Fehler bei der NSU-Fahndung Das Wer-ist-Wer des Terrorismus

Erstveröffentlicht: 
03.03.2013

Eine Liste mit Adressen aus der Garage von Beate Zschäpe hätte die Ermittler auf die Spur des NSU führen können - wenn sie im Jahr 1998 beachtet worden wäre.

 

Kurz nach sechs Uhr morgens rücken Thüringer Schutzpolizisten und Kriminalisten am 26. Januar in einer Jenaer Garagenanlage an, um zwei Objekte zu durchsuchen. Es handelt sich um Nummer 5 und Nummer 6 im „Garagenverein an der Kläranlage e.V.“ im Stadtteil Lobeda. Die Beamten hoffen an diesem Wintermorgen im Jahre 1998 Sprengstoff zu finden, sowie Zünder und Kabel, die zum Bau von Rohr- und Kofferbomben verwendet wurden. Solche funktionstüchtigen, aber nicht gezündeten Vorrichtungen halten Jena zu diesem Zeitpunkt seit einigen Monaten in Atem.

In den beiden Garagen gehen drei stadtbekannte Neonazis aus und ein, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Es gibt Indizien, die besagen, das sich hier die Bombenwerkstatt befindet. Das Schloss von Nummer 5 geht nicht auf. Die Feuerwehr muss gerufen werden. Auch die Garage Nummer 6 wird durchsucht. Darin hat Böhnhardt sein Auto geparkt und fährt es bereitwillig heraus. Böhnhardt ist bei der Durchsuchung anfangs anwesend. Aber er weiß auch, was die Beamten finden werden, sobald sie erst das Schloss von Nummer 5 überwunden haben: Vier fertige Rohrbomben, 1,3 Kilo TNT-Sprengstoff, Kabel und allerlei Nazi-Propaganda.

Der junge Neonazi, vorbestraft und vor dem Vollzug einer Gefängnisstrafe, nutzt die allgemeine Warterei, um sich irgendwann zwischen 8.30 und 9.00 Uhr mit seinem Auto aus dem Staub zu machen. Niemand erinnert sich später genau, keiner hält ihn auf, keiner folgt ihm. Es ist das letzte Mal, das einer der drei mutmaßlichen Terroristen vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) gesehen wird. 13 Jahre später, am 4. November 2011, sterben Böhnhardt und sein Komplize Mundlos nach einem Bankraub bei Eisenach in einem Wohnmobil, mutmaßlich durch Selbstmord. Beate Zschäpe, über deren Konto 1998 die Garagenmiete überwiesen wurde, stellt sich ein paar Tage später.

 

Bei der Suche nach den drei mutmaßlichen Rechtsterroristen sind viele Fehler passiert. Einer der folgenschweren unterlief nicht den vielgescholtenen Verfassungsschützern, sondern der Polizei, wie die SPD-Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss, Eva Högl, sagt. Es geht um das Asservat 23.6.1 und den Inhalt eine Plastiktüte mit der Asservatennummer „20 A 3“. Gefunden, angeschaut und ohne weitere Nachforschungen aussortiert wurden sie im Februar 1998 von Mitarbeitern des Landeskriminalamtes Thüringen und Spezialisten des Bundeskriminalamtes (BKA), die eigens nach Thüringen gereist waren, um die Fahndung nach den „Drillingen“ zu unterstützen.

Die Schriftstücke, die von der Ermittlungsgruppe „TEX“ unter ihrem Einsatzleiter Jürgen Dressler im „Garagenverein e.V.“ beschlagnahmt wurden, wären die „Blaupause für die Fahndung“ gewesen. Sie läsen sich wie „eine Art Landkarte der späteren Tat- und Fluchtorte“, glaubt der Unions-Obmann und frühere Polizist Clemens Binninger.

Doch das sah Michael B., Kriminalhauptkommissar beim BKA, seinerzeit anders. Vielleicht war er auch bloß in Eile. Oder er dachte, ein Kollege werde sich darum kümmern. B., damals 43 Jahre alt und seit sechs Jahren im Referat ST 24 mit Rechtsextremismus befasst, war ein erfahrener Ermittler. Im Wechsel mit zwei Wiesbadener Kollegen reiste er Anfang 1998 für zwei Wochen nach Erfurt, um die dortigen Kriminalisten im Landeskriminalamt zu unterstützen. Am 16. Februar, drei Wochen nach der Flucht des Trios, schaut er sich, offenbar als erster Bearbeiter, eine Adressliste an. Er findet sie uninteressant.
„Für das Ermittlungsverfahren ohne Bedeutung“

In einem Vermerk vom 19. Februar 1998 schreibt B., diese Liste sei „nach hiesiger Bewertung für das hier geführte Ermittlungsverfahren ohne Bedeutung“. Aus heutiger Sicht ist das erstaunlich. Denn das Asservat 23.6.1 enthält etwa 35 Adressen und Telefonnummern von Kontaktpersonen der drei Gesuchten. Wenigstens ein Dutzend der darauf Verzeichneten wird später, als die drei aus dem Untergrund heraus morden und rauben, Kontakt zu dem Verbrecher-Trio behalten. Namen wie Wohlleben und Gerlach tauchen auf, die jetzt, gemeinsam mit Beate Zschäpe, vom Generalbundesanwalt angeklagt sind. Es finden sich Leute wie Thomas Starke und André Kapke auf der Liste, Telefonnummern von zehn Bekannten in Chemnitz, der Stadt des ersten Unterschlupfs. Sogar die Adresse ihrer ersten Kontaktmannes dort: Heinrich-Schütz-Str. 18. Es sind Personen darunter, die dem Trio Mordwaffen beschafft, Papiere besorgt, Unterschlupf gewährt haben.

Alle stehen auf den Listen mit den Asservatennummern 23.6.1. und 20 A 3, den Listen, die niemanden interessierte, 13 Jahre lang. Es finden sich darauf auch Verbindungen zu Städten, die später als Tatorte in der Mordserie auftauchen: Rostock und Nürnberg beispielsweise. Aus Nürnberg etwa stammt die Telefonnummer von Matthias F., einer Führungsfigur (“Freies Netz Süd“) der örtlichen Nazi-Szene. Man hätte nachfragen können nach den drei Flüchtigen auch bei Gesinnungsfreunden in Ludwigsburg (vier Telefonnummern). Heute weiß man, dass sie noch Monate später dort ihre Kameraden besucht haben, zu einem Zeitpunkt, als die ersten Überfälle und der erste Mord schon begangen waren. Nichts dergleichen geschah. Die Adressliste, die vermutlich Uwe Mundlos am Computer erstellt und nach handschriftlichen Ergänzungen später überarbeitet hat, wurde zur Seite gelegt.
„Mit Neonazis spielt man nicht“

Größeres Interesse des Repräsentanten der deutschen Kriminalisten-Elite fand hingegen eine braun-rote Grafik-Postkarte, die eine Hitler-Figur mit Hakenkreuz zeigt, welche von einem Kasperle mit einem Stöckchen bedroht wird. Darüber der Schriftzug „Mit Neonazis spielt man nicht“. Der Ermittler verkennt womöglich, dass es sich hierbei um eine gegen Nazis gerichtete Darstellung handelt.

Während jedoch von der Adressliste nicht ein Hinweis bearbeitet wird, um die drei per Haftbefehl Gesuchten zu finden, unternimmt der BKA-Mann allerlei, um den Urheber der Kasperle-Grafik ausfindig zu machen, unter anderem durch Nachforschung nach dem mutmaßlichen Hersteller „Voller Ernst“ in Berlin. „Polizeiliche Erkenntnisse zur Adresse liegen nicht vor“, notiert er im Februar 1998 und nach einem Anruf beim Berliner Landeskriminalamt regt er an, ein Ermittlungsverfahren „wegen Verstoßes gg. §86a StGB einzuleiten“.

Die Ermittler hätten, wenn sie selbst nichts unternahmen, die Adressen und Telefonnummern den Zielfahndern übergeben können, die alsbald mit der Suche nach den mutmaßlichen Bombenlegern Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos befasst werden. Die Gruppe um den heutigen Kriminalhauptkommissar Sven Wunderlich ist eine kleine, erfahrene und erfolgreiche Truppe. Manchmal, so berichtet der Thüringer, hat ihn schon eine unbeschrieben Ansichtskarte aus einem Gerümpelkeller zu einem Gesuchten geführt. Doch im Fall „Trio“ bleiben die Fahnder bis 2001 erfolglos. Dann stellen sie ihre Suche ein. Ihnen fehlen die Anhaltspunkte.
„Ein sehr bedauerlicher Umstand“

Am 31. Januar 2013 berichtete Wunderlich im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, wie er die Garagenliste zum ersten Mal zu Gesicht bekam, nämlich zwei Tage vor seiner Befragung: „Interessant ist allerdings der Umstand - da möchte ich drauf verweisen -, dass ich diese Telefonliste erstmalig am Dienstag bei der Durchsicht unserer Fahndungsakten gesehen habe (...) Also, diese Telefonliste habe ich dort erstmalig festgestellt, auch etwas mit Erschrecken in dem Zusammenhang der Folgetaten und der Orte, die dort verzeichnet sind.“ Das sei, so Wunderlich weiter, „sehr schwer zu erklären. Es ist auch, ja, ein sehr bedauerlicher Umstand. Natürlich geht man davon aus, wenn man der eigenen Dienststelle unterstützend hilft oder für die eigene Dienststelle fahndungsmäßig tätig ist, dass die entsprechenden Objekte, die also schon Beachtung gefunden haben in der polizeilichen Auswertung, dass diese Dinge uns bekannt wären. Ich kann es mir nicht erklären. Ich kann es auch nicht nachvollziehen.“

Stattdessen verschwand die Liste, versehen mit der Nummer 23.6.1, in einer Asservatenkammer. Ihr Schwesterverzeichnis hatte bis zum Januar 2012, also 14 Jahre lang, überhaupt niemand zu Gesicht bekommen. Es handelt sich bei diesem weiteren Fundstück um die überarbeitete Version der Garagenliste 1, die damals aktuellste Fassung also. Mundlos, mutmaßlich, hatte Notizen von Liste 1 in die Computerfassung dieser neuen Aufstellung aufgenommen. Zusätzlich fanden sich, in unterschiedlichen Handschriften, weitere Telefon- und Adressangaben darauf. Liste 2 befand sich, zusammen mit Mundlos’ Reisepass, einer Meldebescheinigung, Mietunterlagen und „losen Blättern ,Nationaler Widerstand’“, in einer Plastiktüte der Supermarktkette Rewe. Nach ihrer Beschlagnahme lag diese Tüte lange Jahre unbeachtet bei der Staatsanwaltschaft Gera im Keller.
Brisante Asservate

Am 30. Januar 2012, zwei Monate nach dem Tod der beiden Haupttäter, rafft sich die Staatsanwaltschaft Gera auf, ihre brisanten Asservaten aus Garage Nummer 5 über das Landeskriminalamt Thüringen dem Bundeskriminalamt zu übergeben. Dort wird schließlich auch Liste 2 entdeckt und als BKA-Asservate 59.52.3 verzeichnet.

In einem Vermerk des Bundeskriminalamtes vom Montag voriger Woche, also wiederum ein Jahr später, wird zum ersten Mal auch der Parlamentarische Untersuchungsausschuss darüber informiert, was die Bundestagsabgeordneten sehr verärgert hat. „Man versucht beinahe täglich, uns an der Nase herumzuführen“, sagt der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland (Grüne). Am Ende des BKA-Vermerks heißt es: „Im Rahmen des aktuellen Ermittlungsverfahrens des GBA sind sämtliche Personen, die sich auf den beiden besagten Listen befinden, in die Ermittlungen des BKA miteinbezogen worden“. Ein schwacher Trost.