"Homs ist ein Hinweis auf die Schwäche des Regimes"

Erstveröffentlicht: 
14.03.2012

 Undercover in Syrien

US-Journalist Nir Rosen war für Al Jazeera vier Monate lang undercover in Syrien.
 

Der Aufstand in Syrien könnte noch lange dauern und noch blutiger werden, sagt der Journalist Nir Rosen im Interview mit Gudrun Harrer, auch wenn das Regime die Kontrolle über einzelne Gebiete verlieren wird.

Standard: Ein "Defekt" des Aufstands ist, dass sich nur wenige aus der alawitischen Volksgruppe, zu der die Assads gehören, anschließen. Ändert sich das langsam?

Rosen: Nein, es werden eher weniger. Die Alawiten haben große Angst. Nach einem Umsturz wird es eine neue Ordnung geben, und natürlich werden sie ihre Dominanz verlieren - nicht einmal aus konfessionellen Gründen, sondern weil ein anderes System kommt. Angesichts dessen, wie viele Alawiten beim Staat - es müssen nicht einmal die Sicherheitsdienste sein - beschäftigt sind, wird ihre Sorge um ihr Auskommen in der Zukunft klar.

Standard: Viele haben auch Angst um ihr physisches Überleben, auch aus konfessionellen Gründen.

Rosen: Zu Beginn des Aufstands hat es keinen Grund gegeben, sich aus konfessionellen Gründen zu fürchten, aber das ist nun mehr und mehr der Fall. Ich glaube ja eigentlich nicht, dass, wenn der Umsturz erfolgt, viele und große Massaker stattfinden werden, aber es wird zweifellos Orte geben, wo die Rachegelüste schwer zu kontrollieren sein werden.

Standard: Welche Rolle spielt konfessioneller Hass beim Aufstand?

Rosen: Gegen die Schiiten gibt es große Vorbehalte - aber es gibt ja nur wenige Schiiten in Syrien. Alawiten werden nicht mit Schiiten gleichgesetzt: Alawiten werden einfach als nichtreligiös wahrgenommen. Niemand weiß viel über ihre Religion, und die Ressentiments bestehen eher aus kommunalen und politischen Gründen, während die Abneigung gegen die Schiiten in religiöser Sprache ausgedrückt wird.

Standard: Wie nahmen Sie während Ihrer Zeit in Syrien die Free Syrian Army wahr?

Rosen: Die FSA ist ein Milizennetzwerk: Manche sind professionell organisiert und koordiniert, andere sind eine traditionelle Widerstandsguerilla, wieder andere Kriminelle. Zu Beginn haben die Kriminellen eine große Rolle gespielt - das ist auch ganz natürlich, wenn Sie überlegen, wer die Leute sind, die Zugang zu Waffen haben und diese auch ergreifen und benützen können. Ich weiß mit Sicherheit aus Homs, dass die frühen Milizen von Kriminellen angeführt wurden, was nicht heißen soll, dass sie kriminelle Aktivitäten gesetzt haben: Sie haben ihre Viertel gegen das Regime geschützt.

Standard: Wie sehen Sie die Lage in Homs heute?

Rosen: Nach einem Monat Kampf hat sich ein Viertel in Homs ergeben - meiner Meinung nach ziemlich peinlich für das Regime. Das ist ein Hinweis auf seine Schwäche. Die Opposition hat bereits so viel Territorium kontrolliert, dass das Regime nicht mit seinen Sicherheitskräften auf dem Boden ausgekommen ist und das Viertel wochenlang beschießen musste.

Standard: Das heißt, das Regime kontrolliert nicht ganz Homs?

Rosen: Ich denke, dass die Rebellen fast ganz Homs kontrollieren, oder, genauer: Sie verweigern dem Regime die Kontrolle. Wenn dieses die Kontrolle durch einen Einmarsch erzwingen würde, dann würde es gleichzeitig woanders die Kontrolle wieder verlieren. Wenn ich mit Freunden in Homs spreche, dann sagen sie: Wir kontrollieren fast ganz Homs. Ich glaube, wir werden bald ein Band autonomer Regionen sehen, in Aleppo, Idlib, Hama, Homs, bis herunter nach Damaskus.

Standard: Sie prognostizieren jedoch auch, dass die Rebellen zu streiten beginnen werden.

Rosen: In Homs und Hama gibt es eine organisierte politische Struktur, die Kontrolle über die bewaffneten Gruppen ausüben kann. Anderswo, etwa in Idlib, gibt es das nicht. Wenn die Milizen kein gemeinsames Ziel mehr haben, dann werden Verteilungskonflikte zwischen denen, die die Waffen haben, ausbrechen. Wie in Libyen.

Standard: Wie sehen Sie die mittelfristige Zukunft des Aufstands?

Rosen: Das Regime wird kollabieren, aber es könnte noch lang und blutig werden. Und je länger es dauert, desto stärker werden die radikalen Stimmen und desto schwächer wird die idealistische Seite der Revolution werden.

 

 (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 15.03.2012)


Nir Rosen (34) ist ein in Beirut lebender kritischer US-Journalist, der mit seinen Irak-Reportagen bekannt wurde. Er war insgesamt vier Monate undercover für Al-Jazeera in Syrien. Rosen ist Autor von "Aftermath: Following the Bloodshed of America's Wars in the Muslim World".