Eine Welle wütender Proteste erschüttert Italien

Erstveröffentlicht: 
13.12.2013

Erst die Bauern, dann die Studenten: In ganz Italien kommt es zu Demonstrationen. Der Zorn richtet sich gegen den Fiskus, das Brüsseler Spardiktat und die etablierten Politiker.

 

Von Tobias Bayer, Mailand

 

Ventimiglia, an der Grenze zwischen Italien und Frankreich. Auf der Brücke über den Fluss Roya marschieren Demonstranten auf. Sie blockieren die Straße. Vereinzelt wird die italienische Fahne geschwenkt, politische Symbole finden sich keine. Lastwagenfahrer, Arbeiter, Händler und Studenten skandieren Parolen. Gegen Kürzungen der Bildungsausgaben, gegen die Müllabgabe, gegen den Wegfall von Steuervergünstigungen. Der Verkehr in Richtung Frankreich steht still. Auf der Via Aurelia, die von Rom bis nach Ventimiglia führt, geht für Stunden nichts mehr. Tausende Autofahrer stecken fest.

 

Mailand. An der Piazzale Loreto, östlich vom Hauptbahnhof der lombardischen Metropole, sind die Traktoren aufgefahren. Auch vor dem Sitz des Regionalparlaments stehen die Motorungetüme. In die Heuballen auf den Anhängern haben die Landwirte weiße Fahnen gesteckt. Auf ihnen haben sie in mehreren Farben Sprüche gegen die Milchquote aufgesprüht.

 

Der Zorn richtet sich gegen die Strafen für diejenigen, die mehr Milch produzieren, als sie eigentlich dürfen. "Ist die Milchproduktion ein Verbrechen?", steht auf einem Bettlaken. Auf der Piazzale Loreto kommt es zu einer Sitzblockade, der Autostrom kommt zum Stehen. Auch Prominente kommen nicht mehr voran, darunter das argentinische Showgirl Belen Rodriguez. Sie kurbelt aufgeregt die Fensterscheibe nach unten und gestikuliert wild mit den Händen.

 

Rauchbomben fliegen in Rom

 

Rom. Die Studenten schreiten vor der Universität Sapienza entlang. Vor sich halten sie Transparente. Auf einem steht mit roter Schrift: "Die Universität ist für diejenigen da, die für sie leben, nicht für diejenigen, die sie zerstören."

 

An der Sapienza findet gleichzeitig eine Konferenz statt. Es geht um die grüne Wirtschaft. Geladen sind unter anderem Finanzministern Fabrizio Saccomanni und Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin. Während die Minister sprechen, eskaliert vor dem Universitätsgebäude die Situation. Rauchbomben fliegen, Sprengkörper gehen hoch. Die Polizei nimmt Anlauf und drängt den Pulk zurück. Später verschiebt sich der Protest vor das Bildungsministerium. Dieses Mal sind es nicht mehr Studenten, sondern Zeitarbeiter, die im Bildungssektor angestellt sind.

 

Durch Italien schwappt diese Woche eine Welle des Protests. Sie zieht sich vom ligurischen Ventimiglia im Nordwesten bis ins apulische Barletta im Südosten. Der Pulk an Demonstranten ist bunt durchmischt.

 

Protest wird über das Netz organisiert

 

Auf die Straße gehen Landwirte, Studenten, Arbeiter, Arbeitslose, Händler und Unternehmer. Bewegungen wie der Black Block oder No Tav, die sich gegen die Schnellzugstrecke von Turin nach Lyon richtet, springen auf. Organisiert wird der Protest über das Internet. Er erinnert an einen spontanen Flashmob. Eine wirkliche Hierarchie ist nicht auszumachen.

 

Die Motivation und die Ziele sind diffus, eine Ideologie steckt nicht dahinter. Gemeinsam ist allen Demonstrationen der Zorn auf die italienische Politik, den Fiskus, das Spardiktat Berlins und das Wehklagen über eine düstere Zukunft.

 

Aus Sicht der Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta und Europas sind die Massendemonstrationen äußerst beunruhigend. Während es in Ländern wie Griechenland und Spanien im Zuge der Wirtschaftskrise zu heftigen Protesten und zu Phänomen wie den Indignados kam, ging es in Italien bislang überraschend ruhig zu. Selbst als das Technokratenkabinett von Mario Monti im Frühjahr 2012 drastische Rentenkürzungen durchsetzte, fanden nur vereinzelt Kundgebungen und Aufmärsche statt. Der Unmut der Italiener über die Spar- und Reformpolitik der Regierung drückten die Italiener nicht auf der Straße, sondern an der Urne aus. Im Februar 2013 machten sie die Protestbewegung Fünf Sterne von Komiker Beppe Grillo zur drittstärksten politischen Kraft im Land.

 

Die Lage für die Regierung ist delikat

 

Die Gefahr besteht nun, dass der Zorn breiter Bevölkerungsschichten nicht länger kanalisiert werden kann und sich über Wochen öffentlich Bahn bricht. Für die italienische Regierung ist die Lage delikat. Noch kann Premier Letta auf eine Mehrheit, bestehend aus Sozialdemokraten, der Partei Nuovo Centrodestra von Vizepremier Angelino Alfano und der Bewegung Scelta Civica, bauen.

 

Am Mittwoch präsentierte er sein Programm für 2014 und überstand eine Vertrauensabstimmung. Doch die Opposition formiert sich und macht sich die Massendemonstrationen zu Nutze. Fünf-Sterne-Anführer Grillo tauchte während der Proteste auf und zeigte sich mit den Demonstranten solidarisch.

 

Ex-Premier Silvio Berlusconi, der die große Koalition mit den Sozialdemokraten aufgekündigt hat, schwenkt mit der wiedergeborenen Bewegung Forza Italia auf einen Anti-Austeritäts- und Anti-Europa-Kurs. Im Blick haben Fünf Sterne und Forza Italia die Europawahlen im Frühjahr 2014.

 

Bedrohung für wirtschaftlichen Aufschwung

 

Für den wirtschaftlichen Aufschwung, der sich in Italien abzuzeichnen beginnt, stellen die Proteste eine Bedrohung dar. Ende 2013 dürfte die italienische Wirtschaft nach einer zweijährigen Rezession wieder wachsen. Laut der Statistikbehörde Istat wurde der Abschwung im dritten Quartal gestoppt.

 

Die Industrieproduktion legte im November den zweiten Monat in Folge zu. Letta hofft auf einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,0 Prozent 2014 und 2,0 Prozent 2015. Doch das könnte sich als zu optimistisch erweisen. Die Ratingagentur Standard & Poor's sagt für das kommende Jahr nur ein Plus von 0,4 Prozent voraus. Für Spanien hingegen prognostizieren die Bonitätswächter 0,8 Prozent. Wachstum ist dringend vonnöten, damit Italien seine Schuldenlast von derzeit über 130 Prozent des BIP senken kann.

 

Gehofft wird nun, dass die Proteste ebenso schnell aufhören wie sie angefangen haben. Der Regierung in die Karten spielen die teilweise bizarren Anwandlungen einiger Demonstranten, die für Unverständnis in den eigenen Reihen sorgen.

 

Im Trubel die Orientierung verloren

 

Unter den Landwirten sticht Danilo Calvani hervor. Der 51-Jährige aus dem Ort Latina in der Region Latium hat sich zu einer Art Sprecher des Bauernprotests gewandelt. Er selbst scheint in dem Trubel ein bisschen die Orientierung verloren zu haben: "Die Leute stoppen mich, umarmen mich, küssen mich, sie fragen mich irgendetwas, das ist ein Durcheinander", sagt Calvani gegenüber Journalisten.

 

Statt auf einem Traktor sitzt er in einem Jaguar und lässt sich von einem Chauffeur von einer Demo zur nächsten kutschieren. Im Netz kommt das luxuriöse Gefährt gar nicht gut an. Calvani redet sich heraus. Der Jaguar gehöre seinem Freund Walter. "Und Walter wurde schon zwangsvollstreckt. Was ist also falsch an dem Jaguar?" Calvanis Frau soll auch sauer sein. Sie hat ihren Danilo auf einigen Bildern mit hübschen Demonstrantinnen gesehen und fürchtet, dass ihrem Mann der Medienrummel zu Kopf gestiegen ist. Der Bauernanführer fürchtet deshalb schon um den häuslichen Frieden: "Heute Nacht fahre ich nach Hause. Das ist besser", sagt er.