt

 

Diejenigen, welche nichts haben als ihre Arbeitskraft, müssen eben jene verkaufen, um ihr Leben zu erhalten. Ihre Freiheit besteht darin, ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten. Alle anderen Bürgerinnen, welche selbst keine andere Möglichkeit haben ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bieten ebenfalls ihre Arbeitskraft an. In der Konkurrenz setzen sich diejenigen Arbeiterinnen durch, von denen der Kapitalist glaubt, dass sie für seine Interessen am tauglichsten sind. Die Arbeiterin muss also nützlich sein für das Eigentum anderer, muss für Andere nützliche Dinge produzieren. Bevor übrigens ein Betrieb nützliche Dinge produziert, die nicht in Geld zu verwandeln sind, wird er brachgelegt.

Je besser die Ausbildung einer Arbeiterin, umso besser ihre Chancen, in der Hierarchie der Berufe aufzusteigen. Da die Ausbildung selbst für den einzelnen Arbeitgeber keinen direkten Nutzen hat, organisiert der Staat die Ausbildung in Schulen und Universitäten[6]. Die Arbeiterin selbst sieht in diesem Recht auf Ausbildung, das ihr als Schulpflicht entgegentritt, ihr eigenes Mittel, um ihre Arbeitskraft besser an die Kapitalistin zu verkaufen.

 

Der Staat sorgt für Gerechtigkeit bei der Verteilung der Berufe an die Arbeiterinnen, indem er ihre Leistungen in den staatlichen Ausbildungsbetrieben bewertet, Bildungsunterschiede herstellt und Berufe beschränkt für Arbeiterinnen, welche bestimmte Leistungen nicht bringen. So tritt die Leistungsgesellschaft zusammen mit der Konkurrenz auf. Die Leistung der Arbeiterinnen in den Ausbildungsbetrieben des Staates ist zwangsläufig durch die Gleichheit der bürgerlichen Subjekte in den Schulen und Universitäten durchsetzt von den ökonomischen Situationen ihrer Familien. Die Gleichheit der Leistungsmessung an ungleichen  Menschen in der Schule und Universität sorgt so für die Sortierung der Arbeiterinnen in Ungelernte, Gelernte und Elitearbeiterinnen.

 

4.2 Das staatliche Bildungswesen

 

Das staatliche organisierte Bildungswesen, in das jeder hineingezwungen wird, erfüllt mehrere Funktionen. Zunächst wird in der Schule ein bestimmtes Pensum an Wissen vermittelt. Vom kleinen Ein-mal-Eins über Geographie werden die Schüler mit Wissen ausgerüstet, dass sie später zu nützlichen Mitgliedern einer bürgerlichen Gesellschaft macht. Aufbauend auf diesen Grundlagen von Mathematik, Erdkunde, Chemie und Physik  können die Kleinen verschiedene Ausbildungen beginnen und ihre Arbeitskraft so attraktiver gestalten. Die Kenntnisse die hier vermittelt werden hängen ab von den notwendigen Kenntnissen der Proleten um arbeiten zu können. So ändert sich der Lehrplan über die Jahre, und heute muss jeder ein Mindestmaß an Medienkompetenz und EDV-Kenntnissen lernen, um verwertbar zu sein.

 

Die zweite Funktion von Bildung ist die Erziehung der Heranwachsenden zu rechtsbewussten Personen und treuen Staatsbürgern[7]. Im Ethikunterricht werden die großen Ideale Freiheit, Gleichheit und Eigentum gerechtfertigt und als eben jene Ideale präsentiert, welche die einzig menschlichen sind. Im Geschichtsunterricht wird der Staat präsentiert als das Ergebnis eines langen Kampfes des deutschen Volkes um seine Einheit und Unabhängigkeit (und seine schlimmen Verfehlungen dabei). Schließlich im Gemeinschaftskundeunterricht wird kritisch-konstruktives Denken beigebracht. Jede politische Entscheidung der jüngeren und jüngst vergangenen Zeit wird hier den Schülern als Debattenstoff präsentiert und alle werden aufgerufen, kritisch zu prüfen, ob die Entscheidungen der jeweiligen Regierung denn im Einklang mit den großen Idealen stehen und wirklich zum Wohle Deutschlands gefällt wurden.

 

Der dritte Zweck der Bildung ist die Selektion der Besucher von Bildungseinrichtungen. Wer für das Kapital verwertbar ist und wer nicht wird per Noten festgelegt und das ist Maßstab, ob jemand weiterlernen darf oder direkt in die Arbeit oder Arbeitslosigkeit geschickt wird. Die Noten entstehen dabei immer im Verhältnis zu den anderen Schülern und stehen nicht für eine konkrete Fähigkeit, die sich jemand angeeignet hat oder eben nicht. Dem Abstraktum einer Zahl (z.B. einer 2 in Mathe) lässt sich ja auch gar nicht ablesen, ob der Schüler die Analysis beherrscht oder Schwierigkeiten mit geometrischen Funktionen hat. Auf die Spitze getrieben wird diese Abstraktion in den Abschlussnoten: Das Zusammenrechen vieler Zahlen nach einem definierten Schlüssel, um einen bestimmten Schnitt auszurechnen, beweist, dass es hier nur noch um den Vergleich, um die Konkurrenz zu anderen geht und irgendein gelernter Inhalt an dieser Stelle überhaupt keine Rolle spielt. Damit ist jedes Lernen immer in Konkurrenz zu anderen Lernenden organisiert. Die Konkurrenz beschränkt sich also nicht nur auf den Arbeitsalltag, sondern beginnt schon in der Schule. Sie ist auch kein Nebenprodukt irgendeines menschlichen Strebens (Ehrgeiz), sondern systematischer Bestandteil und gewünschte Selektionsmaschine für das Kapital.

 

So machen viele Schülerinnen schon die bittere Erfahrung des Verlierens in der Bildungskonkurrenz der Ausbildungsbetriebe, bevor sie auf dem freien Markt als Konkurrentinnen gegeneinander gehetzt werden. Zudem ist auch die gelungene Ausbildung kein sicheres Mittel, um später durch Lohnarbeit sein Auskommen zu bestreiten. So ist die Losung des modernen Staates das lebenslange Lernen (‚Bildungsrepublik Deutschland‘). Da mag ein absolvierter Abschluss die Voraussetzung sein, überhaupt erst zum Bewerbungsgespräch vorgeladen zu werden, eine Garantie auf den Job ist er nicht. Die Arbeiterinnen sollen sich selbst attraktiv, d.h. nützlich für die Arbeitgeber machen, indem sie ihre Nützlichkeit ständig neu herstellen und erweitern.

 

4.3 Bewerbung

 

In Vorstellungsgesprächen sind die "Bewerber" keineswegs Personen, die sich aus freien Stücken das schöne Ziel ausgedacht haben, bei Unternehmen vorstellig zu werden um sich feil zu bieten. Ihr gewalttätig hergestellter und absoluter Ausschluss von allem gesellschaftlichem Reichtum zwingt ihnen das Interesse auf, die einzige Ware die ihnen zur Verfügung steht, nämlich ihre eigene Person in Form der Ware Arbeitskraft, auf dem Markt verkaufen zu wollen. Doch noch nicht mal das ist garantiert: Ihre Entgeltung in Form des Lohns findet nur statt, wenn sich ein Kapitalist finden lässt, der aus der Anwendung ihrer Arbeit - und damit dem kontinuierlichen Verschleiß menschlicher Lebenskraft, Muskeln, Hirn, Knochen - Profit erwirtschaftet. Gegen die anderen Angehörigen ihrer eigenen Klasse sind die Arbeiterinnen darüber in eine brutale Konkurrenz gesetzt, wer das Privileg der Dienstbarmachung an fremdem Eigentum überhaupt erfahren darf. Die vollständige Herrichtung des eigenen Körpers, Willens und der Lebensverhältnisse bis hin zu Beziehungsvorlieben ist den Leuten so als ihr Interesse vorgeschrieben - diese Art der Anpreisung findet im Vorstellungsgespräch ihre objektive Form. Hier stellt sich der völlig auf die Anforderungen des Kapitals zugerichtete Eigentumslose als lohnende Investition seines ökonomischen Gegners dar. An ihm soll es sein, dabei hat er als auf das Ausbeutungsverhältnis angewiesener überhaupt nichts die Entscheidung des Kapitalisten betreffend in der Hand. Von der eigenen Erfahrung mit Vorstellungsgesprächen weiß eben eigentlich auch jeder, was für eine Brutalität und Heuchelei dort praktiziert wird.

 

4.4 Chancengleichheit 

 

Chancengleichheit zu fordern bedeutet in diesem Kontext das gegenseitige Ausstechen und den Konkurrenzkampf um das sich-nützlich machen schon akzeptiert zu haben. Die Forderung beinhaltet bereits die Akzeptanz der Notwendigkeit von Gewinnern und Verlieren in der Schule, der Universität, der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt. Fairness zu fordern bedeutet, reale Konkurrenzschwächen wie Behinderungen, Sprachbarrieren, etc. in der Konkurrenz anders zu behandeln. Fairness ist keine Kritik der Konkurrenz sondern die Forderung eines „ausgewogenen“ Verhältnisses dieser durch staatliche Sanktionierung oder Förderung.

 

Das Ideal der Chancengleichheit versucht, die tatsächliche Chancenungleicheit an der Lüge, die sie den Herrschenden abgekauft hat, zu blamieren und fordert eine bessere Konkurrenz. In der integrativen Schule, der Ganztagesschule und dem Abi für Alle wird nicht der Konflikt der Leute gelöst, sondern die Vorstellung praktiziert, dass bisher die Falschen in der Konkurrenz unterlegen hätten und manche doch nützlich wären für das Eigentum anderer, wenn man sie nur besser unterstützte.

 

Der Staat setzt also die Schule und die Ausbildungsstätten ein, um die Arbeiterinnen nützlich für das Kapital zu machen und ihnen obendrein in Geschichte und Gemeinschaftskunde, Ethik und Politikunterricht etc. die Vorzüge seiner Herrschaft zu untermalen. Der gute Staatsbürger ist eben nicht nur ein Bürger welcher die staatliche Herrschaft akzeptiert, sondern einer, der im Staat selbst sein Mittel entdeckt um voranzukommen.

 

5.0 Der Sozialstaat

 

Die Konkurrenz der Arbeiterinnen führt dazu, dass es immer Gewinner und Verliererinnen dieser Konkurrenz gibt. Der Staat organisiert also ein soziales Netz, welches die Arbeitslosen, Kranken, Alten, etc., also die allgemein Unnützen für das Eigentum der Kapitalistinnen durchfüttert. Diese Unnützen fürs Kapital werden finanziert von eben jenen, welche gerade nützlich sind: Der Abzug von fast der Hälfte des Lohnes für Krankenkasse, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Rente etc. sorgt dafür, dass der Lohn, der so unsicher ist, dass er zum Überleben kaum taugt, so aufgeteilt wird, dass er in der Gesamtheit eben doch dazu taugt. Das übliche Lob des Sozialstaates (‚in Deutschland muss niemand verhungern‘ – was übrigens nicht stimmt) steht auf einer äußerst prekären Grundlage: Nur wenn die massenhafte Armut der Bevölkerung unterstellt ist, erscheint der Sozialstaat als Segen für die Bevölkerung.[8] Diese Zwangskassen sind also keineswegs Wohltaten des Staates, sondern staatliche Umverteilungsprogramme von den einen Arbeitern hin zu den anderen. Die in Deutschland übliche Aufteilung zwischen dem Arbeitnehmer (Rentenbeitrag etc.) und Arbeitgeber (Lohnnebenkosten) ist hier nur der deutschen Staatsideologie der Sozialpartnerschaft zu verdanken: In den Büchern der Konzerne werden Sozialabgaben wie Lohn unter Personalkosten gehandelt. Ob und in welchem Verhältnis der Arbeitgeber also Rente, Versicherung oder Lohn zahlt, ändert nichts an seinen Ausgaben für die Ware Arbeitskraft als solche.

 

Dabei sollte nicht vergessen werden, aus welchen Gründen der Staat Sozialstaat ist. Das Gesundheitswesen ist eben nicht dazu da, die Menschen vor jeder Art der Beschädigung zu schützen. Ansonsten wären viele Arten der Arbeit, welche bekanntermaßen Burnouts, Lungenschädigungen, Rückenschmerzen, Depressionen, Magengeschwüre etc. erzeugen, grundsätzlich in dieser Form nicht erlaubt. Der Staat ist insofern Sozialstaat, als er den übermäßigen Verschleiß seines Materials zur nationalen Gewinnschöpfung unterbindet. Die Arbeiterinnen werden im Gesundheitswesen des bürgerlichen Staates ebenso behandelt, dass sie arbeitstauglich sind; im Zweifelsfall werden Kinder mit Ritalin ausbildungstauglich gemacht. Damit ihre Nützlichkeit erhalten bleibt wird ihre Gesundheit geschädigt.

 

5.1 Ideeller Gesamtkapitalist

 

Der Sozialstaat ist entgegen linker Mythen auch nicht nur Ergebnis von kämpfenden Arbeiterinnen. Die erste Sozialgesetzgebung in Deutschland und das Verbot der Kinderarbeit ist auch auf die Intervention der Armee zurückzuführen, welche mit dem zerschundenen und kaputtgearbeiteten Menschenmaterial von 16 bis 18 jährigen Proleten kein Heer mehr zu machen wusste und so die Interessen des Staates gefährdet sah. Viele der heute selbstverständlichen Rechte und Freiheiten im bürgerlichen Staat sind aber tatsächlich der organisierten Arbeiterinnenklasse zu verdanken. Nicht zuletzt die Sozialdemokratie hat die Arbeiterinnen zu vollwertigen Bürgerinnen werden lassen und sie politisch gleichgestellt – und damit die Arbeiterbewegung zu einem Teil des bürgerlichen Staates gemacht.

 

 

Der Staat übernimmt als Sozialstaat die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten. Hat der einzelne Kapitalist generell das Interesse, seine Arbeiterinnen möglichst lange für möglichst wenig Lohn arbeiten zu lassen, schafft der Staat durch Arbeitsrechte, Urlaubsrecht, etc. die Möglichkeit, die Arbeiterinnen auf Dauer für den Nutzen des Kapitals zu verwerten. So ist es durchaus Gang und gebe, dass der Staat sich gegen das Interesse einzelner Kapitalisten stellt. Hat jeder einzelne Kapitalist ein Interesse daran, möglichst billig seinen Müll loszuwerden, seine Arbeiter möglichst wenig zu bezahlen und vollen Zugang zu billigen Ressourcen zu haben, widerspricht das den Interessen das Staates. Mit seiner Gewalt zwingt er den Kapitalisten bestimmte Umweltgesetzte auf, damit die Voraussetzung für das Gewinne machen auch weiterhin halbwegs intakt bleibt. Er zwingt Sozialgesetzgebung auf, damit Deutschland auch weiterhin Lohnarbeiter anbieten kann und die Arbeitslosenquote nicht zu niedrig wird (dann würde der Lohn steigen und damit sinken die Profite). Im Ganzen sind aber die Interessen des Staates (Wirtschaftswachstum) kompatibel mit den Interessen der Kapitalisten (Profit) als Klasse was die Phrase vom ideellen Gesamtkapitalisten meint. – Der Staat beschränkt so die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander, um die Konkurrenz als solche überhaupt zu ermöglichen.

 

Ein Staat der Umweltgesetze und Sozialgesetze einführt, ist nicht ein Staat neuen Typs oder ein Staat welcher weniger Gewalt wäre. Gerade mit seinem Gewaltmonopol setzt der Staat die Interessen des Kapitals durch, auch langfristig die Natur und die Menschen als Ressource für die Gewinnschöpfung auszubeuten. Wo der einzelne Kapitalist nur seinen Gewinn sieht, steht der Staat auf dem Standpunkt, die Interessen des einzelnen Kapitalisten zu beschneiden um die dauerhafte Ausbeutung möglich zu machen. So muss der Kapitalist den Staat respektieren als eine Beschränkung seiner Gewinnmöglichkeiten, der gleichzeitig seine Gewinne überhaupt erst auf Dauer ermöglicht. Genauso müssen die Arbeiterinnen den Staat akzeptieren als Grenze ihrer Reproduktionsmöglichkeiten für die Sicherung ihrer Arbeitsplätze der ihnen als Mittel zur Ermöglichung ihres Lebensunterhalts erscheint.

 

II – Nation & Volk

 

Zur Erklärung des Nationalismus halten wir es für unabdinglich, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Nationalismus solche Konjunktur hat, zu kennen. Aufbauend auf den oben dargestellten objektiven Verhältnissen wollen wir also nun die subjektive – nationalistische – Verarbeitung dieser Verhältnisse kritisieren. Um zu erklären, wie Leute auf die Gedanken kommen, ‚ihre‘ Fußballnationalmannschaft zu feiern wie die Verrückten, auch wenn sie sich ansonsten überhaupt nicht für Fußball interessieren, an imperialistischen Kriegen nur auszusetzen haben, dass sie von den USA und nicht von Deutschland dominiert werden, ‚deutsche Wertarbeit‘ gegen die ‚faulen Griechen‘ hochhalten, die Deutschland aussaugen würden, Marco aus dem türkischen Knast holen zu wollen, obwohl sie an den Haftbedingungen in der Türkei sonst überhaupt nichts stört, oder damit anfangen, Ausländer anzuzünden, weil diese Deutschland verschandeln, muss man sich mal ganz grundlegend deren Stellung zur Nation, zu Volk und Vaterland anschauen, weil diese verschiedenen Phänomene allesamt Ausdruck ein und derselben nationalistischen Ideologie sind.

Das möchten wir in diesem Abschnitt tun. 

 

 

Das Volk konstituiert sich als eine Sammlung an Menschen, welche einer gemeinsamen Herrschaft unterworfen sind. So ist auch der Slogan Wir sind ein Volk (welcher die Parole Wir sind das Volk ablöste) der Wiedervereinigung zu verstehen als ein Aufruf, endlich gemeinsam unter einem Staat beherrscht zu werden. Gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte, so die offiziellen Ideologien, sollen erklären, warum Menschen einen deutschen oder polnischen Pass haben (zur Kritik dieser Vorstellung siehe III). Der Nationalismus bezieht sich zumeist auf bereits existierende Staaten, er kann sich aber auch positiv beziehen auf Menschen, welche sich selbst erst noch zum Staat konstituieren wollen; so in Kurdistan oder Korsika. Wo die Kurden sich als Volk abgrenzen gegen die Türken ist zu beobachten, wie sich Menschen gegen ihre Herrschaft als Kollektiv verstehen, das sich einer anderen (angestrebten) Herrschaft zugehörig fühlt – in diesem Falle einer nicht existenten kurdischen Regierung und einem kurdischen Staat. Die Idee der gemeinsame Geschichte und Sprache soll eine Schicksalsgemeinschaft unterstellen, welche alle Menschen einer Nation sind.

 

1.0  Deutsch sein

 

Entgegen der populären Vorstellung, dass der Staat eine Art Organisationsinstrument des Volkes ist, dass es also zuerst voneinander unterschiedene Völker und Kulturen gibt, die sich dann einen Staat geben, verhält sich die Sache in Wahrheit umgekehrt:  

 

Dass man hier überhaupt ‚als Deutscher‘ rumlaufen kann, verdankt sich keinem Naturverhältnis, sondern der Staatsangehörigkeit. Was im deutschen Wort (‚Angehörigkeit‘ – man gehört einem Staat an) so schön ausgesprochen ist: Seine Identität als Deutscher verdankt man einer Gewalttat des Staates, der in seinen Gesetzen genau festsetzt, wann jemand in seine Nationalität (und damit Unterworfenheit unter seine Herrschaft) einsortiert wird und wann nicht. Am Beispiel des Elsass kann man sich das gut verdeutlichen: Wer heute dort geboren wird, ist Franzose. Aber jeder weiß, wären die militärischen Auseinandersetzungen der Staaten Ende des ersten Weltkrieges anders verlaufen, würde das Gebiet heute zu Deutschland gehören. Ob die Leute dort als Franzosen oder als Deutsche gelten, ist einfach Produkt der gewalttätigsten Form staatlicher Auseinandersetzungen, nämlich ein Ergebnis des Krieges. Ob jemand Deutscher, Franzose, Italiener, Kolumbianer oder Russe ist hat einfach nichts mit seiner Natur oder seinem ‚kulturellen Umfeld‘ zu tun, sondern ist Ergebnis dessen, dass ein Staat in seinen Gesetzen festlegt: Diese und jene Leute gehören zum Staatsvolk (in Deutschland entscheidet per Gesetz das Blut der Eltern, in Amerika z.B. der Geburtsort).

 

Man kann auch umgekehrt sehen, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation nichts mit der Biologie von Menschen zu tun hat: Hat man eine Leiche vor sich, lässt sich an dieser an keiner Stelle herausfinden, ob die Person türkisch, chinesisch oder spanisch war. Gerade darin, dass man nur am Pass von Leuten sehen kann, welche Nationalität sie haben, wird offensichtlich, dass diese Nationalität nichts vorstaatliches ist, sondern von Staaten in die Welt gesetzt wird – denn es sind immerhin Staaten, die Pässe ausstellen. Das bedeutet, dass auch die Nationalität von Menschen in erster Linie ein Herrschaftsverhältnis ist: Ein Staat setzt fest, wer zu seinem Volk gehört, also seinen Gesetzen zu gehorchen hat und von ihm beherrscht wird. Man wird als Baby auf die Welt geschmissen, hat noch nicht mal einen eigenen Willen und Bewusstsein, schon kriegt man ein Papier verpasst, auf dem die Nationalität des Kindes festgehalten ist: Deutscher zu sein ist eine Zumutung und in keinster Weise ein ‚Privileg‘ – denn es bedeutet nichts anderes als Untertan dieses Staates zu sein.

 

Umgekehrt erklärt sich das Vorhandensein unterschiedlicher Nationalitäten und Völker also aus der Existenz vieler staatlicher Gewaltapparate auf der Welt und die Existenz von Staaten ist nicht auf die ‚Unterschiedlichkeit‘ von Völkern zurückzuführen. Fragt man allerdings stolze Deutsche, vaterlandstreue Gesellen, warum sie es gut finden, deutsch zu sein, verstehen diese die Frage in der Regel überhaupt nicht: ‚Ich bin doch Deutscher‘ – die Nationalität wird im Bewusstsein dieser Leute zu ihrer eigenen und selbstverständlichen Identität, die sie im Kopf abtrennen von der Instanz, die ihre Nationalität in Wirklichkeit in die Welt setzt (der Staat). Sie stellen sich ihr Deutsch-Sein als ihre höchstpersönliche Eigenschaft vor, die nichts mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie leben, zu tun hätte. Deswegen finden es viele Leute auch so komisch, wenn man sie fragt, warum sie Deutschland für eine gute Sache halten: Im Kopf dieser Leute ist das gar keine Frage der subjektiven Bekenntnis, sondern ein Teil ihrer Identität. Es ist allerdings schon Produkt einer Verstandesleistung, wenn Leute das Verhältnis von Staat und Nation in ihrem Kopf umdrehen und die Staatsbürgerschaft für das wesentliche am Menschen halten: Wir sind doch eine Gesellschaft, haben zusammenzustehen und uns in Solidarität miteinander zu üben – jenseits und ganz vor jeder Gesellschaftsanalyse ist diesen Leuten klar, dass die deutsche Gemeinschaft auch ein Gemeinschaftswerk ist, bei dem jeder seinen Teil beizutragen hätte damit es dann auch allen gut gehe[9]. Allerdings sagt die Nationalität eines Menschen eben nichts über seine Interessen und seine Stellung in der Gesellschaft aus. In der Regel sind es doch zumeist die Volksgenossen, die einen in Form von Chefs ausbeuten und in Form von deutschen Personalabteilungen nicht einstellen. Ist es doch das deutsche Arbeitsamt, das einem die Zahlungen aus verschiedensten Gründen nicht genehmigt; der deutsche Vermieter, der einem die Miete erhöht und der deutsche Unternehmer, der einen vom vorhandenen Reichtum ausschließt.

 

Klassenwidersprüche und –gegensätze werden so auf eine perfide Art und Weise durchgestrichen. In der Regel wird überhaupt nicht geleugnet, dass es unterschiedliche und widersprüchliche Anliegen in der Gesellschaft gibt – allerdings wird ihre Existenz nicht zum Ausgangspunkt einer Gesellschaftskritik gemacht, sondern zum allgemeinen Problem der Harmonie in der Volksgemeinschaft (‚sozialer Frieden‘). Dass Arbeiter und Unternehmer verschiedene Interessen haben, ist allgemein bekannt und in der Institutionalisierung von Gewerkschaften auch rechtlich anerkannt. Wie wird ihr Widerspruch aber öffentlich verhandelt? "Es sind Gewerkschafter und Unternehmer, die gemeinsam für die Sicherheit der Arbeitsplätze arbeiten.“[10] – ihr ganzer Gegensatz wird im Sinne des deutschen Erfolges einfach zum eigentlichen Gemeinschaftswerk umgedichtet.

 

Wer sich also als Abhängiger in diesen Verhältnissen positiv dazu stellt, Deutscher zu sein, macht einen folgenreichen Fehler: Deutscher zu sein ist keine Garantie dafür, im Krankheitsfall versorgt zu werden und allgemein ein gutes Leben zu haben. Deutsch zu sein bedeutet, auf diesen Staat und seine Zwecke verpflichtet zu sein. Diese reichen von Auslandseinsätzen für welche man das Menschenmaterial abgibt über Energiegewinnung, an deren Endprodukten man sich vergiftet bis zu jenem einen Zweck, für den alles andere nur jeweils Mittel sind: Kapitalvermehrung in den eigenen Grenzen.

 

Diese Kapitalvermehrung findet immer auf dem Rücken der Arbeiter statt: sind es doch jene, welche den Reichtum erwirtschaften, der dann als nationaler Reichtum ihnen gegenüber tritt. Eine reiche Nation ist also keine Wohltat für die arbeitenden Leute, sondern Indikator dafür, wie sehr sie geschuftet haben für den Reichtum anderer. Umgekehrt ist eine arme Nation auch schlecht für den Arbeiter: Bietet doch eine Volkswirtschaft, die am Ende ist, kaum noch Möglichkeiten, sich für andere nützlich zu machen und damit an das notwendige Geld zum Überleben zu kommen.

 

 

 

 

2.0 Gemeinwohl

 

Das Volk ist jenes Kollektiv von Menschen, das der Staat unter seine Herrschaft stellt und hernimmt für seine Interessen. Dass ‚das Volk‘ sich als einheitliches Kollektiv sieht, das zusammengehört, finden wir zunächst mal verwunderlich: Verfolgen doch die Mitglieder des Volkes ganz verschiedene, gegensätzliche und sich ausschließende Interessen. In einer Gesellschaft der allgegenwärtigen Konkurrenz ist es eigentlich eine richtige Merkwürdigkeit, die anderen Konkurrenten nicht nur als Gegner wahrzunehmen, sondern immer auch als solidarische Mitglieder des gleichen Gemeinwesens. Die Vorstellung, Politik und Wirtschaft seien Ausdruck eines gesellschaftlichen Gemeinschaftswerkes, ist in großen Teilen der Bevölkerung aber gerade richtig durchgesetzt. Der allgegenwärtige Titel hierfür ist das ‚Gemeinwohl‘. Von Hinz und Kunz ist jeder für das Gemeinwohl und befürchtet gleichzeitig dessen Schädigung durch omnipräsente Egoisten. Die Politik und die Medien machen aus der Frage des Gemeinwohls ein richtiges öffentlich inszeniertes Streitspektakel: Das ganz grundsätzliche Misstrauen gegenüber jedem Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nicht im Sinne des Gemeinwohls, sondern nur für seine eigenen privaten Interessen zu handeln, füllt ganze Zeitungen.

 

Dabei sollte man sich schon mal die Frage vorlegen, worin dieses Gemeinwohl eigentlich bestehen soll: Das gemeinsame Wohl in dem Sinne, dass alle Interessen innerhalb der Gesellschaft einfach zusammengezählt würden, kann es nicht sein. Ist durch die allgemein gesetzte Konkurrenz doch der Nutzen des einen immer der Schaden des Anderen – wie könnte Gemeinwohl da einfach meinen, dass es jedem gut geht? Vom Standpunkt des Gemeinwohls muss von den einzelnen Interessen innerhalb der Gesellschaft abgesehen werden – und umgekehrt stellt sich so jeder stets auch seinen eigenen individuellen Nutzen vor, wenn er ans Gemeinwohl denkt. Unterschiedliche bis gegensätzliche Interessensgruppen machen nie einfach ihre Interessen vorstellig, sondern behaupten stets, dass ihr Interesse ganz besonders wichtig wäre für das Gemeinwohl im Land – also gut für alle und somit besonders legitimiert. Gewerkschaften z.B. meinen, höhere Löhne wären nicht nur gut für Arbeiter, sondern im Sinne des Gemeinwohls überhaupt die Bedingung für einen funktionierenden Laden (Stichwort ‚Kaufkrafterhöhung‘) – Unternehmensverbände widersprechen vehement und verkaufen ihr Profitinteresse als durch das Gemeinwohl legitimiert (weil vom Profit ja auch die Arbeitsplätze abhängen). Mieter behaupten, niedrigere Mieten wären gut für das Gemeinwohl, für Vermieter hingegen ist klar, dass die Senkung von Mieten nicht nur ihre Einnahmen, sondern auch das Gemeinwohl gefährden. So soll und darf jeder im Land munter seine Interessen herausplaudern – aber nie wird das Interesse selbst als Argument für die Sache verkauft, sondern stets der Gedanke, dass dieses bestimmte Interesse ganz besonders berechtigt ist, weil es einen Nutzen für eine ganz andere Sache bringt – gut für Deutschland ist. So relativieren sich die verschiedenen Interessen immer auch an der Frage, ob sie gemeinwohlverträglich sind: Spätestens nach einer Woche Streik reicht es auch mal mit dem Egoismus von Arbeitern, die mit ihrer Arbeitsverweigerung Deutschland gefährden. Alle sollen sich zurücknehmen, um an das Gemeinwohl zu denken. Dann ist allerdings die Vorstellung, dass das Gemeinwohl auch das Wohlergehen jedes einzelnen meint, ein innerer Widerspruch: Wenn alle ihre Interessen zurückstecken müssen, um ihre Interessen hinterher zu befriedigen, hätte man das Zurückstecken bleiben lassen können und die Operation wäre vollkommen sinnlos.

 

Es verhält sich aber gerade umgekehrt: Die Vorstellung des Gemeinwohls ist eine äußerst gewalttätige Angelegenheit und bedeutet für die meisten Leute hierzulande nichts Gutes. Was vom Gemeinwohl übrigbleibt, wenn es die Befriedigung aller Interessen nicht sein kann, ist ein Herrschaftsprogramm. Die Politik verpflichtet alle Interessen innerhalb der Gesellschaft, sich auf sie, auf den Staat, auf Deutschland und den nationalen Erfolg zu beziehen. Daran werden sie hoheitlich gemessen: Weil zu hohe Löhne schlecht für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind, haben die damals regierenden Demokraten Anfang der 2000er mit der Agenda 2010 und HARTZ IV umfassende Verarmungsmaßnahmen eingeleitet, die zu einem Zweck in der Welt sind: Deutschland voranzubringen. Das bekannte gängige Lob, dass Deutschland aufgrund unschlagbar niedriger Lohnstückkosten besonders gut in der Staatenkonkurrenz dastünde, beweist, dass die Verarmung der Lohnabhängigen die Bedingung für den wirtschaftlichen Erfolg des kapitalistischen Standortes ist – ganz im Sinne des Gemeinwohls[11].

 

Die Politik gibt den Bezug aller Interessen auf den nationalen Erfolg vor – und von unten wird er genauso beantwortet. Weil die Leute das Vorurteil über die Verhältnisse haben, in ihnen müssten sie schon zurechtkommen, wenn sich nur alle ein wenig zurücknehmen würden, behaupten viele Arbeiter auch, ihre miesen Lebensverhältnisse könnten niemals im Sinne des Gemeinwohls sein. Damit geben sie ihr völliges Unverständnis darüber bekannt, was es in einer Gesellschaft der Klassenwidersprüche bedeutet, alle gegensätzlichen Interessen auf den Erfolg der Nation zu beziehen und zu verpflichten. Dass Leute notwendig in dieser Gesellschaft zu kurz kommen, ist kein Mangel, sondern ein Ergebnis des Standpunkts des Gemeinwohls. Und welche Interessen am Ende gelten, entscheidet ohnehin die Politik in einem hoheitlichen Akt.

 

Der Ruf nach dem Gemeinwohl, dem sich alle unterzuordnen haben, hat somit auch nichts mit der Überwindung von widersprüchlichen Interessen zu tun, sondern ist die Grundlage für ihr Fortbestehen. Nur wenn Arbeiter das Interesse der Kapitalisten nach Geldvermehrung im Grunde anerkennen (Deutschland muss vorankommen) und die Kapitalisten das Lebensrecht der Arbeiter nicht angreifen (faire Löhne für faire Arbeit) und die Gewerkschaften Rücksicht nehmen auf ihre Tarifpartner, kann eine Klassengesellschaft ohne ständige massive Kämpfe existieren. Die Konflikte bestehen natürlich fort – aber immer wieder befriedet durch die gemeinsame Unterordnung unter die Nation und ihr Gemeinwohl. Da die Produktion von kapitalistischem Reichtum allerdings mit den Zwecken das Staates konform geht, ein gutes Leben für die lohnabhängigen Massen allerdings nicht auf der Agenda Deutschlands steht, kommt der Kapitalist bei dieser Unterordnung wesentlich besser weg als der Fließbandarbeiter.

 

 3.0  Nationalismus

 

Unter Nationalismus wird in der Regel so etwas wie eine ‚übersteigerte Vaterlandsliebe‘ verstanden, die sich nicht mehr gesittet und demokratisch, sondern übertrieben bis faschistisch geltend macht. Der ‚böse Nationalismus‘ wird abgegrenzt vom ‚guten Patriotismus‘ (zu dieser Unterscheidung und was von ihr zu halten ist, gibt es noch einen extra Abschnitt im Anhang zu diesem Text.) Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Wir halten diese Trennung für Unsinn. Denn was für ein Bewusstsein von sich und der Welt im Nationalismus übersteigert wird, spricht sie nicht aus. Sie erklärt nichts, sondern setzt den gewünschten positiven Bezug auf sein Vaterland ins Recht gegen den ungewünschten, schädlichen. Wenn wir von Nationalismus sprechen, meinen wir damit keine ‚Übersteigerung‘ von etwas, das eigentlich in Ordnung geht. Sondern den spezifischen Inhalt der Stellung zu Volk und Nation, die Nationalisten wie Patrioten gemeinsam haben: Ich bin als Deutscher für meine Nation und meine Nation für mich verantwortlich.

 

Den Ausgangspunkt davon bilden die wirklichen Lebensverhältnisse der Leute, in die sie von Staats wegen gesetzt sind: Auf die Welt geschmissen und definiert als Staatsangehörige, als Mitglieder des Volkes, sind alle genötigt dazu, sich in der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft zurechtzufinden und durchzusetzen. Sie werden mit den bürgerlichen Freiheiten, mit Gleichheit und mit dem Recht auf Eigentum ausgestattet und sind somit alle darauf verpflichtet, an das fürs Leben notwendige Geld zu gelangen – in Konkurrenz zu anderen. Alle Menschen, die nicht bereits über Produktionsmittel und damit über eine Geldquelle verfügen, sind allen Willfährigkeiten und Härten des Gelderwerbs ausgesetzt, die wir im ersten Teil dieses Textes zum bürgerlichen Staat dargelegt haben. Diese sind immer wieder auf sich als Privatsubjekte zurückgeworfen – ob und wie gut sie dabei materiell über die Runden kommen, ist überhaupt nicht garantiert, sondern hängt immer von der Frage ab, ob jemand aus und mit ihnen ein Geldvermehrungsgeschäft anstellen kann. Wenn Leute ihr Leben und Treiben dann einrichten mit dem festen Willen, in diesen Verhältnissen zurechtzukommen, machen sie dabei den ersten Übergang zu einer gedanklichen Verdrehung der Verhältnisse: Die Härten der Klassengesellschaft werden uminterpretiert in Chancen und Möglichkeiten, für sich das Beste herauszuholen. Lohnarbeitsverhältnisse werden nicht als das gewürdigt was sie sind – nämlich Ausbeutung zum Zweck der Vermehrung fremden Eigentums – sondern als Möglichkeit, sein Leben in dieser Gesellschaft einzurichten. Menschen legen sich die Verhältnisse vor, als ob sie dazu da wären, mit ihnen zurechtzukommen[12]. Ich darf mir meine Interessen aussuchen, das dafür nötige Geld erwerben und in Schule, Ausbildung und Betrieb beweisen, dass ich die Bezahlung auch wert bin. In sämtlichen Bereichen, vom Wohnen über Ausbildung zu Ernährung, Familienplanung und Arbeit ist die Lebensorganisation der allermeisten Leute von der einen Frage bestimmt: Wie muss ich mich anders verhalten, welche Möglichkeiten muss ich wahrnehmen, welche Chancen ergreifen, damit es mir gut geht?! Diese praktische Fragestellung (die sich jeder vorlegen muss) ist fatal, wenn sie davon ausgeht, dass die Welt von Arbeit und Erwerb eine praktikable Möglichkeit zur Organisation des eigenen Lebens darstellt (wahlweise auch eine ‚eigentliche‘ Möglichkeit, die aufgrund widriger Umstände nicht zum Zug kommt). Denn dort geht es nie um das individuell erfolgreiche Leben, sondern immer um die konkurrenzmäßige Vermehrung von Eigentum in fremder Hand – für das die Angestellten nur Mittel sind.

 

Diese Verdrehung der Verhältnisse, ihr komplettes auf-den-Kopf-Stellen ist mehr als eine falsche Überlegung, die sich Leute machen. Sie ist genau die Art von Bewusstsein, die den objektiven Verhältnissen entspricht. Legt man sich die kapitalistischen Lebensverhältnisse mit ihren ganzen beinharten Gegensätzen auf die Art und Weise, wie wir es hier getan haben, sachlich vor, erscheint es als absolutes Rätsel, wie Leute massenhaft auf den Trichter kommen, in der kapitalistischen Gesellschaft würde es um ihren Erfolg gehen. Aber vom praktischen Lebensbezug ist auch niemand so drauf, dass er sich die Verhältnisse erst mal analytisch vornimmt und daraus seine Schlüsse zieht. Vielmehr ist jeder darauf verpflichtet, sich eine Arbeit zu suchen, sich dafür zu qualifizieren und den eigenen Erfolg in Konkurrenz zu anderen anzustreben. Weil die staatlich festgesetzten Konkurrenzbedingungen von Geld & Eigentum die einzigen sind, in denen man seine Interessen verfolgen darf, denken sich die Leute, dass diese Bedingungen für ihren Erfolg auch taugen müssten. Es steht einem nämlich gar nicht zur Auswahl, welches Mittel man als Lohnabhängiger für seine eigenen Interessen denn einsetzen kann, sondern man ist alternativlos darauf verpflichtet, sich mit seinem ganzen Körper, Willen und Bewusstsein den Anforderungen des Marktes zu unterwerfen, um überhaupt eine Arbeit zu kriegen, also sich die Möglichkeit zu sichern, in dieser Gesellschaft über die Runden zu kommen. Wenn man das will, ist auch die Umdeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur tauglichen Bedingung des eigenen Erfolgs kein Kunststück mehr. Diese geistige Verdrehung der Verhältnisse hat wohl ihren Grund in der wirklichen Abhängigkeit der Leute von den objektiven Verhältnissen, aber eine subjektive Verstandesleistung ist sie in Wirklichkeit ebenso. Man muss Lohnarbeit, Geld und Eigentum schon für taugliche Mittel halten, um in dieser Gesellschaft nicht jeden Tag auf die (geistigen) Barrikaden zu steigen.

 

Mit dieser Umdeutung der staatlich verfassten Gesellschaft als der Sphäre, in der es um den individuellen Erfolg der Leute ginge, erscheint diesen Leuten somit auch der Staat als eine außerordentliche Dienstleistung an der Gesellschaft. Schließlich ist es der Staat, der die Möglichkeit zum Gelderwerb garantiert, der übermäßiges Konkurrenztreiben eindämmt, der mit Arbeitsschutzgesetzen und Sozialgesetzgebung, Steueramt, Ausbildungswesen und öffentlicher Sicherheit dafür Sorge trägt, dass das auch geht. Die vom Markt abhängigen Konkurrenzsubjekte stellen sich positiv zum Staat, weil er es ist, der ihnen ihre Existenz ermöglicht und garantiert und die dafür notwendigen Bedingungen schafft – wobei mit der Aufrechterhaltung der Konkurrenz der individuelle Erfolg der Konkurrenztreibenden natürlich überhaupt nicht garantiert ist. Das ist die erste Form des Nationalismus: Staatsbürger, die den Staat dafür schätzen und ihm dankbar dafür sind, die allgemeinen Bedingungen ihrer Existenz als kapitalistisch Konkurrenz-Treibende aufrecht zu erhalten. Sie danken es dem Staat, dass sie dürfen, was sie in Wirklichkeit müssen. Solche Leute verteidigen ihren Staat auch, notfalls mit der Waffe in der Hand am Hindukusch oder als Polizisten an der Heimatfront[13]. Sachlich betrachtet, treten solche verkehrten Gedanken an jeder Stelle auf: Z.B. schätzen und danken Arbeitslose es ihrem Staat, dass er sie in seinem Sozialstaat nicht verrecken lässt. Stattdessen könnten sie zur Kenntnis nehmen, dass es der Staat mit seiner Gewalt erst ist, der sie darauf verpflichtet, sich auf dem Markt als Arbeitsvieh für die Vermehrung fremder Profite feilzubieten – und ihre Existenz somit auch davon abhängt, ob jemand Profit aus ihnen schlagen kann. Dass also der Staat mit seiner Gewalt sie erst in die miese Lage bringt, von seinen Sozialleistungen abhängig zu sein.[14] Oder es gibt Arbeiter, die dem Staat dankbar sind für Arbeitsschutzgesetze. Anstatt zu bemerken, dass es der Staat selbst ist, der mit seiner Garantie der kapitalistischen Produktionsweise sicherstellt, dass die Arbeiter auch die ganze Zeit durch spezielle Rechte und Gesetze geschützt werden müssen.

 

Der nationalistisch Denkende bleibt an dieser Stelle allerdings nur selten stehen. Es ist nämlich der Staat, den man auf der einen Seite schätzt für die Garantie der allgemeinen Bedingungen der Konkurrenz. Das Vor-Urteil, in diesen Verhältnissen müsste man schon zurechtkommen, wird nämlich meistens begleitet von der bitteren Erfahrung, dass in diesen Verhältnissen eigentlich niemand so richtig zurechtkommt. Das Scheitern ist die omnipräsente Erfahrung, die fast jeder in der bürgerlichen Gesellschaft macht: Das in der Arbeit verdiente Geld reicht selten zum guten Leben, oft kaum zum Überleben, familiäre und persönliche Tragödien werden zu privaten Lebenskatastrophen der Leute, mit denen sie sich rumschlagen müssen – obwohl sie Ergebnis der staatlich installierten Konkurrenz sind. Das Scheitern führt allerdings in den wenigsten Fällen zur Aufgabe des verkehrten Vor-Urteils. So tritt bei den Leuten das Vor-Urteil, in diesen Verhältnissen müsste man doch (eigentlich) zurechtkommen, gleichzeitig auf mit den widersprüchlichen Erfahrungen, dass es mit dem Zurechtkommen doch nie so recht klappen will. Und Nationalisten verarbeiten diese schlechten Erfahrungen eben auf nationalistische Art und Weise: Weil sie glauben, der Staat und die Nation müssten doch eigentlich ein gutes Mittel zum Fortkommen für sie sein, sich das in der Realität aber nie einstellt, schwingen sie sich auf als Kritiker und bemängeln, dass der aktuelle Staat ein ganz mieses Mittel zum Fortkommen sei, weil er von irgendwelchen Kräften daran gehindert würde, seiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen. Er ist für sie Mittel und Schranke ihres Erfolgs in einem: Mittel ist er, weil er die Möglichkeit und Bedingungen ihres Erfolgs garantiert, Schranke ist er, weil die Konkurrenztreibenden immer feststellen, dass der Staat ihren Erfolg in Wirklichkeit nie garantieren kann. Weil Nationalisten an ihrem verkehrten Vor-Urteil festhalten, der Staat müsste doch ein Mittel für sie sein, können sie sich ihre schlechte Lage nur aus einer Schwäche des Staates erklären – er würde von hinterlistigen, jüdischen, egoistischen oder ausländischen Interessen an seiner eigentlichen Aufgabe gehindert. So machen sich Nationalisten ständig auf die Suche nach Schuldigen: Schmarotzende Arbeitslose, gierige Manager, egoistische Konkurrenten oder Fremdkörper in Form von Ausländern würden den nationalen Erfolg madig machen. Wahlweise liegt die Erklärung dann in einem maßlosen ‚Egoismus‘, in der ‚Natur‘ von Ausländern oder darin, dass Leute im Auftrag von ‚fremden Nationen‘ unterwegs wären und somit ohnehin schon immer eine Untergrabung des deutschen Erfolgs betreiben würden. Das ist die zweite Form des Nationalismus. Und hier ist eigentlich klar: Wer so drauf ist, sich den nationalen Erfolg zum persönlichen Erfolgsmaßstab zu setzen, in der Realität aber immer wieder die harten Erfahrungen der Konkurrenz erleidet, ist auch schnell dabei, sich allerlei absurde Vorstellungen über Menschen anderer Nationalität zu machen und in letzter Konsequenz gegen ‚das Ausland‘ zu hetzen oder Asylantenheime anzuzünden.

 

Diese Art und Weise, sich nationalistisch zur Welt zu stellen, kennt unzählige Fortsetzungen, Ausdrucksweisen und Verlängerungen. Es muss auch nicht immer jeder gleich Asylantenheime anzünden, aber als mögliche Verlängerung steckt das in dem positiven Bekenntnis zu Volk & Vaterland allemal mit drin. Ist einer erst mal so drauf, die ganzen Machenschaften von Politik und Kapital unter nationalistischem Blickwinkel zu betrachten, wird dann auch die ganze Welt mit der nationalen Brille beurteilt: Egal ob Lena in Oslo, die deutschen Fußballer bei der WM, der Krieg im Irak, die europäische Krisenpolitik oder die ‚Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme‘, jedes Ereignis wird beurteilt unter dem Fingerzeig: ‚Und was hat Deutschland davon?‘ – Um diesen Fehler, der ganz schön brutale Konsequenzen für die davon Betroffenen hat, aus der Welt zu schaffen, muss man solche Leute kritisieren. Denjenigen, die sich die Klassengesellschaft als Gemeinschaftswerk vorstellen, bei dem jeder seinen Teil beizutragen hätte und dann auch gemäß seinem Stand anerkannt und seinen Teil zu kriegen hätte, muss man die Widersprüche und Gegensätze dieser Gesellschaft unter die Nase reiben, man muss ihnen klar machen, dass sie in der Konsequenz nur ihren eigenen Schaden betreiben, wenn sie sich positiv auf eine Nation beziehen, die ihren Erfolgsweg darin hat, ihre Untertanen auf kapitalistische Art und Weise für den nationalen Erfolg in Anspruch zu nehmen.

 

III. Anhang zur Ideologie von Staat, Nation & Volk

 

1. Der historische Beginn der Nation

 

Der Begriff der Nation in seiner heutigen Bedeutung bildet sich im 18. Jahrhundert. Die Nation ist keine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit sondern entsteht und wächst gleichzeitig mit der Durchsetzung des Kapitalismus; so findet sich unter dem Stichwort nación  im Wörterbuch der Königlich-Spanischen Akademie vor 1884 einfach „die Gesamtheit der Einwohner einer Provinz, eines Landes oder eines Königreiches.“ Erst nach 1884 findet sich die moderne Begriffsdefinition: „ein Staat oder eine politische Körperschaft, die eine höchste gemeinsame Regierungsinstanz anerkennt“ sowie „das durch diesen Staat und seine einzelnen Einwohner in ihrer Gesamtheit gebildete Territorium“. Vorher war das gemeinsame Territorium geografisch zu verstehen und wohl nur in den seltensten Fällen auch politisch eine Einheit.  Auch das Wort patria war so lange Zeit nur bezogen auf den Ort oder die Gemeinde, in der jemand geboren wurde; 1884 findet sich in der Definition zum ersten Mal der Staat.

 

Die Idee des Nationalstaates, also eines Staates welcher sich als organisatorischer Ausdruck einer Nation versteht, ist also jünger als der Staat selbst. Hier finden wir empirische Ansatzpunkte dafür, dass es der Staat selbst ist, der durch seine Geschichtsschreibung den nationalen Mythos produziert, um seine eigene Herrschaft zu legitimieren. Es gibt keine Nation ohne Fälschung der Geschichte.

 

1.2 Deutsche Mythen – von der Varusschlacht

 

Die deutsche Nation verdient als Ideologie zum deutschen Staate, derjenigen Herrschaft der wir hierzulande ausgeliefert sind, zumindest einen eigenen Unterpunkt.

 

Als im Jahre 9 der Cheruskerfürst Arminius gegen den römischen Senator und Feldherr Publius Quinctilius Varus im teutoburger Wald eine militärische Offensive begann und gewann, konnte er sich wohl kaum vorstellen, damit einmal zu einer der größten Begründungsmythen der Deutschen zu werden.

Arminius selbst war bei den Römern aufgewachsen und ausgebildet worden, nachdem er als Kind zu den Römern entführt wurde. Der Historiker Dieter Timpe zeigte dabei, dass die Armee des Arminius höchstwahrscheinlich unter römischem Eid stand[15]. Historiker wie Heiko Steuer sehen die Varusschlacht, in welcher Arminius die Stämme der Marser, Chatten, Angrivarier und Brukterer zu einem Bündnis überzeugen konnte, heute also eher als einen Aufstand römischer Militärs.

 

Dieser Verrat eines römischen Offiziers an Varus wird 2009 in einer Rede Merkels zum Initiationsritus der deutschen Nation und sogar der europäischen Union: „[...] Nach der Niederlage zog sich das Römische Reich zurück, sodass der Einfluss der römischen Hochkultur auf die Germanen östlich des Rheins endgültig erstarb. Die Ausstellung geht der Frage nach, warum bei den Germanen, die eigentlich die Sieger waren, keine Ruhe einkehrte, warum sie weiterhin permanent Krieg führten. So spannt die Ausstellung einen Bogen bis ins 5. Jahrhundert und versucht auszuloten, welche Bedeutung das Thema Konflikt und Krieg in den germanischen Gesellschaften hatte. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass wir heute glücklicherweise in einer friedlichen Zeit leben. Allerdings haben wir das als Germanen eben auch nicht aus eigener Kraft geschafft, sondern es hat des europäischen Gedankens bedurft.“[16] Unerwähnt bleibt hierbei auch, dass viele Teile des heutigen Süddeutschlands weiterhin unter römischem Protektorat standen. Eine Geschichte der „Deutschen“ gibt es eben erst seit es Deutschland gibt, „wir als Germanen“ soll eine geschichtliche Kontinuität herstellen, die es nicht gibt.

 

Um aus dieser Schlacht den Beginn einer Nation zu machen, muss die Geschichtsklitterung gut funktionieren: von 1838 bis 1875 wird das Hermannsdenkmal gebaut, das an eben jenen Arminius erinnern soll; Hermann einfach weil es deutscher klingt. Verschwunden sind die römischen Wurzeln, die Intrigen und der politische Verrat des Cheruskerfürsten. Dafür neu hinzu gekommen die Inschrift auf seinem Schwert:

 

DEUTSCHE EINIGKEIT MEINE STAERKE
MEINE STAERKE DEUTSCHLANDS MACHT

 

Die Umdeutung der Geschichte in eine nationale Geschichte die hier exemplarisch am Hermann dargestellt ist, beginnt also genau zu der Zeit, als der moderne Kapitalismus sich Bahn bricht und moderne Nationalstaaten in ganz Europa entstehen. Nach der Reichgründung 1871 bekommt die Kolossalstatue gleich noch einen Spruch gegen den Erbfeind hinzu – kein Nationalismus ohne Chauvinismus:

 

Nur weil deutsches Volk verwelscht und durch Uneinigkeit machtlos geworden, konnte Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen, mit Hilfe Deutscher Deutschland unterjochen; da endlich 1813 scharten sich um das von Preußen erhobene Schwert alle deutschen Stämme ihrem Vaterland aus Schmach die Freiheit erkämpfend. Leipzig, 18. Oktober 1813 – Paris, 31. März 1814 – Waterloo, 18. Juni 1815 – Paris, 3. Juli 1815.

 

Wie gezeigt wurde, hat die Varusschlacht also mitnichten etwas mit jenem teutschen Wesen zu tun, welches der Grund sein soll für deutsche Grenzen, deutsche Küche und deutsche Kultur.

 

2. Der historische Beginn des Volkes

 

Das Volk ist keine natürlich gewachsene Einheit sondern wird durch besondere ökonomische Kräfte gebildet. Die Vorstellung, Völker seien ethnische Gruppen von Menschen, die durch gemeinsame Sprache, Kultur oder biologische Merkmale über hunderte von Jahren in der Geschichte zu beobachten seien, ist eine Lüge: 

„Was immer man im 3. Jahrhundert im Königreich des Cniva unter der Bezeichnung ‚Gote’ verstanden haben mag – die Realität eines Goten im Spanien des 6. Jahrhunderts sah, was Sprache, Religion, politische und soziale Organisation, ja sogar Abstammung betrifft, vollkommen anders aus. Eine ebenso unermessliche Kluft unterschied die Franken, die im 4. Jahrhundert von Kaiser Julian geschlagen wurden, und jene, die Chlodwig im 6. Jahrhundert in die Schlacht folgten. Das gleiche gilt für die Römer, deren Transformation in derselben Phase nicht weniger dramatisch verlief….Namen waren erneuerbare Ressourcen und besaßen das Potential, Menschen von Kontinuität zu überzeugen, selbst wenn die gelebte Realität durch radikale Diskontinuität geprägt war.“[17]  

Der Versuch, das Volk als natürlich gewachsene Gemeinschaft darzustellen, ist eine Legitimationsstrategie für den Staat, der dann als ‚Organisationsstruktur‘ dieser natürlichen Volksgemeinschaft auftritt.

 

3. Sprache – der Harte der Kern einer Nation und des Volkes?

 

Es gibt keine Nation ohne Fälschung der Geschichte. So ist auch die gemeinsame Sprache der jeweiligen Nation nicht Grundlage für die Konstituierung eines gemeinsamen Staates gewesen, sondern der Staat selbst mit seiner Gewalt hat durch den Schulzwang erst die gemeinsame Sprache eingeführt. Hierzu ein längeres Zitat von Eric Hobsbawm:


„Regionalsprachen, die keine Bildungssprachen sind, bilden stets einen Komplex aus lokalen Varianten oder Dialekten, zwischen denen eine Verständigung mehr oder weniger leicht möglich ist, je nach geographischer Nähe und Zugänglichkeit. Einige können vor allem in Bergregionen, die eine Abtrennung begünstigen, so unverständlich sein, als gehörten sie einer anderen Sprachfamilie an. Es gibt in den betreffenden Ländern Witze über die Schwierigkeiten der Nordwaliser, das Walisisch der Südwaliser zu verstehen. Oder der gegischsprechenden Nordalbaner, sich mit den toskischsprechenden Südalbanern zu verständigen. Für Philologen mag die Tatsche, daß das Katalanische dem Französischen näher steht als das Baskische, von Bedeutung sein, doch für einen Seemann aus der Normandie, der sich zum erstenmal in Bayonne oder Port Bou aufhält, mögen beide Sprachen gleichermaßen unverständlich sein. Bis auf den heutigen Tag haben gebildete Menschen mit Deutsch als Muttersprache, die beispielsweise aus Kiel stammen, unter Umständen die größten Schwierigkeiten, selbst gebildete Schweizerdeutsche zu verstehen, die jenen rein deutschen Dialekt sprechen, mit dem sie sich tagtäglich mündlich unterhalten.


Demnach gab es in der Zeit vor der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht keine gesprochene >>Nationalsprache<<, und es konnte sie auch nicht geben, abgesehen von jenen Bildungs- oder Amtssprachen, wie sie für den mündlichen Gebrauch geschrieben, entworfen oder angepaßt wurden, entweder als Verkehrssprache, in der die Sprecher von Dialekten miteinander verkehren konnten, oder – was die Sache vielleicht eher trifft – als Sprache, in der Massen von Zuhörern mit unterschiedlichen Dialekten angesprochen wurden, z.B. von Predigern oder Sängern und Rezitatoren von Liedern und Gedichten, die einen umfassenderen Kulturgebiet gemeinsam waren. […] Mit anderen Worten, die aktuelle oder prosaische >>Muttersprache<<, d.h. Das Idiom, das Kinder von ungebildeten Müttern lernten und für den Alltagsbedarf sprachen, war zweifellos in keiner Hinsicht eine >>Nationalsprache<<“[18]

 

Die Sprache als Grundlage einer Nationenbildung ist also ausgeschlossen  - viel eher verhält es sich umgekehrt. Ein Staat schafft mit seiner Gewalt eine oder mehrere Sprachen, welche als Amtssprachen durchgesetzt werden und in den Schulen gelehrt werden. Der Staat verbietet bestimmte Dialekte oder Sprachen (Lange Zeit Gälisch in Irland oder kurdisch in der Türkei).

 

4. Die Nation als Ideologie des Staates: Patriotismus und Nationalismus

 

Der Nationalist bezieht sich in aller Regel positiv auf die Herrschaft der er unterworfen ist und damit das Volk erst erschafft. Die Ausnahme von dieser Regel ist z.B. in Deutschland der Nazi: Dieser sieht in dem real existierenden Staat einen Verrat an dem „wirklichen“ Deutschland, und zieht so als Konsequenz aus seinem Nationalismus eine Gegnerschaft zur BRD; allerdings nur um eine noch konsequentere Herrschaft über sich und das restliche Volk einzufordern.

 

Der Nationalismus der Nazis entpuppt sich an dieser Stelle als enttäuschter Patriotismus, der eben dem Wesen nach gar nichts anderes ist als die bürgerliche Vaterlandsliebe. Beide wollen das Beste für die Nation; die einen durch diesen Staat, die anderen durch einen neuen Staat. Die von bürgerlicher Seite viel beschworene Unterscheidung in guten Patriotismus und schlechten Nationalismus ist keine Unterscheidung in der Sache, sondern soll den ‚schlechten Nationalismus‘ ins Unrecht setzen gegen den ‚guten Patriotismus‘. In diesem Kontext stellen sich gerade Demokraten oft als die besseren Deutschen hin: Dass die Faschisten „Deutschland schon einmal zugrundegerichtet haben“ ist ein anerkanntes Argument in der Debatte.

 

Beide sehen ihre Nation für sich als Mittel zum Vorankommen. Der schlechte Nationalismus wirft dem existierenden Staat glatt aus Vaterlandsliebe Verrat am deutschen Auftrag vor, sein größter Traum ist es, dienstbar zu sein: Er entkoppelt seinen Nationalismus vom bestehenden Staat und wünscht sich einen anderen, einen Volksstaat. Das ist für den existierenden Staat natürlich nichts wünschenswertes; zeigt aber zuerst die gleiche Denkstruktur wie der gute Patriotismus. Die Nation ist für beide dasjenige, das man voranbringen will. Der gute Patriot erkennt dabei, in gewissen Grenzen, durchaus auch Ausländer als Mittel an, die man in Form von Greencards oder per Asylantrag ins Land holen kann – wenn sie für Deutschland nützlich sind. Der schlechte Nationalist hingegen sieht das Interesse seiner Nation dann realisiert, wenn eine homogene Volksgemeinschaft durchgesetzt ist. In den Mitteln und Wegen sind sich beide also uneinig – im Ziel, das nationale Interesse durchzusetzen, sind sie sich einig.

 

Die guten wie die bösen Nationalisten messen am nationalen Wohl. So sagte Gauck in seiner Weihnachtsansprache: „Kürzlich hat mir eine afrikanische Mutter in einem Flüchtlingswohnheim ihr Baby in den Arm gelegt. Zwar werden wir nie alle aufnehmen können, die kommen. Aber Verfolgten wollen wir mit offenem Herzen Asyl gewähren und wohlwollend Zuwanderern begegnen, die unser Land braucht.“ Der Unterschied zwischen den Nazis und den Demokraten ist nicht, an welcher Messlatte Menschen hier sortiert werden, sondern wie bewertet wird; Für den Demokraten ist klar, dass es Zuwanderer gibt, die unser Land braucht. Wo unser Land sie nicht braucht, ist für beide klar: Wir werden nie alle aufnehmen können.

 

5. Wir sind der Staat

 

Alle Staatsbürger eines Staates bilden sein Volk. Der Staat beschränkt die Macht und die Gewalt auf wenige Institutionen. Es sind einzelne Staatsbürger, die Funktionen innerhalb der Institutionen kurzfristig wahrnehmen. Diese Personen sind austauschbar und der große Teil des Volkes besteht aus beherrschten Privatpersonen, also Vereinzelten, die dem Zwang der Verhältnisse ausgesetzt sind. Der Zweck jeder Institution steht fest. Die Schule und die Universität müssen selektieren, die Gerichte müssen Straftäter verurteilen und Geschädigte verteidigen, die Polizei muss das Recht des Staates mit Gewalt durchsetzen. Die Bürger, die eine solche Funktion wahrnehmen, sind darin nicht handlungsfrei, sondern durch den Zweck der Institution an die Ausübung ihrer Pflicht gebunden. Der Zweck des Staates ist die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen.

 

 „Wir sind der Staat“ unterstellt das Volk als Souverän, welches die Grundlage für das Gewaltmonopol des Staates ist. Das Volk ist allerdings eine Abstraktion von allen Interessen, welche die konkreten Menschen in ihren Charaktermasken als bürgerliche Subjekte haben. Ist die eine Vermieterin und will hohe Mieten für ihre Häuser verlangen, ist der zweite Lohnabhängiger und will viel Lohn für wenig Arbeit. Jede Partei die sich aufmacht den Staat zu übernehmen, muss also diese verschiedenen Interessen in Form von Gesetzen regeln und befrieden. Das Volk, als Deutsche, hat also gar kein gemeinsames Interesse, sondern zerfällt in sich widersprechende Einzelinteressen. Werden diese als Volk zusammengefasst, wird aber gerade ein Gesamtinteresse konstruiert: Das deutsche Interesse an einem starken Deutschland, an starken deutschen Betrieben und einer starken deutschen Wirtschaft, einer Wirtschaft, von der am Ende alle profitieren.

 

Ist die deutsche Wirtschaft aber gerade nur ein anderer Ausdruck für die starke Profitsteigerung deutscher Unternehmen, wird das Volk sehr schnell als Mittel erkennbar: Der Prolet tritt bei dem Versuch der Profitsteigerung gerade als Lohnabhängiger nur als Kostenfaktor auf. Die Profitsteigerung bedeutet gerade eine Kürzung des Lohnes im Verhältnis zu den Gewinnen. Das deutsche Interesse, das Staatsinteresse ist in diesem Sinne durchaus Volksinteresse: Wer hier allerdings Volk sein will und stolz verkündet „Wir sind das Volk!“ stellt sich damit auf die Seite, die ihn selbst nur als Kostenfaktor sieht und auch dementsprechend im nationalen Interesse immer das gleiche verkündet: „Wir müssen den Gürtel enger Schnallen!“ – Wenn Krise ist, dann damit wieder Konjunktur eintritt, wenn Konjunktur ist, damit man den wirtschaftlichen Erfolg nicht gefährdet.

Würden die Menschen ihre eigenen materiellen Interesse durchsetzen wollen, so täte der Großteil des Volkes gut daran, sich nicht stets als Vertreter des ‚eigentlichen‘ Volksinteresses aufzuspielen, sondern die Konstruktion des Volkes mal hinter sich zu lassen.

 

6. Ohne Staat herrscht der Kampf alle gegen alle!

 

Die bürgerliche Ideologie wird nicht müde zu behaupten, dass die Menschen ohne Staat nichts Besseres zu tun hätten, als sich gegenseitig tot zu schlagen. Diese Idee kommt aus einem einfachen Fehler heraus. Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Widersprüchen wird nur am Laufen gehalten durch das staatliche Gewaltmonopol. Ohne Justiz, Polizei und Knast als konkreter Ausdruck der Staatsgewalt würden die Menschen sicher weder arbeiten gehen, noch in den Supermärkten für die Lebensmittel bezahlen, noch in den Luxusläden für die Autos und Schmuckstücke. Sie stellen sich die Frage vor, wer noch Miete zahlen würde, wenn er einfach wohnen könnte wo er will, weil es keine allgemeine Gewalt gibt, die ihn heraus prügelt, wenn er es nicht tut.

 

Die Bürgerinnen stellen sich also weiterhin eine bürgerliche Gesellschaft vor, in der die Menschen für den Nutzen anderer Menschen arbeiten sollen und dabei selbst vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen sind. Die Bürgerinnen haben sogar recht, wenn sie das für absurd halten: Niemand würde sich von jemand anderem ausnutzen lassen, wenn er nicht dazu gezwungen wird. Das sagt viel über die bürgerliche Gesellschaft aus: Würde der Staat mit dem Gewaltmonopol nicht jeden Einzelnen ruhig halten, würde jeder eigentlich ganz anders handeln: Er würde nicht arbeiten gehen für andere, würde keine Miete zahlen und sich nehmen was er zum Leben haben will.

 

Die Bürgerinnen haben mit diesem Gedankenexperiment, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist, viel mehr über die bestehende Gesellschaft ausgesagt als über eine mögliche andere. In der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft muss es verboten werden, seinen Chef tot zu schlagen, weil der Prolet ihm täglich ausgeliefert ist. Die Ware Arbeitskraft hat nicht nur die Besonderheit, dass sie die einzige Ware ist, deren Gebrauchswert darin besteht, Werte zu produzieren, die mehr wert sind als der Wert der Ware Arbeitskraft selbst, sondern auch, dass der Arbeiter mit dem Verkauf seiner Arbeitskraft sich selbst 8 Stunden oder mehr am Tag seinem Arbeitgeber ausliefert (natürlich  im rechtlichen Rahmen versteht sich). Hier entsteht erst das reale Interesse des Proleten, seinen Chef totzuschlagen.

 

Dem Schutz vor Diskriminierung und Mobbing ist ebenfalls keine Aussage über die Natur des Menschen zu entnehmen. Ohne staatlich organisierte Konkurrenz ist die Notwendigkeit im Konkurrenzkampf zu siegen obsolet.

 

Es geht hier also nicht darum, den Menschen als per se moralisches Wesen darzustellen, das durch den Staat pervertiert würde. Viel eher sollte begriffen werden, dass die Menschen innerhalb einer Konkurrenzgesellschaft ihre Interessen durch die Schädigung anderer Interessen durchsetzen müssen. Damit die Konkurrenz aber funktioniert, müssen sie sich bei diesem Kampf an bestimmte Regeln (Gesetze) halten. Da der Staat diese Konkurrenz erst ermöglicht, ist die reine Abstraktion des Staates unter Beibehaltung einer Konkurrenzgesellschaft, die nur durch den Staat existiert, reiner Quatsch. Eine Gesellschaft ohne Staat sollte es ermöglichen, dass der Mensch seine Freiheit durch die Freiheit des anderen verwirklicht. Die Durchsetzung seines Interesses steht also nicht mehr im Widerspruch zu dem Interesse der anderen.

 

7. Der Staat setzt das durch, was die Bürger wollen

 

Jede Form der Herrschaft basiert darauf, dass etwas durchgesetzt wird, was die Beherrschten nicht wollen. Die Herrschaft des Staates wäre überflüssig, würde er nur das durchsetzen, was die Bürger ohnehin tun würden. Die Regierung über die Menschen ist aber nicht möglich, wenn die Bürger sie nicht akzeptieren, und in der Herrschaft ein Mittel sehen, mit dem sie ihre eigenen Interessen durchsetzen können. Und so ist es üblich, dass die Bürgerinnen, sofern sie Lohnarbeiterinnen sind, über jede Steuererleichterung für Betriebe schimpfen, aber im gleichen Atemzug mehr Arbeitsplätze fordern und den Staat mit dieser Forderung konfrontieren. So sehen die Bürgerinnen den Staat, der ihnen als Einschränkung tagtäglich begegnet, gleichzeitig als Mittel für ihre eigenen Interessen. In der Konkurrenzgesellschaft, welche der Staat aufrecht erhält, sieht der Bürger nicht nur seine eigene Einschränkung, sondern immer auch die Möglichkeit für sein eigenes Gewinnen, wenn die Interessen seiner Klasse, seines Milieus oder Berufstandes nur endlich über die der anderen gestellt werden würden.



[1] Diese Tatsache wird gerne geleugnet unter Hinweis darauf, dass wir schließlich in einem demokratischen Staat leben, in dem das Volk seine Regierung selbst wählen darf. Eine ausführliche Behandlung der Wahlen können wir an dieser Stelle nicht leisten, aber man sollte sich schon mal vergegenwärtigen, was bei der Wahl eigentlich zur Wahl steht und was nicht: Das Herrschaftspersonal darf von den Staatsbürgern bestellt und ausgewählt werden, aber dass man ständig einer Herrschaft über sich ausgeliefert ist, steht nie zur Wahl – und so steht das abstrakte Ergebnis jeder Wahl auch vor ihr fest: Dass weiterregiert wird.

[2] Dies hat auch zur Folge, dass sich viele Menschen prinzipiell positiv zur Lohnarbeit stellen, als scheinbare Naturnotwendigkeit um an die gewünschten Lebensmittel zu kommen. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass in dieser Gesellschaft nichts produziert wird, damit ein Bedürfnis befriedigt wird. Die Bedürfnisse der Menschen sind nur der Hebel um sie zu erpressen, Waren zu verkaufen und damit Gewinn zu machen. Wenn eine Ware keinen Gewinn abwirft, wird sie nicht mehr produziert, egal wie viele Menschen ein Bedürfnis nach der Sache haben, die da produziert wird. Lohnarbeit bezeichnet also nicht die Naturnotwendigkeit Dinge zu produzieren die gesellschaftlich benötigt werden, sondern die Dienstbarmachung fremder Arbeitskraft.

[3]  Die prinzipielle Schädigung aller anderen Interessen muss überhaupt nicht auf bösem Willen beruhen, sondern an der Art und Weise, wie Interessen in dieser Gesellschaft verfolgt werden: als Eigentumsinteressen, konkret als Geld-Interessen.

[4] Es gibt, v.a. bei linken Gesellschaftskritikern, den beliebten Vorwurf, die Ideale von Freiheit und Gleichheit seien noch nicht (oder nicht ausreichend) verwirklicht oder gar im Kapitalismus überhaupt nicht zu verwirklichen. Dagegen meinen wir erstens, dass die Nicht-Übereinstimmung eines sich selbst ausgedachten Ideals mit den wirklichen Verhältnissen noch lange keinen Einwand gegen diese darstellt. Und zweitens sind die miesen Lebenssituationen der meisten Leute in dieser Gesellschaft Konsequenzen der wirklichen Geltung von Freiheit und Gleichheit und alles andere als ein Hinweis auf deren mangelnde Verwirklichung.

[5] D.h., dass es aufgrund der gleichen rechtlichen  Geltung des Prinzips des Eigentums für jeden sehr darauf ankommt, was für eine Art von und wieviel Eigentum jemand in seinem wirklichen Leben besitzt, ob jemand einen Besitz an Grund und Boden hat, geerbt hat oder eben als Arbeiter oder Arbeitsloser vor sich hin siechen darf – Eigentümer sind sie alle.

[6] Ausnahmen sind z.B. betriebliche Berufsausbildungen, bei denen junge Leute gerne als besonders günstige Arbeitskräfte ausgebeutet werden können.

[7] Das soll nicht bedeuten, dass die Schüler zu willenslosen Ja-Sagern manipuliert würden. Im Gegenteil, die modernen Demokraten legen großen Wert darauf, dass die heranwachsenden Staatsbürger mit Wille und Bewusstsein Ja sagen zu diesem Staat: Alles soll und darf kritisiert und auf seine moralische Richtigkeit überprüft werden, schließlich lernt man schon in der Schule das makabre Gebot der Konstruktivität: Wie ließe sich dieses Gemeinwesen mit seinen kapitalistischen Einrichtungen denn noch besser verwalten?

[8] Gesellschaftlich hergestellt ist die Armut der Leute hierbei gerade durch die kapitalistische Einrichtung der Gesellschaft durch ebenjenen Staat, der als Sozialstaat dann die allerschlimmsten Folgen der Armut abmildert.

[9] Das hat den Charakter eines Vor-Urteils, einer Unterstellung, die die Leute nicht unbedingt als bewusstes Urteil in ihrem Kopf haben müssen, die sie aber geleistet haben müssen und auf die man sie stoßen kann, wenn man sie mal sachlich danach fragt, worin das gemeinsame Anliegen von Kapitalist und Arbeiter denn liegen soll.

[10] Merkel Neujahrsansprache 2013

[11] Denn ‚niedrige Lohnstückkosten‘ bedeuten nichts anderes, als dass die Kosten für Arbeit – also der Lohn, von dem die Leute leben müssen – besonders niedrig sind, die Leute besonders wenig von dem von ihnen produzierten Reichtum haben.

[12] Darin liegt auch die Möglichkeit zu folgendem Übergang: Klappt etwas in meinem Leben nicht, bin ich schuld.

[13] Unsere Kritik bezieht aber natürlich nicht in erster Linie auf diese Verlängerungen, für den Nutzen des Staates auch mal das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, sondern auf den zugrundeliegenden Gedanken – es werden ja auch nur die wenigsten Nationalisten Soldaten oder Bullen.

[14] In Zeiten von HARTZ IV geht die Kritik allerdings meistens andersherum: Wie kann mein Staat mich als Deutschen nur so verwahrlosen lassen?! – Weniger verkehrt wird sie dadurch nicht.

[15]    Unter anderem würde dies erklären, warum auf dem Schlachtfeld Kalkriese, dem wahrscheinlichsten Ort der Varusschlacht, ausschließlich römische Waffen gefunden wurden.

[16] Aus der Rede Merkels zur Eröffnung einer Ausstellung über die Varusschlacht: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2009/05/58-3-bkin-auss...

[17] Geary, zitiert nach Hobsbwam, J. Eric 1992: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780.

[18] Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus, S. 65f.

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

Hauptkritikpunkt an eurem Text ist, daß er Untertanenmentalität transportiert. Es gibt keinen Vertrag zwischen Bürger und Staat, daher auch keine daraus an sich resultierende "Verpflichtung". Durch den Nationalismus soll geradezu so etwas wie eine Verpflichtung erst moralisch hervorgebracht werden, das sagen die konservativen Protagonisten des Nationalismus selber auch ganz offen. Dann sind gegenwärtig in Deutschland (mindestens) zwei Nationalismen zu beobachten: ein "westlicher", der sich auf Deutschlands Stärke in der Welt bezieht, und ein "östlicher", der Deutschlands essentialistisches Wesen als ein biologisch-kulturelles Volk (auch ihr begreift das nicht als eine politische Kategorie) bewahrt und sich selber versorgt sehen will.

 

Mit einer Kritik, die den Bürgern die objektive Verantwortung dafür, in was für einem Staat sie leben, abspricht, kann der Staat im Übrigen offensichtlich ganz gut leben (siehe Bayern mit jahrzehntelanger absoluter CSU-Herrschaft), sonst würde er wohl kaum diese Kritiker als Professoren in seinen Dienst stellen.

 

Demgegenüber stellt sich das Verhältnis von soziokulturellem Leben, ökonomischen Zwängen und Staat folgendermaßen dar: Der Bürger lebt sein Leben, ohne dazu vom Staat extra "verpflichtet" worden zu sein, und er steht vor der Aufgabe, darein die ökonomischen Zwänge, die er als sachliche wahrzunehmen gelernt hat, irgenwie zu integrieren. Nicht etwa, weil er dazu "verpflichtet" jetzt wieder wäre, sondern weil er darüber seine Teilhabe an den materiellen Werten der Gesellschaft sicherzustellen sucht. Besitzt er kein Kapital, garantiert ihm allein das Entgelt seiner Arbeitskraft ein Äquivalent dieser Werte. In diesen Verhältnissen ist, wie ihr richtig bemerkt, der Staat bereits enthalten. Ein Nationalismus ist soweit nicht erforderlich. Der Nationalismus kommt durch die Behauptung in's Spiel, es gebe eine weitere, nämlich politische Methode, wie er an dem allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum teilhaben könne, für dessen Produktion er seinen Lohn bereits erhalten hat und auf den er darüber hinaus keinen Anspruch hat: dieses sei die Methode der "gerechten" Umverteilung.

 

Der Bürger hat also erfolgreich produziert, seinen Lohn erhalten, und die Produkte, die er produzierte, gehören nun demjenigen, in dessen Auftrag er sie herstellte. Und nun wird kontrafaktisch gesagt, außer seinem Lohn, den er bereits erhalten hat, habe er einen weiteren Anteil an dem Produkt, dem "Mehrprodukt", das ihm gar nicht gehört. Und Mittel für ihn, dieses zu erreichen, so der Nationalismus, sei die Politik. (Um es deutlich zu sagen: Es spricht gar nichts dagegen, sich in die Aufstellung der Regeln des Verkehrs, also die Politik, einzumischen. Allerdings sollte man dies nicht mit der Erwartung der Teilhabe am Mehrwert verbinden.)

 

(vgl. MEW 23, S. 179ff.; K. Marx, Lohnarbeit und Kapital (1849), Dietz Berlin 1970, S. 25 u. S. 43f., sowie das Vorwort von F. Engels zur Wiederauflage 1891, S. 14 - hier zeigt sich, daß F. Engels als einer der ersten bürgerlichen deutschen Nationalisten zu gelten hat!)

1.) Wo genau entdeckst du die Untertanenmentalität in unserem Text?

2.) Wie kommst du darauf, dass wir von einem Vertrag zwischen Bürger und Staat ausgehen? Wie sollte so ein Vertrag überhaupt aussehen, wo der Staat doch selbst das Gewaltmonopol ist, dass über der Einhaltung der Verträge wacht. Die Verkehrsform zwischen Staat und Bürgern ist das Gesetz, nicht der Vertrag (siehe dazu u.a. 1.0).

3.) Es gibt keine zwei Nationalismen, sondern eine Sache die da beschrieben wird: Der positive Bezug auf das ganze, auf das Volk und die Herrschaft als Einheit, die zusammen gehört: Ich bin als Deutscher für meine Nation und meine Nation für mich verantwortlich. Dazu gibt es allerdings ganz viele verschiedene Ideologische Bebilderungen (Völkische, liberale, sozialistische, meinetwegen auch östliche) und verschiedene Konsequenzen: Die faschistische Einforderung eines wirklichen Volksstaates und die demokratische Affirmation dieser Herrschaft.

4.) Du behauptest, nicht "weil er dazu "verpflichtet" jetzt wieder wäre, sondern weil er darüber seine Teilhabe an den materiellen Werten der Gesellschaft sicherzustellen sucht" würde der Bürger hier eben sein Leben leben und sich Arbeit suchen etc. Damit unterschlägst du die mit staatlicher Gewalt hergestellte, vorgefundene Situation, durch das Privateigentum von allem getrennt zu sein was man zu leben braucht, und sich überhaupt Arbeit suchen zu müssen.

5.) "Der Nationalismus kommt durch die Behauptung in's Spiel, es gebe eine weitere, nämlich politische Methode, wie er an dem allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum teilhaben könne, für dessen Produktion er seinen Lohn bereits erhalten hat und auf den er darüber hinaus keinen Anspruch hat: dieses sei die Methode der "gerechten" Umverteilung." Wie bereits oben beschrieben, beginnt der Nationalismus nicht erst bei seiner (oft) linken Spielart, diese Verhältnisse immanent zu kritisieren, und seinen gerechten Anteil zu fordern. Der Nationalismus findet seinen Ursprung eben in der ganz grunsätzlich Annahme, es gäbe ein Allgemeinwohl, welches das Wohl jedes Einzelnen beinhaltet (siehe dazu die Überschrift Allgemeinwohl). Das führt zu dem Gedanken, man wäre eine Gemeinschaft die jenseits aller Widersprüche (Kapital/Arbeit; Mieter/Vermieter; Käufer/Verkäufer) gemeinsame Interessen habe.

Zur Form nur eines: Es ist eine schlechte Angewohnheit, immer seinen Blickwinkel zur Kritik zu schreiben: Du willst ja etwas zum Staat sagen, also Objektiv über den Gegenstand, und wo wir uns geirrt haben; nicht nur sagen, dass man es auch marxistisch sehen könnte (als eine unter vielen Möglichkeiten). Also ist es unangebracht deine Kritik mit dem Adjektiv marxistisch zu versehen, wenn es dir doch darum geht, dass wir uns geirrt haben, was der Staat ist. Also liegt es näher anzunehmen, dass du uns streitig machen willst, dass wir Marxisten sind. Das widerrum ist irgendwie kindisch - jenseits der Argumente darüber streiten, wer des heiligen Grahles würdig ist...

"Es ist eine schlechte Angewohnheit, immer seinen Blickwinkel zur Kritik zu schreiben: Du willst ja etwas zum Staat sagen, also Objektiv über den Gegenstand, und wo wir uns geirrt haben; nicht nur sagen, dass man es auch marxistisch sehen könnte"

 

Es ist eine gute und notwenige Angewphnheit seinen Blickwinkel zur Kritik zu schreiben. Eine "objektive" Sicht auf soziale Phänomene gibt es nicht. Das ist der beste Weg in den Dogmatismus.

Wenn er/sie an manchen Punkten zu anderen Einschätzungen kommt und dafür die eigene "marxistische Perspektive" verantwortlich macht, ist es mehr als legitim, dass auch so zu schreiben. Es wäre dann zu klären, was damit im konkreten Fall gemeint ist.

 

Aber das ist jetzt auch eher als kleine Randbemerkung und nciht als fundamentale Kritik gemeint.

4.) Du behauptest, nicht "weil er dazu "verpflichtet" jetzt wieder wäre, sondern weil er darüber seine Teilhabe an den materiellen Werten der Gesellschaft sicherzustellen sucht" würde der Bürger hier eben sein Leben leben und sich Arbeit suchen etc. Damit unterschlägst du die mit staatlicher Gewalt hergestellte, vorgefundene Situation, durch das Privateigentum von allem getrennt zu sein was man zu leben braucht, und sich überhaupt Arbeit suchen zu müssen.

Dass es eine mit staatlicher oder sonstiger Gewalt hergestellte Situation gibt, mit der man umgehen muss, ist aber einfach keine Verpflichtung. Verpflichtung bedeutet einen Auftrag, einen Befehl - unter Androhung einer Strafe (wenn wir mal nur über die Fälle reden, wo man sich nicht selbst zu irgendwas verpflichtet). Und das ist beim diskutierten Gegenstand nicht der Fall, weil: Der Staat zwingt einen nicht, arbeiten zu gehen etc. Natürlich würdet ihr jetzt sagen: Ja, so direkt tut er das nicht, aber indirekt halt dann ... Der Punkt ist aber: das ist halt keine Verpflichtung. Sonst müsste man analog dazu sagen, dass die Bourgeoisie in Russland die Bolschewiken damals "verpflichtet" hat, sie zu bekämpfen, denn sie hat ja auch mit ihrer Gewalt eine Situation hergestellt, in der man Bürgerkrieg führen musste. Das ist Unsinn. So weit, so billig.

 

Das ganze Herumgeeiere mit dem Begriff der Verpflichtung rührt in meinen Augen daher, dass ihr einerseits anerkennt, dass so etwas wie eine eigenständige Urteilsbildung beim Menschen vorliegen muss, dass er "die ökonomischen Zwänge, ... als sachliche wahrzunehmen gelernt hat", wie dein Vorredner schreibt, gleichzeitig aber den Staat als den unbewegten Beweger, das Grundübel, von dem dann das ganze andere Übel ausgeht, darstellen wollt. Deswegen verpflichtet der Staat die Menschen zwar, aber so eine richtig direkte Pflicht ist es dann auch wieder nicht, eher eine auf Umwegen ... Dadurch wird der Begriff "Verpflichtung", wie er in eurem Text gebraucht wird, zwar hart unsinnig. Aber über diese Unsinnigkeit geht man gerne hinweg, so lange die Botschaft stimmt: Der Staat knechtet die Leute ... irgendwie. Hat schon ästhetische Qualitäten, der Text :-D

Wenn man mal ernst nimmt, dass das Leben und Bewusstsein der Menschen so aussieht, wie er aussieht, weil sie die kapitalistische Umgebung als sachliche Vorbedingungen ihrer Lebensäußerungen wahrnehmen, dann ist es übrigens auch ziemlich egal, wie diese Umgebung zustande kommt. Ob sie mit staatlicher Gewalt errichtet wurde / wird oder sonst woher kam, tut der Erklärung nichts hinzu.

 

Und zur staatlichen Gewalt: Diese Gewalt, wenn sie als Garantie des Privateigentums auftritt, hat ein Interesse nach demselbigen Privateigentum zur logischen (und historischen) Voraussetzung, die unterstellt also, dass Bürger schon ein ganz bestimmtes Leben leben wollen. Garantieren kann man nur das, was schon da ist und nach einer Garantie verlangt. Die staatliche Gewalt (wie Gewalt überhaupt) verhilft einem gesellschaftlichen Interesse zu seiner Verwirklichung, keineswegs schafft sie es (durch Verpflichtung etc.).

 

Das Schlimmste ist: Euer ganzer Text hat mit Nationalismus kaum etwas zu tun. Ihr erklärt vielleicht, mehr schlecht als recht, warum Bürger einen bürgerlichen Staat gut und nützlich finden. Nationalismus ist aber etwas anderes als ein staatsbürgerliches Bewusstsein. Das kann man sich empirisch klar machen, indem man sieht, dass es Nationen ohne Staat gibt (Basken, Juden vor der Gründung Israels), dass es Völker gibt, die kein nationales, aber ein Volksbewusstsein haben (Schwaben), dass es Staaten gibt, die mehrere Nationen regieren (United Kingdom) oder dass Nationen sich nicht immer bürgerlich organisieren (Sowjetunion). Das kann man sich auch begrifflich klar machen, weil der Nationalismus eine Spaltung der Menschheit in verschiedene Gruppen impliziert, Bürgerlichkeit jedoch nicht: in einem brügerlichen Weltstaat gäbe es auch staatsbürgerliches Bewusstsein aber keinen Nationalismus. Anstatt sich zu fragen, wie der Staat dafür sorgt, dass seine Untertanen ihn mögen, wäre es besser gewesen, zunächst mal zu klären, was Nation und Volk überhaupt sind (Kleiner Tip: Das sind keine ideologischen Konstruktionen, keine "Einbildungen", sondern soziale und politische Gebilde.)

"zu fragen, wie der Staat dafür sorgt, dass seine Untertanen ihn mögen:"

genau das sind die Themen von Gegenstandpunkt. Einer Organisation, die in viele Unistädte hinein ihre Flugblätter aus München verteilt und als Lila_fee große Pseudoerklärungen abgibt.

Nie an Kämpfen beteiligt ist, die Praxis links unten vor Ort basht und möglichst zersetzt und eigentlich nichts anderes tut als lapidare Kommentare abzugeben.

Klar haben solche Leute nichts gegen Nationalismus, sondern gegen Emotionen, gegen Empörte, gegen revolutionäre Subjektivität.

Der GSP imitiert die in marxistischen Gruppen früher als schlechte Angewohnheit und Identität verbreitete Umgangsform, die eigene Rhetorik hermetisch abzusichern vor einer Verbreitung.

Alle diese Beiträge sind nicht geeignet für soziale Bewegungen, sondern für deren Stilllegung.

feministische Arbeiterinnen haben da nix von.

Ich bin enttarnt. Durch wochenlange Recherche hat "anonym" herausgefunden, dass der Gegenstandpunkt lauter geheime Pseudonyme in die Linksradikale geschmuggelt hat, um diese von innen zu zersetzen. Damit sie dann aber doch erkannt werden, posten sie nicht jedes mal unter verschiedenen Pseudonymen, sondern haben sich über die Jahre immer dem gleichen bedient: Lila_Fee! Von keinem größeren Wunsch sind diese alten Männer aus München beseelt als vor dem Ende ihrer Tage noch die letzte Bastion der Autonomen brennen zu sehen. Überall scheinen sie ihr Ziel erreicht zu haben - Überall?

Nein! Eine Gruppe tapferer Krieger auf Indymedia hält sich im Kampf gegen die intellektuelle Übermacht der grauen Bände durch die Methode der "Enttarnung" die man sich in der Antifaarbeit angeeignet hat. Wo auch immer man eine Staatsanalyse erblickt, einen Artikel über "Reichtum und Armut" im Kapitalismus, eine Kritik der bürgerlichen Individuuen oder eine Ableitung des Rassismus, da wissen diese Sorte Linksuntenkommentatoren: S i e sind wieder da und wollen u n s die Praxis versauen. Da wird erst gar nicht der Inhalt geprüft und mit Argumenten kritisiert: Da muss mit dem Finger gezeigt werden: V o r s i c h t! Marxist!

 

P.s.: Tatsächlich haben "feministische Arbeiterinnen" erstmal nichts von einer richtigen Kritik des Staates. Was soll man davon auch bekommen außer ein paar richtigen Argumenten? Das es gerade k e i n e Praxis zur Erkenntnis gibt, dass der Staat weggeschafft werden muss, liegt ja daran, dass die meisten Proleten gar kein Interesse daran haben, sich an dieser praktischen Kritik zu beteiligen. Deswegen müssen wir mehr werden. Mehr werden wir dadurch, dass mehr Leuten die Kritik einleuchtet. Diese Kritik muss also richtig sein und unter die Leute getragen werden. Das versuchen wir zu leisten. Was aber soll der einzelne Arbeiter schon von der Kritik haben? Ein Eis vom ZK bekommen, wenn er die Argumente einleuchtend findet?
 

Alle diese Beiträge sind nicht geeignet für soziale Bewegungen, sondern für deren Stilllegung.

Ach Mensch, du hast mehr Vertrauen auf die zersetzende Kraft der Kritik als der GSP selbst. Wie soll sich eine soziale Bewegung, die einigermaßen klar hat, was sie tut, von ein paar Flugblättern und lapidaren Kommentaren stilllegen lassen? Und wann hat je eine soziale Bewegung sich vom GSP oder sonst von irgendjemand irgendwas sagen lassen, was nicht eh schon zu ihrem bornierten Standpunkt gepasst hat? Dass der GSP irgendwas stilllegen würde, ist eine Vorstellung - die ist so absurd, dass sie nur aus Köpfen kommen kann, für die der GSP, alleine dadurch, dass er nicht das tut, was man selbst tut, zu einem politischen Konkurrenten wird - für die also alles, was auf der Welt passiert, nur noch eine Projektionsfolie ihrer polit-strategischen Ambitionen ist.

 

Und hiermit tust du dem GSP eine großes Unrecht an:

Klar haben solche Leute nichts gegen Nationalismus, sondern gegen Emotionen, gegen Empörte, gegen revolutionäre Subjektivität.

Der Sinn des gesamten Textes besteht darin, Empörung gegen den Staat zu schüren, damit die Menschen sich als revolutionäre Subjekte gegen ihn aufstellen. Das ist zwar ein hehres und brutales Ziel, passt aber nicht sehr mit einer Analyse des Nationalismus zusammen. Daher die ganzen inhaltlichen Ungereimtheiten.