[SEK] Offener Brief gegen Sexismus in ländlichen Kommunen

Sexismus bekämpfen

Am Donnerstag den 24.10.2013 hat die Gruppe S.I.L.K.E [Sexismus in ländlichen Kommunen entgegentreten] 1.000 Flugblätter an die Haushalte in der Mittelhessischen Kleinstadt Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis) verteilt. Der Offene Brief kritisiert die (aktuellen) Geschehnisse im Dorf. Denn vor Kurzem wurde in dem Ort bekannt, dass aus einer forensischen Psychatrie entlassener Mann, der dort wegen Sexualdelikte eingesessen hatte, sich im Dorf niedergelassen hat.

 

Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.“
Bertolt Brecht

 

Offener Brief

 

Wir schreiben diesen Brief als Ausdruck unserer Sorge über die Geschehnisse der letzten Wochen in Neukirchen im Schwalm-Eder-Kreis. Neukirchen ist eine Kleinstadt mit etwa 5000 Einwohner_innen. Seit vor Kurzem in dem Ort bekannt wurde, dass ein aus einer forensischen Psychiatrie entlassener Mann, der dort wegen Sexualdelikten eingesessen hatte, sich in dem Dorf niedergelassen hat, kommt Neukirchen nicht zur Ruhe. Immer wieder zogen Demonstrationen besorgter Bürger_innen vor das Haus des Mannes, Kinder wurden von ihren Eltern dazu angehalten sich an dem Sturm von Entrüstung, Angst und Wut zu beteiligen, der Tenor der Protestierenden lautet: „Der soll weg!“

 

In der Lautstärke und Wucht der Auseinandersetzung gehen hierbei die besonnenen Stimmen derer, die ein Innehalten und Nachdenken und einen menschlichen Umgang miteinander fordern, unter. Und andere Stimmen mischen sich unter die der Demonstrant_innen. Sowohl auf der Facebook-Seite der Protestgruppe als auch auf den Demonstrationen selbst tummeln sich aktive Neonazis, wie der Vorsitzende der Jungen Nationaldemokraten und überzeugte Nazi Martin Braun, die mit ihrer Forderung „Todesstrafe für Kinderschänder“ versuchen, eine Plattform für ihr sozialdarwinistisches1 Weltbild zu gewinnen und sich als „Stimme des kleinen Mannes“ darzustellen. Abgrenzungen von den Positionen der Nazis finden hierbei bisher nicht statt, sie wären auch schwer zu vermitteln, herrscht doch über die Forderung „Der soll weg“ zwischen Bürger_innen und Nazis Einigkeit. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sowohl bei Kundgebungen als auch online die Rufe nach der Todesstrafe geduldet werden. Letztlich ist den Protestierenden das Mittel zum Zweck relativ egal, Hauptsache, das Dorf bleibt „sauber“. Die Ereignisse erinnern stark an Vorgänge im Dorf Insel in der Altmark, in dem 2011 über Monate hinweg Gruppen von Dorfbewohner_innen zusammen mit angereisten Nazis, vor dem Haus zweier aus der Sicherungsverwahrung Entlassener protestierten und Pogromstimmung schürten. Aber auch aus anderen Teilen der Bundesrepublik wird immer wieder von ähnlichen Vorfällen berichtet. Wir möchten diesen Brief nutzen, um dieser Stimmung Argumente entgegenzustellen, Nazis und anderen aktiven und geistigen Brandstifter_innen eine klare Absage zu erteilen und diejenigen vor Ort zu bestärken, die sich dem Wüten des Mobs in den Weg stellen.

 

Wir möchten dabei die Sorgen der Einwohner_innen nicht klein reden, sondern vielmehr aufzeigen, wie aus der Sorge um die eigenen Kinder eine Vorsorge vor sexualisierter2 Gewalt wachsen kann, die nicht die Angst der Kinder und Eltern instrumentalisiert und in gewaltvollen Rachephantasien aufgeht, sondern Kinder in ihren Rechten stärkt. Wir wollen dabei auch dem idyllischen Bild, dass sexualisierte Gewalt etwas „Fremdes“, „von außen Kommendes“ ist, eine Absage erteilen und die Alltäglichkeit von sexualisierten Übergriffen, auch in der Kleinstadt, herausarbeiten.

 

 

Unschuld vom Lande

 

Die Demonstrationen in Neukirchen zeichnen ein Bild von Gewalt an Kindern, das so nicht zu halten ist. Ungefähr 90% der bekanntgewordenen Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern werden von Täter_innen begangen, die den Betroffenen bekannt sind. Diese Zahl bezieht sich auf das Hellfeld, also die zur Anzeige gebrachten Taten. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PSK) verzeichnet jährlich ungefähr 16.000 Fälle. Das Dunkelfeld, also die nicht angezeigten Taten, wird bedeutend größer geschätzt. Studien hierzu lassen vermuten, dass auf einen angezeigten Fall von sexuellem Missbrauch an Kindern ca. 10-20 Fälle nicht bekannt werden.3 Im Dunkelfeld ist davon auszugehen das eine noch größere Anzahl an Täter_innen den Betroffenen bekannt sind, da Abhängigkeiten, Scham und die Angst, dass einem nicht geglaubt wird, natürlich deutlich größer sind, wenn statt dem „bösen fremden Mann“ der/die Täter_in ein Familienmitglied oder der/die Nachbar_in ist.

 

Täter_innen nutzen bei sexuellem Missbrauch die Vertrauens-und Machtpositionen, die sie gegenüber den Betroffenen haben, aus. Sie versuchen eine intensivere Abhängigkeit zwischen sich und dem Kind, beziehungsweise dessen Umfeld, herzustellen und nutzen dabei die Bedürfnisse des Kindes nach Nähe, Zuwendung und Interesse. Über diese Strategie versuchen sie, das Urteil von Kindern über angemessene und ihnen angenehme körperliche Nähe zu vernebeln. Über Spiele und Raufereien beginnt oft eine schleichende Sexualisierung der Beziehung zu dem Kind. Diese Grenzüberschreitungen werden intensiver und über die Isolation des Kindes wird versucht, dessen Widerstand zu brechen. Schuldgefühle („Du hast doch mitgemacht…“) und Geheimnisdruck („Das dürfen wir deiner Mutter/ deinem Vater nicht erzählen, du kriegst sonst Ärger“) sollen verhindern, dass das Kind sich anderen anvertrauen kann. Nach außen wird das Bild einer engagierten und liebevollen Person, die sich für das Kind einsetzt, aufrechterhalten.4

 

Die Realität dessen, was sexuellen Missbrauch darstellt, weicht also massiv von dem ab, was in Medien und von den Protestierenden in Neukirchen propagiert wird. Anstatt die Strukturen im eigenen Umfeld zu hinterfragen, wird auf medienwirksame und bekannte Fälle5 zurückgegriffen. Dabei sind Übergriffe für Frauen und Mädchen alltäglich und werden immer wieder in der Öffentlichkeit nicht ernst genommen bzw. kleingeredet. Ob der Onkel am kalten Büffet zwinkernd zotige Bemerkungen fallen lässt oder der Jugendwart seine Finger nicht bei sich lassen kann, das Anprangern von solchem Verhalten in der Situation gilt als unhöflich, später wird es mit dem Abstrafen der Betroffenen geahndet und/oder massiv verharmlost. „Was ziehst'n du auch immer so kurze Röcke an!“; „Jaja, der ist halt immer so, wenn er einen über'n Durst getrunken hat.“; „Jetzt stell dich mal nicht so an!“

 

Es ist verständlich, dass Menschen sich dagegen sträuben anzuerkennen, dass der beliebte Fußballtrainer eben nicht nur harmlos mit den Kindern kuschelt, dass sexualisierte Gewalt auch der Schützenkönig ist, der der Jugendkönigin liebevoll den Po tätschelt, es ist aber auch jedes mal eine Verhöhnung der Betroffenen solcher Übergriffe und ein weiterer Schutz für diejenigen, die diese Taten begehen.

 

 

Sexismus und sexualisierte Grenzüberschreitungen sind nie harmlos, Spaß oder ein Versehen. Sie sind kalkulierte Handlungen derer, die sich ihrer Machtposition bewusst sind und diese ausnutzen. Sie finden nicht fernab der eigenen Heimat statt, sondern dort, wo wir nicht hinsehen wollen und dort, wo wir Betroffenen ihre Stimme nehmen.

 

Kinderschutz

 

Umso essentieller ist es also, Kinder uneingeschränkt ernst zu nehmen, ihren Sorgen und Nöten Bedeutung beizumessen und ihnen Glauben zu schenken. So können verschlüsselte Hilferufe und Signale ggf. frühzeitig erkannt werden. Die Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung „Was Sie über sexuellen Missbrauch wissen sollten“ gibt hilfreiche Impulse, um eventuelle Verhaltensänderungen wahrzunehmen und achtsam damit umzugehen (s.u.).

 

Unerlässlich ist allerdings, Kinder dazu zu befähigen, sich selbst zu schützen, sich selbst zu behaupten. Sie zu bestärken ihrem Gefühl, was bspw. angenehme Nähe ist und was nicht, zu trauen. Sich anvertrauen zu können und vor allem sich auch sogenannten Autoritäten (dem Fußballtrainer, dem Lehrer, dem Onkel…) zu widersetzen. Die Verantwortung jedoch liegt keinesfalls bei Kindern! Sexueller Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und kann nur durch die Reflexion von eigenen Verhaltensweisen und Vorstellungen verhindert werden. Wer die Grenzen anderer respektiert und solidarisch und hilfsbereit gegenüber Betroffenen von sexualisierter Übergriffen ist, dient als gutes Beispiel für andere Erwachsene und Kinder.

 

Anstatt sich also gegenseitig anzustacheln, Kindern Angst zu machen und untereinander Hass zu schüren, gilt es, ein offenes und solidarisches Miteinander zu prägen, sodass Gewalt und sexualisierte Übergriffe keinen Platz haben.

 

Überwachen und Strafen

 

Dass nun ein großer Teil der Neukirchener Bürger_innen aufsteht, um eigenhändig den geschassten „Kinderschänder“ aus der Stadt zu jagen, liegt nicht nur an der fehlenden Erkenntnis, dass Kinderschutz nun mal anders geht. Das Verhalten der Neukirchener_innen findet in der aktuellen Rechtsprechung viele Vorbilder. So wird auf der einen Seite die Sicherheitsverwahrung massiv ausgebaut, um Menschen, die als zu „gefährlich“, als „krank“, betitelt werden, für immer wegzusperren, gleichzeitig wird so auch ein Präventivstrafrecht eingeführt, dass nicht mehr die Tat, sondern den Verdacht der Tat bestraft. Ob nun Sperrzonen für bestimmte Menschengruppen errichtet werden oder die Polizei als Exekutivorgan, präventiv Stadtverbote ausspricht, maßgeblich für die Repression ist nicht mehr die begangene Tat, sondern die Gefährdung. Dass diese Gefährdung nicht mit der realen Gefahr in Korrelation steht, haben wir weiter oben zu sexuellem Missbrauch bereits beschrieben. Dass Sicherheitspolitik nicht unbedingt die Betroffenen von Verbrechen schützen soll, beziehungsweise diese untereinander hierarchisiert, zeigen auch die Neukirchener Vorgänge. So werden die bedrohlichen und nicht angemeldeten Versammlungen vor dem Haus des „Täters“ lediglich durch Hinweise auf das Versammlungsrecht, wie z.B. auf der Homepage der Stadt, geduldet.

 

Für dieselben Bürger_innen wird dann im Rahmen einer Infoveranstaltung breit das Privatleben und die Persönlichkeit des Zugezogenen ausgebreitet. Dass diese Beschwichtigungen angesichts der Irrationalität der präsentierten Ängste wirkungslos bleiben müssen, leuchtet ein.

Indem Stadt, Büttel und Ärzt_innen munter aus dem Leben des Betroffenen plaudern, bedienen sie diese Ängste und schaffen gleichzeitig die Grundlage für Ihre Kanalisierung in Form von Überwachung, Denunziation und Selbstjustiz. Der nun mit Informationen versorgte Mob fühlt sich in der Annahme bestätigt, der Delinquent habe durch seine Tat basale Bürger_innenrechte verloren, denn warum sonst sollte auf einer Versammlung von Offiziellen so offen über all jenes gesprochen werden, was sonst dem Schutz der Privatsphäre unterliegt. Fröhlich können nun die Entfernungen des Wohnortes des Mannes Zu Kinderspielplätzen und Schulen vermessen werden, können die Ansichten der Gutachten hinterfragt werden und kann, sollte die Lust am Demonstrieren irgendwann einmal verflogen sein, die Einhaltung von Auflagen und Sitte mit Inbrunst überwacht werden, wie es auf dem Land seit je üblich ist.

 

Dass hierbei die „Rechte“ des Mobs gegen die Rechte des Einzelnen ausgespielt werden, interessiert nur wenig. Die gegenseitige Überwachung wird zum Kitt für das Allgemeinwohl und friedensstiftende Beschäftigung des ganzen Dorfes. Dass sich ein ernst gemeinter Antisexismus und Schutz vor sexualisierter Gewalt nicht mit der Faust -oder Heuforke in der Hand- durchsetzen lässt, sondern gerade die Stärkung von Individuum und Persönlichkeitsrechten potentiell Betroffener ein erster Schritt dahin ist, geht im blinden Aktionismus und der unbefleckten Selbstzufriedenheit der Hetzer_innen unter. Nicht umsonst konnte im oben genannten Insel ein aus dem Ort stammender Mann, der ein junges Mädchen aus Insel vergewaltigt hatte, von der Dorfgemeinschaft protegiert, mit seiner Familie zu einem der Hauptstrategen der Proteste aufsteigen.
Der Feind stammt halt schon immer von Außerhalb.

 

Was tun?

 

Den wütenden Menschenaufläufen in Neukirchen mit Appellen an die gemeinsame Menschlichkeit zu begegnen und diese zur Mäßigung, zum legitimen Protest aufzurufen, ist das bisherige Mittel derer vor Ort, die sich ihre Integrität, ihren Intellekt und ihr Mitgefühl bewahrt haben. Angesichts der tragischen Lage finden wir es bewundernswert, dass sie nicht im Zynismus eine Ausflucht gesucht haben, unser Verständnis hätten sie.

 

Für uns steht fest, dass zunächst die menschenfeindlichen Kundgebungen ein Ende haben müssen. Ferner müssen sich die Neukirchener_innen klar von den von ihnen bisher geduldeten Nazis distanzieren.

 

Zuletzt wäre es nötig in dem Ort, zum Beispiel in Form von Veranstaltungen, eine reale Sensibilität gegenüber sexualisierter Gewalt und Missbrauch aufzubauen und einen Prozess der Reflektion über das eigene Handeln einzuleiten. Es wäre erfreulich wenn sich daran ähnlich viele Menschen beteiligen würden, wie an den bisherigen Protesten.

 

Damit in Neukirchen nie wieder der autoritäre Mob regiert.

 

OffenerBrief der Gruppe S.I.L.K.E, Oktober 2013

(Sexismus in ländlichen Kommunen entgegentreten!)

 

Für Anmerkungen, Kritik und gedanklichen Austausch stehen wir unter s.i.l.k.e@gmx.net zur Verfügung


 

1 Sozialdarwinismus behauptet die Ursachen für soziale Konflikte lägen in der Genetik. Aus dieser Ideologie erwächst unter anderem die Euthanasie, also das Ermorden und Sterilisieren als genetisch wertlos gebrandmarkter Menschen. Der Rückgriff auf die Genetik schließt in dieser Argumentation aus, dass ein Mensch sich aus sich selbst heraus verändern kann.

 

2 Den Begriff der 'sexualisierten Gewalt' verwenden wir, weil er deutlich macht, dass diese Form der Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat. Stattdessen wird diese durch Täter_innen instrumentalisiert, um Macht und Gewalt auszuüben. Sexueller Missbrauch gegen Kinder stellt eine Form sexualisierter Gewalt dar.

3 http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/broschuere-shukura-an... Und www.bka.de/DE/.../PolizeilicheKriminalstatistik/pks__node.html

 

4 Ebd.

 

5 deren Betroffene als Vornamen sozusagen zum Chiffre für sexualisierte Gewalt an Kindern per se werden, „Michelle“, „Julia“, „Kevin“.