[FR] Flugblatt: 9. November Kein Vergeben - Kein Vergessen

freiburg-gedenken-2

Wir dokumentieren hiermit das auf der heutigen Gedenkfeier an die Opfer der Novemberpogrome in Freiburg von uns verteilte Flugblatt. Es besteht morgen um 5 vor 12 noch die Möglichkeit des stillen Gedenkens an die Opfer der deutschen Barbarei.  

 

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fanden in fast allen deutschen und österreichischen Städten Pogrome statt in denen Synagogen, Geschäfte und Wohnhäuser von jüdischen Bürgern und Bürgerinnen oder Menschen, die in der NS-Ideologie zu “Juden” gemacht wurden, niederbrannten. Zahlreiche Jüdinnen und Juden wurden ermordet oder festgenommen und misshandelt. Auch im Raum Freiburg kam es zu jenen organisierten Gewaltausbrüchen, die auch nicht vor Privatwohnungen halt machten. Die Synagogen in Freiburg, Breisach, Eichstetten und Ihringen wurden in Brand gesteckt, die in Müllheim und Sulzburg schwer verwüstet. Angestellte der jüdischen Gemeinde in Freiburg wurden gezwungen den Brand mitanzusehen. Zusätzlich mussten die örtlichen jüdischen Gemeinden für den von den Nazis verursachten Schaden auch noch finanziell aufkommen. In fast allen deutschen Städten beteiligten sich hunderte Bürgerinnen und Bürger an den von der SA begonnenen Zerstörungen und Plünderungen. Dies war nur ein vorläufiger Höhepunkte des Antisemitismus in Deutschland, welcher später in dem Versuch der Auslöschung des gesamten europäischen Judentums gipfelte.

 

Mit der Reichspogromnacht wurde deutlich, dass die Bevölkerung die NS-Politik gegen Menschen, die als jüdisch eingeordnet wurden, mittrug. Da nicht nur der Ausschluss aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, sondern auch offene Gewalttaten gesellschaftlich akzeptiert wurden, konnte die antisemitische und rassistische Politik der Nationalsozialist_innen gegen Juden radikalisiert werden. Schon zuvor gab es zahlreiche rechtliche und gesellschaftspolitische Maßnahmen, die für einen größtmöglichen Ausschluss sorgen sollten. 1933 wurde von der NSDAP zu ersten Boykottaktionen jüdischer Geschäfte aufgerufen. Anschließend wurden jüdische Kinder und Jugendliche aus deutschen Schulen und Universitäten gezielt entfernt, da diese angeblich überfüllt waren. Die meisten Maßnahmen wurden mit einer Bedrohung des deutschen Volkes durch das “Weltjudentum” begründet. So führte “der Jude” in dem von Verschwörungsdenken durchzogenem Weltbild der Nationalsozialist_innen angeblich durch “die Presse”, die in jüdischer Hand verortet wurde, einen Lügenfeldzug gegen das deutsche Volk. Daher wurde Juden und Jüdinnen auch die Arbeit in den Medien verboten. 1935 beschloss die NSDAP die “Reinhaltung deutschen Blutes” in den Nürnberger Rassengesetzen, nach denen “Juden” keinen Geschlechtsverkehr mit “Nicht-Juden” haben durften. Auf das Berufsverbot in der Medienlandschaft folgt der Ausschluss von Juden aus Ämtern, den Rechtsanwalts- und Ärztekammern und vielen anderen Berufsgruppen. Zudem wurden Juden sozial diffamiert wo und wie es nur ging. Es gab “Judenfreie Wälder”, “Judenfreie Seebäder”, Ortseingangs-Schilder, auf denen stand, dass Juden nicht willkommen seien und allgegenwärtige verbale Angriffe. Die Stadt Freiburg nahm hierbei eine unrühmliche Vorreiterrolle in Südbaden ein. So wurden hier schon 1934 die “Mischehe” zwischen “Juden” und “Ariern” verboten, sowie die Teilnahme am Viemarkt und der Besuch der Freiburger Bäder.

 

Auch wenn heute bekannt ist, dass der Pogrom am 9. November von der NS-Führung inszeniert war, bleibt die kräftige Beihilfe oder das schweigende Wegsehen der “ganz normalen” Bürger_innen von zentraler Bedeutung. In fast allen deutschen Städten griffen hunderte Menschen zu Steinen und Fackeln. Ohne sie hätten die Pogrome niemals jene Ausmaße annehmen können. Wohnungen und Geschäfte wurden von den unmittelbaren Nachbarn zerstört und geplündert. Mit den Pogromen setzte die deutsche Volksgemeinschaft, bei der Antisemitismus und Rassismus längst zu konstituierenden Elementen geworden waren, ein Zeichen. Ein Zeichen, dass es keinen Platz für jüdische Mitbürger_innen in dieser Volksgemeinschaft gab.

Aus Sicht der NS-Führung waren die Tage um den 9.November also nicht nur hinsichtlich der konkreten Zerstörung hunderter Synagogen ein Erfolg, sondern auch ein großer Erfolg ihrer antisemitischen Propaganda. Sie konnten resümieren: Das deutsche Volk legt sich gewaltbereit gegen Volksfeinde ins Zeug. Es war erkennbar geworden wie weit der Volksmob in seiner Zerstörungswut gehen würde, wenn es gegen Juden und Jüdinnen geht. Stimmen gegen die Gewalt gab es kaum und wenn, dann meist in Form von Empörung darüber, dass das geplünderte Gut nicht aufgeteilt, sondern zerstört wurde. Die NS-Presse schuf für die Ereignisse den zynischen Begriff “Reichskristallnacht”, um die Pogrome bei denen Menschen ermordet, ungefähr tausend Synagogen und Gemeindehäuser niedergebrannt und mehrere tausend Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden, zu verherrlichen. In den Tagen danach wurden ungefähr 30.000 als Juden definierte Menschen in Konzentrationslager verschleppt. Damit stellt der 9. November den Auftakt zur Shoa dar.

 

Es ist bezeichnend, dass der verharmlosende Begriff “Reichskristallnacht” noch heute eine gängige Bezeichnung für den 9. November ist. Dabei rühmen sich die Deutschen damit Aufarbeitungsweltmeister zu sein. Was das allerdings genau bedeutet ist fraglich. Wenn mit Aufarbeitung gemeint ist, jedes Jahr an drei Tagen die immer gleichen Gedenkreden zu halten, mag Deutschland wirklich Aufarbeitungsweltmeister sein. Auch im Fernsehprogramm laufen wiederkehrend an Tagen wie dem 9. November oder dem 8. Mai Beiträge zum “dunkelsten Kapitel Deutschlands”. Doch das, wie von einem Tonband abgespulte, Faktenwissen und Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus – und noch mehr über den 2. Weltkrieg –, täuscht darüber hinweg, dass all dies am Kern des Problems vorbeigeht: Einer Analyse und Kritik der Ideologie der deutschen Volksgemeinschaft. Ohne eine solche verfehlt die Aufarbeitung ihr eigentliches Ziel – dass sich das Geschehen niemals wiederholt. In abgeschwächter und transformierter Form sorgte das vor allem auf Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Volkgemeinschaft beruhende Weltbild der Nazis auch nach der „Wiedervereinigung“ für hunderte Tote und Pogrome wie z.B. in Rostock-Lichtenhagen nicht nur durch organisierte Nazis, sondern auch durch den Mob der “anständigen Deutschen”.

Doch die deutsche Gedenkpolitik ignoriert nicht nur die Grundlagen der NS-Ideologie, sondern verfolgt gänzlich andere Ziele. Das Bedauern gilt nicht primär den Opfern der Shoa, sondern der deutschen Nation und den Deutschen, die unter der deutschen Geschichte und dem Schicksal nicht unverkrampft stolz auf ihre Nation sein zu können, leiden. So wird auch häufig “allen Opfern von Faschismus und Krieg” gedacht – also gleichermaßen den im KZ Ermordeten und den mordenden Wehrmachtssoldaten. Diese fehlenden Unterscheidung von Täter_innen und Opfern wird beim Gedenken an die “Bombennächte” – wie in Dresden oder Pforzheim – auf die Spitze getrieben. Dort wird der Spieß umgedreht und aus der Bevölkerung, die am 9. November 1938 die Scheiben von “jüdischen Geschäften” einwarf, wird nicht selten ein unschuldiges Opfer “des Krieges”.


Diese Denkweise bietet auch große Anknüpfungspunkte für Neonazis. Ebendiese versuchen immer offensiver nicht nur geschichtsrevisionistische Positionen, sondern klassische NS-Symboliken auf die Straße zu tragen. Ein Skandal stellt beispielsweise die von Neonazis letztes Jahr am 22.10, dem Gedenktag an die Deportation der badischen Juden und Jüdinnen, geplante Demonstration in Emmendingen dar. Die Verhöhnung der Opfer des Nazismus ist schon durch die bloße Anwesenheit der Neonazis vollkommen. Doch setzt es dem Ganzen die Krone auf, wenn Neonazis der NPD am 9. November im ostvorpommerschen Wolgast mit brennenden Fackeln gegen ein dortiges Flüchtlingsheim demonstrieren wollen und jeder und jedem klar ist, dass die Fackeln symbolisch für die brennenden Synagogen, sowie die brennenden Häuser in Rostock-Lichtenhagen, Solingen oder Möln getragen werden.

 

Da der Antisemitismus der deutschen Bevölkerung nicht von der NS-Führung aufgezwungen wurde, sondern die Vernichtung des europäischen Judentums von der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde, verschwand der Antisemitismus auch nicht mit der Kapitulation Deutschlands. Auch heute noch sind Antisemitismus und Rassismus alltäglich präsent. Daher darf das Gedenken an die Opfer der Shoa kein Lippenbekenntnis sein, sondern muss dafür Kämpfen den Schwur von Buchenwald endlich zu erfüllen: Den Faschismus an seinen Wurzeln – also auch seine ideologischen Grundlagen – zu vernichten.

 

 

Gegen Nazis, Volksgemeinschaft und Geschichtsrevisionismus!


Nie wieder Deutschland!

 

 

Grundlage des Textes ist ein Aufruf der Wuppertaler Gruppe Hannas Antifa.

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

trotz allem 2 Kritikpunkte:

viel zu lang als Flugblatt. Ich denke für nächstes Jahr könnte der Text um einiges gekürtzt werden auch ohne inhalte wegfallen zu lassen.

mich stört außerdem die formulierung, dass die deutschen die vernichtungsideologie der nazis mitgetragen haben. zum einen ist die unterscheidung zwischen nürgern und nazis nicht unbedingt dermaßen notwendig, zumal eh fast alle in der partei waren. außerdem finde ich das taktisch auch nicht sinvoll, denn eine solche differenzierung trägt zur unterscheidung zwischen unschuldigen bürgern und den bösen nazis bei.

zum anderen haben die deutschen den vernichtungsscheiss nicht nur mitgetragen, sondern waren teilweise sogar offensiver als die ss selbst. außerdem waren die nazis mit ihrer idelogie nur so erfolgreich, weil sie einfach nur eine radikalisierung dessen, was der*die deutsche*r eh ist und dachte, forderten und umsetzten. und genau dieser punkt hat sich bis heute nicht wirklich geändert

Stimmt, sehr guter Einwand.

Sonst sehr guter Text :-).

Vom 8.-12. November 1938 wurden von den
Nazis ca. 8.000 Geschäfte jüdischer Menschen
in Deutschland geplündert, mindestens 177 Synagogen
in Brand gesteckt oder gesprengt und mindestens
91 Juden und Jüdinnen ermordet - ca. 30.000 Menschen
wurden festgenommen und in KZ gebracht.


In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 drückte sich der Wille eines Großteil der Deutschen aus, sich in den nationalsozialistischen Staat und dessen Ideologie mit all den zerstörerischen Folgen einzuordnen. Die Reichspogromnacht zeigt, wohin der Nationalstaat führen kann, denn jedem Staatsgedanken wohnt immer ein ausschließendes Gruppenverständnis inne. Ein nationales "Wir" wird immer durch Ausgrenzung von "Anderen" definiert. Der Staat legimiert sich gerade dadurch, dass er "seiner" Gruppe bessere Lebensbedingungen innerhalb seiner Grenzen verspricht und teilweise verwirklicht. Wenn Nicht-Staatsangehörige durch Überquerung dieser Grenzen versuchen, an den dortigen Lebensbedingungen teilzuhaben, bekommen sie die ganze Härte dieser nationalen Logik zu spüren.

Die jahrhundertelang verfolgten Jüdinnen und Juden hingegen, die in vielen verschiedenen Staaten leben, sind in der Logik des Antisemitismus stets international. Auch wenn sie oftmals ihre patriotische Gesinnung unter Beweis stellten, scheinen sie durch das angeblich "heimatlose" Judentum das nationale Prinzip des "Staatsvolkes" zu bedrohen. Der jüdischen Bevölkerung Deutschlands wurden ihre Staatsbürgerrechte nach der Machtübergabe an die NSDAP (1933) bzw. durch die Nürnberger "Rassegesetze" (1935) immer mehr entzogen (bis zur fast totalen Vernichtung des europäischen Judentums nach der Wannseekonferenz 1942).

Heute sind "Ausländergesetze" und andere Formen von Sondergesetzen nicht nur formal diskriminierend, weil sie lediglich für einen bestimmten Teil der Menschheit gelten. Sie haben ausserdem einen menschenverachtenden und auch rassistischen Inhalt, denn sie ordnen die Lebensberechtigung der betroffenen Menschen dem Staatsinteresse - dem nationalen "Standortvorteil" - unter. Der Staat bedroht daher MigrantInnen und Flüchtlinge mit dem Entzug der Aufenthaltsgenehmigung, er sperrt sie in Sammellager oder Abschiebeknäste und schickt sie dann in Folter und Tod.

Der globale Kapitalismus benötigt den nationalen Sicherheitsstaat

Insbesondere mit Hilfe von Polizei, Justiz und Arbeitszwang sichern die Herrschenden die ungleiche Verteilung von Gütern und Produktionsmitteln ab. Deshalb sind alle Vorstellungen vom Verschwinden der Nationalstaaten im globalen Kapitalismus Unsinn. Der "schlanke Staat", der zwar Sozialhilfe, Rentenzahlungen, Krankenversorgung usw. zunehmend abbaut, ist gleichzeitig ein "starker Staat", bei dem Polizeiüberwachung und kommerzielle Sicherheitsdienste weiter ausgebaut werden und weltweite Militäreinsätze alltäglich geworden sind. Der nationale Sicherheitsstaat sorgt für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung, also für die Fortsetzung von Ausbeutung, Unterdrückung, Hunger und Krieg.

Dabei unterstützen den Staat sowohl die KapitalistInnen in ihren Arbeitgeberverbänden, als auch die in Gewerkschaften organisierten Lohnabhängigen, die zu jedem "Bündnis für Arbeit" bereit sind. Die Gewerkschaftsfunktionäre, die sich dem Standortnationalismus von Kanzler und Industriebossen anbiedern, und jene ArbeiterInnen, die sich an rassistischer und antisemitischer Hetze beteiligen, formen ein Bündnis von "Mob und Elite", das an jene unheilvolle Allianz erinnert, die den Staatsterror im nationalsozialistischen Deutschland ermöglicht und unterstützt hatte.

Staatlich legitimierte Verfolgung muss
- ebenso wie Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus -
entschieden bekämpft werden!


Anarchosyndikat Köln/Bonn

http://www.anarchosyndikalismus.org