Die Mitglieder des rechtsterroristischen "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) und ihres Umfeldes unterhielten vielfache Kontakte zur bayerischen Neonaziszene. Einige bayerische Rechte gehörten dem Unterstützernetzwerk des NSU an. Und Uwe Mundlos stand zumindest vor seinem Abtauchen in direktem Kontakt zu Kai Dalek, einem mutmaßlichen V-Mann des bayerischen Verfassungsschutzes.
Es begann mit einer Verharmlosung: Im Jahresbericht 2011 des bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfVS) heißt es auf Seite 120:
"Über Mitgliedschaften bayerischer Rechtsextremisten im THS oder unmittelbare Verbindungen zur 'Zwickauer Terrorgruppe' konnten bislang keine konkreten Erkenntnisse gewonnen werden".
Nicht zuletzt diese Falschbehauptung war Anlass für a.i.d.a., in einer Artikelserie den vielen Verbindungen des NSU nach Bayern nachzuspüren, wo das rechtsterroristische Netzwerk in den Jahren 2000 bis 2005 fünf Menschen erschossen hat.
Teil 1: Vor der Mordserie (1994 bis 1998)
Am Abend des 6. August 1994 feiert der bis heute mit der bayerischen Neonaziszene vernetzte Kuno S. (Name bekannt) aus Perasdorf bei Straubing mit 30 "Kameraden". Sie versammeln sich zuerst ab 17.00 Uhr im "Kleinen Café" in Straubing und werden von dort konspirativ zur Donaustaustufe Oberau bei Freising gelotst. Im "kleinen Café" haben Neonazis fünf Tage zuvor einen Polizeieinsatz ausgelöst: "Sieg Heil"-Rufe von Neonazis im ersten Stock sollen zu hören gewesen sein. Die Polizei trifft damals vor Ort auch den heutigen stellvertretenden NPD-Landesvorsitzenden Sascha Roßmüller (Rain) an.
Zu ähnlichen Neonazifeiern kommt es zu dieser Zeit an fast jedem Wochenende im Raum Straubing, an Weihern oder in Gaststätten. Die "Gäste" bei Kuno S.' Feier kommen aus Deggendorf, Straubing, Salching, Perkam und Feldkirchen, es sind aber auch ein Dutzend Neonazis aus Thüringen angereist, einige schon am Vortag, wo in der Straubinger Kneipe "Bierteufel" eine Art "Vorfeier" stattfindet. Unter den Thüringern sind auch die späteren Mitglieder des NSU bzw. des NSU-Unterstützernetzwerks Uwe Mundlos aus Jena und Hendrik "Laschi" L. (Name bekannt) aus Chemnitz.
'Blut muss fließen'
Kuno S. hat die Thüringer "Kamerad_innen" bereits im Mai 1994 in Auerbach zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen und diese nehmen nun die weite Anfahrt bis nach Niederbayern auf sich. Geboten wird ihnen nicht sehr viel: In einer Kiesgrube stehen Biertische und Bänke, es gibt Gegrilltes und vier 50-Liter-Fässer Bier. Aus einem Auto dröhnt Musik und zwar so laut, dass es einer Polizeistreife an der nahegelegenen Donausbrücke auffällt. Der Leiter der Polizeiinspektion höchstselbst, so heißt es später, soll sich dann auf die Lauer gelegt haben, er hört, wie Neonazis das Lied "Blut" der Mannheimer Band "Tonstörung" abspielen und mitgrölen:
"Wetzt die langen Messer auf dem Bürgersteig, lasst die Messer flutschen in den Judenleib (...) In der Synagoge hängt ein schwarzes Schwein, in die Parlamente werft die Handgranaten rein. Blut muss fließen knüppelhageldick und wir scheissen auf die Freiheit dieser Judenrepublik".
Der polizeiliche Einsatzleiter lässt die Straubinger Feuerwehr anfahren und das Gelände ausleuchten. Polizeibeamt_innen nehmen 27 Neonazis fest und verbringen sie zum Teil zur Wache. Der bis heute mit der bayerischen Neonaziszene gut vernetzte Thomas H. (Name bekannt, Straubing) hat die "Blut"-Kassette im Rucksack. Die Polizei beschlagnahmt bei den Verhafteten viele rechte Tonträger, überprüft diese jedoch später nie auf eine strafrechtliche Relevanz hin. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Volksverhetzung verschickt das Kommissariat Staatsschutz bei der PI Straubing in der Folgezeit Vernehmungsbescheide durch die Republik. Zu Uwe Mundlos gibt es eine Rückmeldung der Jenaer Polizei: Der sei polizeibekannt, u. a. wegen "Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" und wolle an dem Abend nicht mitgesungen haben. Hendrik L. teilt mit, den Inhalt des Liedes habe er nicht verstanden und er befasse sich auch nicht "mit rechten politischen Inhalten und deren Musik".
Kontakte und Kommunikation
Gegenseitige Kontakte der thüringer, sächsischen und bayerischen Neonaziszene sind zu dieser Zeit nicht selten. Im Süden Thüringens haben die Kameradschaftsaktivisten sich zumindest punktuell das geschaffen, was in neonazistischen Strategiepapieren "National befreite Zonen" genannt wird, viele bayerische und vor allem fränkische Neonazis fahren in dieser Zeit zu Konzerten, Parties und politischen Veranstaltungen nach Thüringen oder auch nach Sachsen. Die zahlreichen Mitglieder thüringischer Kameradschaften reisen wiederum regelmäßig zu Aufmärschen und Veranstaltungen in den Süden.
Die politischen, aber auch die freundschaftlichen persönlichen Verbindungen der Neonaziszenene aus den benachbarten Bundesländern sind vielfach dokumentiert in den Skinzines, den kopierten Heftchen, die in den Jahren vor der allgemeinen Etablierung des world wide webs die überregionale Kommunikation der Naziszene ermöglichen. In den Jahren ab 1994 sind dies z. B. die bayerischen "Fanzines" "Widerstand", "Spinnzine F.D.J","Lokalpatriot (Bamberg), "Brauner Bär" (Schwabach) und "Der fränkische Beobachter". Oft werden darin Fahrten der Neonazis nach Thüringen beschrieben und regelmäßig die Kamerad_innen gegrüßt. Die thüringischen Neonazis revanchieren sich mit Grüßen nach Bayern in den Thüringer Pendants "Trabireiter"(Erfurt), "Doitsche Musik" (Erfurt), "Wachturm" (Chemnitz), "Roiberpost" (Eisenach) und "Foier-Frei" (Chemnitz). In Bayern kursieren 1994 zudem die "Nachrichten aus dem weissen Widerstand/ALLBUS". Neben Texten wie "Bist du arisch?" und "Ist militärischer Widerstand legitim?" gibt es auch Anleitungen zu terroristischen Aktionen: "Chemie – Selbstzünder-'Mollie' zum Selbermachen".
Kai Dalek und das 'Thule-Netz'
Der Computerfachmann Kai Dalek aus Oberrodach bei Kronach ist damals einer der wichtigsten Kader der neonazistischen "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF), soll zeitweise sogar "Geschäftsführer" der GdNF gewesen sein. Ihr Ziel ist der Wiederaufbau NSDAP-ähnlicher Organisationen. Im oberfränkischen Steinwiesen unterhält Dalek damals ein "Computer-Grafik-Design-Studio", ein wichtiger logistischer Stützpunkt für die GDNF. Hier betreibt er als Sysop (System Operator, heute: Admin) "Undertaker" auch die "Kraftwerk-BBS-Weissenbrunn"-Mailbox des bundesweiten neonazistischen Computernetzwerks "Thule-Netz". Neben Thomas Hetzers "Widerstand BBS" (Erlangen) ist Daleks Mailbox einer der wichtigsten Knotenpunkte des Mailboxverbunds. 1993 wird das "Thule-Netz" bundesweit bekannt, weil Bombenbauanleitungen als Diskette in der Szene die Runde machen. Das "Thule-Netz" wird verdächtigt, diese verbreitet zu haben.
Im Januar 1993 formuliert "Alfred Tetzlaff" (richtiger Name: Thomas Hetzer) die Ziele seiner elektronischen Aktivitäten, die "Undertaker" Kai Dalek ein Jahr später übernimmt:
"Die Mailbox hat ganz bestimmte Aufgaben zu erfüllen: 1. Herstellung und Verfestigung der Kontakte zwischen nationalen Gruppen. 2. Entwicklung einer Datenbank mit Informationen für nationale Aktivisten. Insbesondere soll die Herstellung von national gesinnten Publikationen durch Bereitstellung von Artikeln gefördert werden. 3. Minderung des Verfolgungsdruckes durch das System, indem Kommunikationsmöglichkeiten bereitgestellt werden, die vom System nicht - oder nur mit erheblichem technischen Aufwand - ausgespäht werden können. Es gibt hervorragende Kodierverfahren, deren Dekodierung für Unbefugte praktisch nicht möglich ist."
Sensible Nachrichten werden mit PGP ("Pretty Good Privacy") verschlüsselt. Nur registrierte User, die einen monatlichen "Kostenbeitrag" leisten, haben nach Eingabe eines Passwords Zugriff auf alle Boards mit Veranstaltungsterminen, Buchrezensionen und Propagandatexten, Anleitungen zum Bombenbauen (z.B. "Pyrotechnical Textfiles") sowie auf die Telefonnummern weiterer Knoten.
'Anti-Antifa'
Bei der "Kraftwerk BBS" hat Dalek Zugriff auf alle Nutzer_innen und speist Anti-Antifa-Meldungen über politische Gegner_innen ein. Aus der "Kraftwerk BBS" können sich Neonazis zum Beispiel Fotos von Antifaschist_innen und Journalist_innen abrufen. Dalek hat schon für Michael Kühnen Anti-Antifa Organisationen geführt und soll für ihn die erste zentrale Erfassungsdatei für politische Gegner_innen erarbeitet haben. 1989/90 gehört Dalek neben Christian Worch und Berthold Dinter zum engeren Vorbereitungskreis der Rudolf-Hess-Gedenkmärsche.
1990 leitet er das sog. "ANTIKO" ("Antikommunistisches Aktionsbündnis") zusammen mit dem bekannten fränkischen Aktivisten Günter Kursawe. Im Neonaziblatt "Neue Front" rühmt sich diese Gruppe, mit "professionellen Mitteln" linke Einrichtungen und Gruppen im Vorfeld einer Wunsiedel-Demonstration ausgespäht zu haben, darunter das "KOMM" in Nürnberg und das "Bürgerhaus" in Coburg. Die Neonazistin Silke W. (Name bekannt) vom "Nationalen Block" gab in einer polizeilichen Vernehmung an, dass sie im Auftrag Kai Daleks 1993 in ein antifaschistisches Archiv in Nürnberg eingeschleust werden sollte.
Seit 1990 existiert mit dem "Deutschen Freundeskreis Franken" (DFF) zuerst im Raum Aschaffenburg, dann in Teilen Frankens ein Aktionsbündnis regionaler Neonazi-Gruppen. Bei der DFF-Aktionswoche 1993 spricht Karl Richter (München), heute stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD, über "Gedanken zu Großdeutschland". Später stoßen Kai Dalek und der heute für das "Freie Netz Süd" (FNS) in Bayern aktive Uwe Meenen (damals Würzburg, heute Berlin) sowie Jürgen Schwab (damals Bamberg, heute Autor für das FNS, Nürnberg) zum DFF. Sie gründen die Zeitschrift "Junges Franken" mit Jürgen Sünkel (Kronach) als Schriftleiter und Dalek als "Koordinatorsleiter". Meenen entwirft darin das Konzept einer "nationalistischen Revolution".
Der 'Einblick'
1993/1994 hilft Dalek bei der Herausgabe der Anti-Antifa-Broschüre "Der Einblick". Der "Einblick" ist die bis dahin wichtigste Outing-Aktion einer überregional organisierten Anti-Antifa aus Rhein-Main, Hessen und Bayern. Als Vorbild gilt die Kampagne des rechtsterroristischen Netzwerks "Combat18" (C18) in Großbritannien und den USA. Die Neonazis veröffentlichen 250 Namen politischer Gegner_innen, die "unruhige Zeiten" verleben sollen. An der Erstellung sind neben Dalek u. a. auch Stephan Cumic (Wiesbaden), Ursula Müller (HNG-Vorsitzende), Eberhard Hefendehl (Drucker mit eigener Druckerei in Rodach) sowie der heutige "Freies Netz Süd"-Führungsaktivist Norman Kempken (Rüsselsheim, dann Nürnberg) beteiligt. Dalek kassiert sein erstes Verfahren wegen "Bildung einer kriminellen Vereinigung".
1995 wirbt Kai Dalek in Anzeigen für das neonazistische Computer-Mailbox-Netz "Thule Netz": "Alle Möglichkeiten des Widerstandes konsequent nutzen!" Seine "Kraftwerk-BBS-Weissenbrunn"-Mailbox sei "24 h online". Interessent_innen können sich auch an ein Postfach Daleks in Weissenbrunn wenden. Ob sich wohl auch die späteren NSU-Mitglieder in die "Thule"-Mailboxen des mutmaßlichen bayerischen V-Manns eingewählt haben?
V-Mann 'Otto'
Der 1975 geborene Neonazi Tino Brandt zieht im Jahr 1993 aus Saalfeld nach Regensburg. In einem Kaufhaus beginnt er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. In der Freizeit beteiligt er sich am Aufbau mehrerer neonazistischer Gruppen. In Regensburg versucht er eine Gliederung der neonazistischen Kleinpartei "Nationaler Block" (NB) zu gründen, für den damals u. a. Sascha Roßmüller in Bayern öffentlich agiert. In dem Kaufhaus, in dem Brandt arbeitet, werden zwischen Waschmittelpaketen antifaschistische Flugblätter gefunden. Inhalt: "Hier bedient Sie Tino Brandt – ein faschistischer Krimineller." Zwei Personen werden festgenommen. Tino Brandt erstattet Anzeige. Die Staatsanwaltschaft übernimmt und klagt zwei Antifaschist_innen an. Die Nazigegner_innen werden im Februar 1994 zu Geldstrafen verurteilt. Brandt wird in Regensburg jedoch gekündigt. Er wechselt eigenen Angaben zufolge angeblich in einen Thüringer Sparmarkt.
Doch auch in Landau an der Isar hält sich Brandt zu dieser Zeit zeitweilig auf, hier wirkt zu der Zeit Hans Günther Laimer (Mienbach) für den "Nationalen Block" (NB). Laimer engagiert sich heute für das vermeintlich "ökologische" Rechtsaußen-Projekt "Umwelt und Aktiv", als Referent trat er beim "Runden Tisch Niederbayern" auf.
Tino Brandt zieht schließlich nach Coburg, wohnt im Hahnweg und arbeitet beim extrem rechten "Nation und Europa"-Verlag des rechten Multifunktionärs Peter Dehoust in der Bahnhofstr. 25. Brandt hat aber noch einen anderen Dienstherren: Von 1994 bis zur Enttarnung durch Medienberichte im Mai 2001 arbeitet er als V-Mann für das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz, unter anderem unter den Decknamen "Otto" und "Quelle 2045" bzw. "Quelle 2150". In Coburg baut Brandt zusammen mit Mario K. (Name bekannt) in den Folgejahren analog zum "Thüringer Heimatschutz" (THS) den "Fränkischen Heimatschutz" (FHS) in Coburg auf. Heute noch ist die verhältnismäßig große Kameradschaft auf fast allen bayerischen Neonaziaufmärschen dabei. Im Internet bedroht die Gruppe im Sommer 2012 ein antifaschistisches Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Franken-Akademie Schloss Schney mit der Parole: "Breivik, übernehmen Sie!".
Schießtraining des NSU?
Der Coburger Peter Dehoust, damals Herausgeber des wichtigen extrem rechten Theoriemagazins "Nation Europa", soll zu dieser Zeit einige der späteren Mitglieder des NSU als Fahrer oder Security beschäftigen oder anderweitig unterstützen. Und er kauft, nach seinen Angaben "auf Bitten von Tino Brandt", Mitte Juli 1996 ein 2180 Quadratmeter großes Gelände im nahe der bayerischen Grenze gelegenen thüringischen Kahla. Nach Berichten des MDR treffen sich schon seit Frühsommer des gleichen Jahres auf diesem Gelände regelmäßig Neonazis aus Jena und Saalfeld zu paramilitärischen Übungen. Auf Fotos wollen Zeugen später den langjährigen Leiter der Jenaer Kameradschaft Andre K. (Name bekannt) sowie Uwe Böhnhardt erkennen. Drei Monate später geht Böhnhardt in den Untergrund.
Brandt, Dalek, Brehme
Der V-Mann Tino Brandt ist in diesen Jahren der führende Aktivist der Thüringer Kameradschaftsszene, er baut die "Anti-Antifa Ostthüringen" und den militanten "Thüringer Heimatschutz" (THS) auf. Auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sind hier organisiert. Im 2012 veröffentlichten "Schäfer-Gutachten" für die Thüringer Landesregierung wird Brandt, der sich mindestens bis zum Jahr 2000 mehrmals mit NSU-Mitgliedern trifft, unter Zitierung eines Zeugen folgendermaßen charakterisiert:
"Tino Brandt sei eine Art Leitwolf in der rechten Szene Thüringens. Mittwochs sei er [der Zeuge] immer mit den Sonneberger Kameraden nach Saalfeld zum Mittwochsstammtisch in die Gaststätte 'Zum Weinberg' gefahren. Dort hätten sie sich mit den anderen Kameradschaften, insbesondere mit Tino Brandt und den Saalfeldern getroffen. Dieser Mittwochsstammtisch sei ein lockeres Treffen. Tino Brandt habe Propagandamaterial wie 'Nation Europa', 'Neues Thüringen' und 'Neues Franken' ausgeteilt. Ansonsten werde ziemlich viel Alkohol getrunken. Tino Brandt gehe von Tisch zu Tisch und frage bei den einzelnen Kameradschaften, was los sei. Er gebe auch Anweisungen für geplante Unternehmen und was an den Wochenenden 'abgehen solle'. Dies seien zum Teil rechte Konzerte, Demos, Feste und Störfaktoren beziehungsweise Störaktionen. Die örtlichen Kameradschaften meldeten Tino Brandt, wo es zum Beispiel Probleme mit Asylanten gebe und übermittelten ihm Informationen. Tino Brandt organisiere dann die Störaktionen. So sollte z. B. ein Multi-Kulti-Fest gestört werden. Die Vorbereitungen und Absprachen seien über Handy gelaufen. Vor der Aktion seien die Autos 'bereinigt' worden. Das heißt, die Anführer der einzelnen Kameradschaften hätten kontrolliert, dass aus den Autos Baseballschläger, Stichwaffen, Messer, Schreckschusspistolen und Propagandamaterial entfernt werden. Freitags hätten immer Schulungen 'in der schönen Aussicht' bei Saalfeld stattgefunden. Unter der Leitung Brehmes und Tino Brandts hätten 'Rechtsschulungen' und 'Jungsturmbelehrungen' stattgefunden. Dabei sei es um den Umgang mit der Polizei sowie dem Verhalten bei Festnahmen, Vernehmungen und Demos gegangen"
Der Zeuge fertigte zudem eine Skizze zu Struktur und Führung der rechten Szene in Thüringen an, die nach seiner Auskunft zumindest bis März 1996 aktuell war und die Vernetzung verdeutlichen soll. 1996 kassiert der heute 48-Jährige Kai Dalek derweil das zweite Verfahren seines Lebens wegen "Bildung einer kriminellen Vereinigung" nach §129, dessen Hintergründe noch nicht vollständig enthüllt sind.
Von 1996 bis 2002 (bzw. 2003 oder 2006, die Quellenlage ist hier uneinheitlich) führen das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst, das Thüringer und bayerische Landesamt für Verfassungsschutz die gemeinsame "Operation Rennsteig" durch. Zielobjekte sind die Gruppen "Anti-Antifa Ostthüringen", der "Thüringer Heimatschutz" und "Fränkischer Heimatschutz", in denen "Quellen" platziert werden sollen. Der damalige bayerische LfVS-Präsident Gerhard Forster behauptet am 9. Oktober 2012 im Landtags-Untersuchungsausschuß "Rechtsterrorismus in Bayern - NSU", dass die Beteiligung Bayerns an diesen Treffen angeblich nur der Eindämmung der Aktivitäten Brandts in Bayern dienen sollte.
Brandts Stellverteter bei der "Anti-Antifa Ostthüringen" und beim "Thüringer Heimatschutz" ( THS) ist zu diesem Zeitpunkt Mario Brehme (Rudolstadt). Brehme besucht am 23. März 1996 in Coburg ein "Südafrika"-Treffen. In Coburg ist der Sitz des heute noch aktiven, "Hilfskommittees Südliches Afrika" (HSA), das einst die südafrikanische Apartheidpolitik unterstützte bzw. ihr nun hinterhertrauert. Mario Brehme reist in dem Jahr nicht nur nach Coburg, sondern auch nach Bayreuth, in das Vereinshaus einer Burschenschaft. Im Juli beginnt sein Wehrdienst bei der Bundeswehr im oberbayerischen Traunstein.
Jahre später zieht der THS-Topkader Brehme während seines Jurastudiums bei der völkischen Burschenschaft "Thessalia Prag zu Bayreuth" ein. Der Mitgliedsbund der extrem rechten "Burschenschaftlichen Gemeinschaft" (BG) hatte schon mehrere extrem Rechte in seiner "Aktivitas", u. a. Jürgen Schwab (heute aktiv für das "Freie Netz Süd") und den zeitweiligen NPD-Aktivisten Andreas Wölfel. Wölfel betreibt heute mit Steffen Hammer, ehemals Sänger der Neonaziband "Noie Werte" (mit einem Song von "Noie Werte" ist eines der NSU-Bekennervideos unterlegt), eine Rechtsanwaltskanzlei in Weißenstadt bei Wunsiedel. In den bayerischen Verfassungsschutzberichten der letzten Jahre sucht man die "Thessalen" dennoch vergebens.
Blut und Ehre
Man müsse die "ideologieprägende Wirkung von ,Blood & Honour' genau beleuchten, um den NSU-Terror zu verstehen" sagt der Rechtsextremismus-Experte (und taz-Autor) Andreas Speit als Sachverständiger im Oktober 2012 bei einer Anhörung des Sächsischen Landtags.
Denn bei dem seit den 1980-er Jahren von England aus expandierenden internationalen, neonazistischen und militanten "Blood & Honour" (B&H)-Netzwerk handelt es sich mitnichten "nur" um eine subkulturelle Erscheinungsform der rechten Musikszene, die Rechtsrock erfolgreich als Propagandainstrument einsetzt. B&H propagiert auch terroristische Strategien, z. B. das Konzept des "leaderless resistance" ("führerloser Widerstand"), unter anderem im "Blood & Honour" Magazin der deutschen B&H-Division, Ausgabe 2/1996.
Auch die drei späteren Mitglieder des Kerns des NSU-Netzwerks sind in Jena zu dieser Zeit Teil dieser Szene. In Bayern finden ab dem Jahr 1994 viele "Blood & Honour"-Konzerte statt. Diese Konzerte werden von der Szene zum intensiven Austausch untereinander genutzt. Trotz strafrechtlich relevanter Vorkommnisse werden sie von den Behörden nicht konsequent unterbunden. In Bayern ist das "Blood & Honour"-Netzwerk mit den Sektionen "Franken" und "Bayern" vertreten. Die "Sektion Bayern" hat ihren Sitz im Raum Amberg, wird von Thorsten K. (Name bekannt) geleitet und veröffentlicht ein Fanzine: "United White & Proud". Die "Sektion Franken" ist eine Gruppe um Bernd P. (Name bekannt, Bamberg), Matthias G. (Name bekannt, Schwabach) und die Neonaziband "Hate Society", bei der auch der heutige "Freies Netz Süd"-Kader Matthias Fischer - wenn auch nur bei vereinzelten Anlässen - getrommelt haben soll.
"Blood & Honour" verfügt zu dieser Zeit mit "Combat 18" gewissermaßen über einen "bewaffneten Arm". Anlässlich von Konzerten in Deutschland sollen terroristische Aktionen und koordinierte Aktionen in ganz Europa besprochen werden. In den 1990-er Jahren werden sowohl in diversen "Blood & Honour"-Magazinen als auch von "Combat 18" Anschläge auf Migrant_innen propagiert: "Vor allem müssen wir die Einwanderer selbst angreifen" zitiert das ARD-Magazin "Monitor" im November 2011 aus "Combat 18"-Schriften. In den "Blood and Honour"-Terroranleitungen steht, man solle keine Bekennerschreiben hinterlassen, in kleinen Zellen arbeiten, Nagelbomben einsetzen und Listen von möglichen Opfern erstellen. In den bayerischen Verfassungsschutzberichten von 1996, 1997, 1998 und 1999 werden das internationale "Blood & Honour"-Netzwerk und seine zwei bayerischen Sektionen nicht erwähnt.
Nürnberg, Aschaffenburg, Coburg
Laut Presseberichten reist Mitte der 90er Jahre die frühe Kerntruppe der "Kameradschaft Jena", zu der auch Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zählen, zu einem Kameradschaftsabend nach Nürnberg. Mit dabei sind Zeugenaussagen zufolge auch der wegen Unterstützung der NSU inhaftierte Ralf Wohlleben sowie André K.(Name bekannt). Unter "Polizeischutz" sei die thüringische Neonazi-Truppe noch am selben Abend zurückgefahren, heißt es in einem Artikel des Fachinformationsdienstes "Blick nach rechts".
Am 29. Februar 1996 kontrollieren Polizeibeamt_innen mehrere Autos auf dem Weg zum neonazistischen "Hans-Münstermann-Gedenkmarsch" im unterfränkischen Aschaffenburg. Im Wagen von Ralf Wohlleben fahren auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und André K. mit. Der Rudolstädter THS-Führungskader Mario Brehme sitzt mit dem Bayreuther Neonazi Sandro T. (Name bekannt) in einem Fahrzeug. Beim Aufmarsch nehmen führende Neonazis aus Thüringen, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern teil, darunter Jürgen Schwab (heute FNS), der heutige NPD-Landesgeschäftsführer Axel Michaelis (damals Pommersfelden) und der frühere "Wiking-Jugend"- Aktivist Axel Schunk (damals Stockstadt). Schwab, der spätere NPD-Bundespressesprecher Klaus Beier und der heutige NPD-Bundesvorsitzende Holger Apfel und Andere sprechen zu den Teilnehmenden.
Am 3. August 1996 sind mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des NSU bei einem Neonazi-Konzert in Ebersdorf bei Coburg anwesend. Wie der "Mitteldeutsche Rundfunk" (mdr) im Jahr 2012 veröffentlicht, habe Tino Brandt dieses Konzert und andere Skinhead-Konzerte "quasi für den Verfassungsschutz" mitorganisiert. Der Geheimdienst sei dann bei den Konzerten vor Ort gewesen, das Konzert bei Coburg hätte sogar mit Einverständnis des Verfassungsschutzes länger dauern dürfen.
Der 'Einblick Nr. 2'
Im September 1996 beantragt die Bundesanwaltschaft Durchsuchungsbeschlüsse gegen die damals bekannten nordrhein-westfälischen Neonazis Andree Zimmermann, und Thomas Kubiak sowie gegen Kai Dalek und den Münchner Neonazi Ralf K. (Name bekannt, Macher der "Janus BBS"-Mailbox im "Thule-Netz"). Der "Spiegel" berichtet später, dass die betroffenen Neonazis über ein Postfach in den Niederlanden eine Broschüre mit Privatadressen und Telefonnummern von Politiker_innen, Jurist_innen und Polizist_innen verbreiten wollten – gewissermaßen einen "Einblick Nr. 2". Dalek, so steht es im 2012 von der Thüringer Landesregierung veröffentlichten "Schäfer-Gutachten", soll zu der Zeit neben dem heutigen NPD-Bundesvorstandsmitglied Frank Schwerdt ein führender Aktivist der Thüringer Kameradschaftsszene gewesen sein.
Heilsberg und München
Unter anderem das fränkische "Widerstand"-Fanzine dokumentiert im Jahr 1997 die engen thüringisch-bayerischen Neonazibeziehungen: Die Amberger Band "Südsturm" erzählt im Interview von vielen Konzerten in Heilsberg (Thüringen) und Lichtenfels (Oberfranken). In Heilsberg hat der "Thüringer Heimatschutz" eine Gaststätte angemietet. Ein Bericht schildert die Fahrt bayerischer Neonazis zu einem dortigen Konzert, dessen Einnahmen an den militanten THS gehen. Im Amberger Neonazi-Heft "United, white & proud" kann mensch im Frühjahr 1997 lesen, dass die bayerischen "Kameraden" aus Amberg nach Anaberg Buchholz gefahren sind, dass sie bei anderer Gelegenheit in Chemnitz bei Hendrik L. übernachtet haben und dass bei einem Konzert am 20.Dezember 2006 im Clubheim "MC The Clan" drei bayerische Bands gespielt hätten und dazu "60 Leute aus Bayern angereist" seien.
Am 1. März 1997 marschieren in München über 5000 Neonazis und extrem Rechte gegen die sogenannte "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialforschung auf. Im langen Zug der Neonazis, der kurz vor Erreichen des Marienplatzes von tausenden beherzten Nazigegner_innen gestoppt werden kann, marschieren auch Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt mit. Uwe Mundlos ist mit seiner schwarz-weiß-roten Fahne Teil des "Fahnenblocks". Auch in anderen Städten, in denen Neonazis zu dieser Zeit gegen die Ausstellung aufmarschieren, sind die Neonazis der "Kameradschaft Jena" um Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt, Beate Zschäpe und André K. dabei.
Im "Thule-Netz" schlägt Kai Dalek derweil militante Töne an. Er speist Texte irischer Nationalisten ins Computernetzwerk ein, arbeitet an der "Schaffung einer nationalrevolutionären Kampffront in Europa gegen den Imperialismus" und verharmlost die Attentate des Berliner Neonazis Kay Diesner. O-Ton Dalek:
"Das hätten sich die Schreibtischtäter mit Sicherheit nicht träumen lassen, wie manche Kameraden auf Verbote reagieren können. Daß da Kameraden mal die Sicherung durchbrennt, ist verständlich und von meiner Seite nachvollziehbar (...) Wie sagte Kamerad Christian Worch vor ein paar Jahren sinngemäß: Sie werden uns auf Knien bitten, daß wir die Kameraden wieder zurückpfeifen, damit es nicht weitere Tote geben wird."
Das Untertauchen
Am 26. Januar 1998 durchsuchen Polizeibeamt_innen des LKA Thüringen drei Garagen, zwei hat Beate Zschäpe angemietet, eine Uwe Bönhardt. Während der Spurensicherung fährt Bönhardt, bei dem eigentlich eine Freiheitsstrafe zur Vollstreckung ansteht, mit seinem aus der Garage geholten Auto ungehindert davon. Nicht einmal die genaue Uhrzeit seines Verschwindens wird registriert. In der Zschäpe-Garage stoßen die Polizist_innen auf vier fertiggebastelte Rohrbomben und diverse "pyrotechnische Gegenstände", Briefe von Zschäpe an Mundlos und eine CD. Gespeichert sind Texte der "Nationalen Bewegung Jena" und der "Kameradschaft Jena" sowie eine Textdatei: "ALIDRECKSAU, WIR HASSEN DICH". Arndt Peter Koeppen, von 1993 bis 1999 Leitender Oberstaatsanwalt in Gera, sagt gegenüber dem "Spiegel" über die abgetauchten Neonazis:
"Ich glaube nicht, dass man von einer schlagkräftigen Organisation, die geplant, gezielt, strategisch gewissermaßen solche Dinge ins Werk setzen wird, in Zukunft wird reden müssen".
Uwe Mundlos hat einen offensichtlich für den Fall einer Flucht gepackten Rucksack in der Garage deponiert. Darin befindet sich eine Telefonliste: Diese Telefonnummernsammlung, die ebenfalls Uwe Mundlos zugeordnet wird, liest sich wie ein Who-is-who des Unterstützungsnetzwerks. Unter den relativ wenigen Namen sind jedoch auffallend viele bayerische Neonazis, unter anderem der mutmaßliche bayerische VS-V-Mann Kai Dalek, daneben steht Thomas H. aus Straubing auf der Liste, Kuno S. aus Straubing (der Veranstalter der Kiesgruben-Feier 1994, s. o.) und der heutige "Freies Netz Süd"-Führungskader Matthias Fischer (Fürth).
Quelle:
http://www.aida-archiv.de/index.php?option=com_content&view=article&id=3...