Nur Schrecken in Sicht

Erstveröffentlicht: 
08.07.2012

In Syrien herrscht ein blutiges Patt. Die Rebellen können Assad nicht stürzen, Assad kann den Aufstand nicht abwürgen. Eine politische Lösung ist in weiter Ferne. Nun hat auch der UN-Sonderbeauftragte Kofi Annan sein Scheitern eingestanden.  

 

Rainer Hermann in der FAZ

Nachdem die UN-Beobachter in Syrien vor etwa drei Wochen ihre Patrouillen eingestellt haben, nimmt die Zahl der täglichen Todesopfer dramatisch zu. Mehr als 100 Tote am Tag sind keine Ausnahme mehr. Auf dem Höhepunkt des irakischen Bürgerkriegs waren weniger Menschen getötet worden. Machthaber Baschar al Assad, der den Konflikt lange heruntergespielt hat, gestand am 26. Juni erstmals ein, dass sich Syrien in einem Krieg befindet. Die Aussichten auf ein baldiges Ende dieses Kriegs schwinden von Tag zu Tag. Die diplomatische Initiative der Vereinten Nationen hat der Sondergesandte Kofi Annan jetzt selbst für gescheitert erklärt, eine militärische Lösung ist ebenfalls nicht in Sicht.

Zwar intensivieren das Regime und die Rebellen ihre militärischen Operationen. Zum entscheidenden Schlag setzt aber keine Seite an. Die Führung in Damaskus wäre dazu zwar grundsätzlich in der Lage, denn ihre Möglichkeiten hat sie noch nicht ganz ausgeschöpft. Das Regime schreckt weiter davor zurück, Städte mit Kampfflugzeugen zu bombardieren oder biologische Kampfstoffe einzusetzen. Mit der derzeitigen - maßlosen - Brutalität kann Assad den Aufstand aber nicht abwürgen. Die Rebellen sind andererseits zu schwach und zu zerstritten, um zum Sturm auf Damaskus zu blasen. Sie sind mit ihren geschätzten 40.000 Mann unter Waffen indes stark genug, um die sicheren Rückzugsgebiete für ihren Guerillakrieg ständig auszubauen.

Kein Schneeballeffekt
Auch wenn sein Herrschaftsgebiet immer weiter ausfranst, ist Assads Macht noch nicht entscheidend erodiert. Er kann sich noch immer auf Russland verlassen, das neben seinen strategischen Interessen auch mutmaßlich 15.000 russische Staatsbürger in Syrien zu schützen hat. Moskau blockiert scharfe Sanktionen durch die Staatengemeinschaft, die eine politische Lösung des Konfliktes erzwingen könnten.

Kämpfer der Freien Syrischen Armee: Waffen aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien
Dass Soldaten desertieren, die sich meist in die Türkei in Sicherheit bringen, aber auch nach Jordanien, wird zwar im Wochenrhythmus gemeldet. Aber einen Schneeballeffekt haben die Desertionen noch nicht hervorgerufen. Viele einfache Soldaten und Offiziere werden nicht fahnenflüchtig, weil sie um ihr eigenes Leben und das ihrer Familien fürchten.

Das Massaker, das regimetreue Einheiten im Februar in einer Kaserne der Provinz Idlib angerichtet haben, hat seine abschreckende Wirkung nicht verfehlt. 100 Soldaten wollten desertieren, 80 von ihnen wurden mit Maschinengewehren niedergemäht. Zudem fehlt eine Führungsfigur, die desertiert und viele andere mitzieht. Offenbar warten viele Soldaten auf einen Moment, ungeschoren davonzukommen.

Der Stärkste führt das Kommando
Das Regime soll allerdings nach Schätzungen von Fachleuten drei Viertel der regulären Armee nicht einsetzen, weil es nicht von der Loyalität dieser Einheiten überzeugt ist. Weil das Regime die Risiken eines Einsatzes nicht bedingungslos loyaler Einheiten minimieren will, greift es vor allem auf die regimetreuen Eliteeinheiten und die Milizen der Schabiha zurück.

Verlassen kann sich Assad im Städtekrieg auf die von Alawiten dominierte 4. Division und die Republikanische Garde. Andere Verbände mit überwiegend sunnitischen Soldaten werden zur Unterstützung eingesetzt, um Städte aus der Entfernung mit Artillerie zu beschießen; sie haben so die Folgen ihres Handelns nicht unmittelbar vor Augen. Bisher haben die Truppen des Regimes überwiegend Artillerie, Panzer und zuletzt erstmals Kampfhubschrauber eingesetzt. Noch haben die Kampfhubschrauber aber keine Raketen abgefeuert, sondern nur die Bordkanonen benutzt, und Munition solle weiter reichlich vorhanden sein.

Je schwieriger ein Auftrag ist, desto mehr Schabiha-Milizen kommen im Gefolge der Eliteeinheiten zum Einsatz; sie töten und foltern Zivilisten. Häufig folgen sie auf Kleinlastwagen und Pritschenwagen den Armeeeinheiten. Augenzeugen berichten, dass sie meist weiße Turnschuhe und Uniformhosen tragen. Rekrutiert werden sie überwiegend in Gefängnissen, unter Kriminellen und in armen alawitischen Familien. Eine Hierarchie gibt es offenbar nicht, der Stärkste führt das Kommando. Jeder Milizionär soll täglich zwischen 20 Dollar und 70 Dollar erhalten, zudem Plündern die Männer in ihren Einsätzen.

Waffen von korrupten Militärs
Auf der anderen Seite wird die „Freie Syrische Armee“ effizienter und schlagkräftiger. Als sie im vergangenen Oktober offiziell gegründet wurde, hatte der lose Zusammenschluss bewaffneter Rebellen überwiegend aus Deserteuren bestanden. Heute machen sie bestenfalls noch die Hälfte der Kämpfer aus. Viele junge, oft arbeitslos gewordene Männer greifen seither zur Waffe, um gegen den verhassten Staat aufzubegehren. Milizen entstanden, die zwar unter dem Banner der „Freien Syrischen Armee“ agieren, sich aber regional verselbständigt haben und kaum mit anderen Milizen koordinierte Operationen vornehmen. Offiziell ist Riad Asaad Chef der „Freien Syrischen Armee“. Faktisch hat er aber keine Kommandogewalt über lokal agierende Rebelleneinheiten.

Zwei Faktoren haben die Effizienz der bewaffneten Rebellen erhöht. Zum einen haben sie regional, etwa in Damaskus und Homs, Militärräte zur Koordinierung ihrer Aktionen gebildet. Zum anderen erhalten sie zunehmend wirkungsvollere und panzerbrechende Waffen. So nimmt die Zahl der zerstörten Panzer von Assads Armee auffällig zu, insbesondere in der Provinz Idlib. Aufsehen hatte jüngst erregt, als es den Rebellen gelang, von einem russischen Kampfpanzer T-72 den Turm wegzuschießen. Dazu reichen die herkömmlichen Panzerfäuste aus russischer Produktion nicht aus. Die Rebellen erwerben diese und andere Waffen oft von korrupten Militärs, die noch Kasse machen wollen, solange es geht.

Flucht aus der Geisterstadt
Was sich auf Lastwagen an Waffen transportieren lässt, gelangt nach Syrien. Modernes Gerät wird aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien ins Land geschafft. Qatar liefert selbst Waffen. Die Führung hatte im vergangenen Monat syrische Geschäftsleute eingeladen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau für die Zeit nach Kriegsende zu planen, aber auch um Waffenkäufe der Rebellen zu finanzieren. Zudem unterstützt Saudi-Arabien unverhohlen die Rebellen, trägt damit zur Eskalation der Gewalt bei. Anfang 2003 hatte das Königreich an den Vereinigten Staaten noch geraten, auf eine Invasion des Iraks zu verzichten, weil so die Büchse der Pandora geöffnet werde.

Häufig heißt es in Gesprächen mit Syrern oder in Internetforen, dass spätestens bis zum 20. Juli die „Stunde Null“ begonnen haben soll. An jenem Tag beginnt voraussichtlich der Fastenmonat Ramadan, in dem die Muslime besonders opferbereit sind. An jenem Tag endet auch das Mandat der UN-Beobachter.

Die Opferbereitschaft ist schon heute hoch. Homs soll in weiten Teilen eine Geisterstadt sein, nur noch zum Kampf entschlossene Männer harren in der einst drittgrößten Stadt Syriens aus. Die meisten Frauen und Kinder haben Zuflucht bei Verwandten gefunden, viele davon in Damaskus. Mit den Geschichten, die diese Binnenflüchtlinge mitbringen, ändert sich die Stimmung in den beiden wichtigsten Städten Damaskus und Aleppo. Bisher konnte sich Assad auf die dortige Bevölkerung verlassen.